Psychophysische Skalierung visueller Merkmalssalienz
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Mesenholl, Björn
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Abstract
Die Messung der Stärke von Empfindungen hat in der Psychologie
eine lange Tradition, die bis in die Zeit der Entstehung der
Psychologie als eine eigenständige Wissenschaft gegen Ende des 19. Jahrhunderts zurückreicht. Gustav Theodor Fechner verband die
Beobachtung Webers der Konstanz des Koeffizienten des eben
merklichen Unterschieds zu der Vergleichsintensität (sog.
"Weber-Quotient") mit der Annahme einer sensorischen Schwelle,
und entwickelte daraus erstmals eine Skala für die Stärke von
Empfindungen. Die Fechner-Skala verwendet die Anzahl sukzessiver
Schwellenschritte als natürliche,
psychologische Einheit. Die
Stärke einer Empfindung für eine gegebene Reizintensität wird
ausgedrückt als die Anzahl von Schwellenschritten, die man gehen
muss, um von keiner Empfindung bis zur in Frage stehenden
Empfindung zu gelangen. Die Funktion, die den Zusammenhang von
Reizintensität und der Anzahl nötiger Schwellenschritte
beschreibt, ist stets logarithmisch und über sukzessive
Schwellenmessungen für Reize aus den verschiedensten
Sinnesmodalitäten bestimmbar. Derart sich ergebende Skalierungen
heißen "indirekt", weil die in Frage stehende Reizintensität
selbst nicht von der Urteilsperson bewertet wird. Intensitäten
sind vom Urteiler nur mit anderen Intensitäten in Bezug auf ein
"stärker" oder "schwächer", also ordinal, zu vergleichen.
Indirekte Skalierungsmethoden eignen sich insbesondere, wenn der
Reizeindruck flüchtig und von der absoluten Stärke her schwer
durch den Urteiler zu quantifizieren ist. Ein typisches Beispiel
hierfür ist die
Auffälligkeit (Salienz) von visuellen Objekten,
die in zufällig wechselnde Hintergründe eingebettet sind und dem
Betrachter nur als ein rasches raumzeitliches Aufblitzen
präsentiert werden. Die Stärke des Unterschieds in Merkmalen wie
Helligkeit, Farbe, Orientierung, Schattierung, Form, Krümmung,
oder Bewegung bestimmt das Ausmaß der Salienz von Objekten.
Obschon eine Fülle von Arbeiten existiert zu der Frage, welche
Merkmale und deren Kombinationen ohne Wissen des Ortes ihrer
Präsentation automatisch starke Salienz ("Pop-Out") erzeugen,
existieren bislang keine systematischen Versuche, die Salienz von
Merkmalen für einen weiten Bereich von Merkmalsunterschieden zu
erfassen und vergleichbar zu machen. Indirekte Skalierungen
liegen vor für die Merkmale Kontrast (Legge und Foley, 1980) und
Orientierung (Motoyoshi und Nishida, 2001). Ein Vergleich der Salienz über mehrere Merkmale und der Nachweis, dass die Salienz eine eigene, von der Merkmalsdimension unabhängige
sensorische Qualität ist, steht aber bislang aus.
In der vorliegenden Arbeit wird gezeigt, dass der Unterschied von
Objekten zur einbettenden Umgebung hinsichtlich visueller Merkmale zu Salienz führt und diese Salienz unabhängig von dem sie erzeugenden Merkmal der Stärke nach skalierbar ist. Es wird ferner gezeigt, dass die Einheiten der für zwei Merkmale erhobenen indirekten Skalierungsfunktionen in einem absoluten Sinne gleich sind, solange sichergestellt ist, dass (i) keine alternativen Hinweisreize existieren und nur der reine Merkmalsunterschied von Objekt und Umgebung bewertet wird und (ii) das sensorische Rauschen in den aktivierten Merkmalskanälen für beide Merkmale gleich ist.
Für diesen Aufweis wurden exemplarisch die Merkmale Orientierung
und Ortsfrequenz ausgewählt und die Salienz ihrer Merkmalskontraste über Naka-Rushton-Funktionen, gewonnen aus den
zugrundeliegenden Salienz-Inkrementschwellenmessungen, indirekt
skaliert. Für das Merkmal Ortsfrequenz liegt hiermit
erstmals eine indirekte Skalierung vor. Hierfür musste eine spezielle
Messtechnik entwickelt werden, die die Bewertung reiner
Ortsfrequenzunterschiede, frei von konfundierenden absoluten
Ausprägungen der Ortsfrequenzen, sicherstellt. Die Methode ist in
Kapitel 7 dargestellt. Experimente, die die konfundierende Wirkung absoluter Merkmalsausprägungen auf die Salienzmessung
demonstrieren, sind in Kapitel 6 dargestellt. In Kapitel 8 findet
sich ein empirischer Abgleich der Ergebnisse von Inkrement- und
Dekrementschwellenmessungen, eine Messtechnik, die zur Erfassung
von Unterschiedsschwellen im Extrembereich der Orientierungsunterschiede von 90° nötig ist. Kapitel 9 enthält den empirischen Aufweis der Transitivität der Gleichheitsrelation für Salienzmessungen von Orientierung und Ortsfrequenz durch Abgleich mit einem dritten Merkmal und erbringt damit den Beleg der merkmalsunabhängigen Erfassung von Auffälligkeit über die
indirekte Skalierungsmethodik. Ferner wird dort die Wirksamkeit
r
der Grundsalienz von Mustern, gegeben über externes Rauschen in
den Merkmalen (sog. "Merkmalsjitter") für die Verschiebung des
Nullpunktes der Skalierungsfunktion aufgezeigt. Im letzten
Experiment (Kapitel 10) wird dann die Skalierung von Orientierung
und Ortsfrequenz bei gleicher Grundsalienz der Muster verglichen
und gezeigt, dass beide Skalen in einem absoluten Sinne gleiche
Einheiten aufweisen (also gleiche Skalenzahlen gleiche sensorische Auffälligkeiten anzeigen, obwohl sie von verschiedenen Merkmalen stammen), wenn der Effekt des sensorischen Rauschens, der im Merkmal Orientierung nicht über die verschiedenen Schwellenschritte konstant ist, kompensiert wird. Die Inkonstanz des Effektes des sensorischen Rauschens im Merkmal Orientierung wird über die Veränderung der Steigung der psychometrischen Präferenzfunktion für die Vergleichsurteile der
Orientierungssalienz für eine fest vorgegebene Ortsfrequenzsalienz greifbar, und der Effekt der Steigungsveränderung kompensiert exakt
die Nichtlinearität in der für beide Merkmale erhobenen Salienz-Matchingfunktion. Im letzten Kapitel wird ein Ausblick auf eine mögliche Modellierung der Salienzfunktionen über klassische Multikanal-Feedforwardmodelle gegeben. In den ersten fünf Kapiteln sind einführend die Gebiete der indirekten Skalierung, der Merkmalssalienz und der Texturtrennung im menschlichen visuellen System dargestellt.