Nutzung und Nutzen des Betrieblichen Eingliederungsmanagements und der Stufenweisen Wiedereingliederung : Erfahrungen (ehemals) abhängig Beschäftigter aus Rheinland-Pfalz, Deutschland mit betrieblichen ‚Return to work‘-Interventionen nach Arbeitsunfähigkeit – Ergebnisse aus der Gutenberg-Gesundheitsstudie
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Hintergrund: Erwerbsarbeit ist ein zentrales Anliegen des Individuums und der Gesellschaft.
Mithilfe des Betriebliches Eingliederungsmanagements (BEM) und der Stufenweisen Wiedereingliederung
(StW) sollen in Deutschland von langer Arbeitsunfähigkeit (AU) betroffene Beschäftigte
unterstützt werden, ihre Arbeitsfähigkeit wiederzuerlangen und an ihren Arbeitsplatz
bzw. in die aktive Erwerbstätigkeit zurückzukehren. Die Tatsache, dass BEM und StW seit 20
bzw. 35 Jahren gesetzlich etabliert sind, und Darstellungen von Unternehmen, BEM sei im
betrieblichen Handeln gelebter Standard, stehen u. a. in Widerspruch zu bisherigen Forschungsbefunden
über die Verbreitung bzw. Nutzung der Verfahren. Das Ziel der vorliegenden
Untersuchung war es, den Kenntnisstand zur Nutzung des BEM und der StW zu aktualisieren
und mit sowohl impliziten als auch expliziten Nutzenbewertungen um neue Erkenntnisse aus
der Beschäftigtenperspektive zu ergänzen.
Methode: Die retrospektive Erhebung der ‚Return to work‘ (RTW)-Erfahrungen (ehemals) abhängig
Beschäftigter erfolgte von 10/2019 bis 07/2020 mit dem ‚Fragebogen zur Rückkehr in
den Beruf‘ im 10-/12,5-Jahres Follow-Up der Gutenberg-Gesundheitsstudie (GHS). Die GHS
ist eine populationsbasierte lokale Kohortenstudie. Die im Raum Mainz/Mainz-Bingen wohnenden
Befragten waren zum Messzeitpunkt (MZP) im Erwerbsalter und hatten aufgrund ihrer
AU-Zeiten in den vorausgegangenen fünf Jahren einen Anspruch auf ein BEM-Angebot. Die
Angaben von 187 BEM-Berechtigten wurden ausgewertet. Fehlende Werte wurden für die regressionsanalytischen
Modelle multipel imputiert.
Es wurden die Nutzungsquoten und weitere Verfahrensmerkmale sowie nutzenbezogene Angaben
deskriptiv berichtet. Einflussfaktoren der Nutzung des BEM/der StW wurden anhand
eines multinomialen logistischen Regressionsmodells erfasst. Mit binomial-logistischen Regressionsmodellen
wurde untersucht, welche Bedeutung eine (nicht) gegebene bzw. in Anspruch
genommene BEM-/StW-Option hat (1) für die spätere Erwerbstätigkeit sowie Arbeitsfähigkeit
und (2) für die retrospektive Bewertung der bei der beruflichen Rückkehr durch
die*den Arbeitgebende*n (AG) erfahrenen Unterstützung.
Ergebnisse: 45 % der nach selbstberichteten Angaben anspruchsberechtigten Beschäftigten
erhielten unmittelbar ein BEM-Angebot von ihrem*ihrer AG, weitere 13 % auf Nachfrage. 66 %
der Beschäftigten mit BEM-Option nahmen diese an. 41 % aller Befragten nahmen an einem
StW-Verfahren teil, 22 % nicht mangels ärztlicher Empfehlung. In 10 % der Fälle mit ärztlicher
Empfehlung widersprach der*die AG der Durchführung der StW. Letztlich hatten 24 % der
Befragten weder eine Option auf ein BEM- noch auf ein StW-Verfahren. Ebenso viele sahen
von der Annahme der Option ab. 68 % derer, die ein BEM-Angebot ablehnten, hatten keinen
Bedarf aufgrund der Art der Erkrankung bzw. Unfallfolge.
Die überwiegende Mehrheit (84 %) der Beschäftigten kehrte unmittelbar aus der AU heraus
zum*zur AG zurück; der entsprechende Anteil liegt in der Gruppe der Beschäftigten ohne
BEM-/StW-Option bei 52 %. Ca. jede*r zweite „Aussteiger*in“ wurde arbeitslos, häufig nach
Kündigung durch die*den AG. Beschäftigte mit Hauptschulabschluss haben im Vergleich zu
jenen mit (Fach-)Abitur eine dreifach höhere Chance, keine Option auf ein BEM-/StW-Verfahren
zu erhalten als an einem RTW-Verfahren teilzunehmen (OR=3,20; 95 %-KI: 1,16; 8,81).
Die Chance, die BEM-/StW-Option abzulehnen statt anzunehmen, nimmt mit höherem Alter
der Befragten ab (OR=0,95; 95 %-KI: 0,91; 0,99). Insgesamt nahmen 82 % der Beschäftigten
mit BEM-Verfahren zeitgleich oder -versetzt auch an einer StW teil. Dementsprechend ist die im Rahmen des BEM am häufigsten ergriffene Maßnahme die befristete Reduktion der Arbeitszeit.
Sie wurde von 69 % der Befragten mit BEM-Verfahren berichtet. Andere Maßnahmen
spielen eine untergeordnete Rolle; u.a. wurden 11 % der BEM-Teilnehmer*innen (TN) arbeitsmedizinisch
beraten, in 10 % der Fälle wurden keine Maßnahmen umgesetzt.
Nutzenbewertung: Beschäftigte ohne BEM-/StW-Option haben im Vergleich zu BEM-/StW-TN
eine geringere Chance, durchschnittlich 1,7 Jahre nach AU bei mindestens moderater Arbeitsfähigkeit
erwerbstätig zu sein (OR=0,35; 95 %-KI: 0,14; 0,88). Keine Unterschiede zeigen sich
zwischen denjenigen, die eine BEM-/StW-Option ablehnten und jenen, die sie annahmen. Befragte
mit Hauptschulabschluss (OR=0,19; 95 %-KI: 0,07; 0,55) bzw. jene mit längerer AUDauer
(OR=0,98; 95 %-KI: 0,96; 1,00) weisen unabhängig von (der Möglichkeit) der Teilnahme
an einem BEM-/StW-Verfahren geringere Chancen auf, im aktuellen MZP bei mindestens moderater
Arbeitsfähigkeit erwerbstätig zu sein. Unabhängig von (der Möglichkeit) der Teilnahme
an einem BEM-/StW-Verfahren haben Beschäftigte mit unfallbedingter AU eine höhere
Chance auf spätere Erwerbstätigkeit bei mindestens moderater Arbeitsfähigkeit (OR=3,28;
95 %-KI: 1,04; 10,33).
61 % der Beschäftigten gaben retrospektiv an, sich durch die*den AG bei der beruflichen Rückkehr
(eher) unterstützt gefühlt zu haben. Das trifft auf jene ohne BEM-/StW-Option seltener zu
als auf BEM-/StW-TN (OR=0,27; 95 %-KI: 0,11; 0,66). Zwischen denjenigen, die eine BEM-
/StW-Option ablehnten und jenen, die sie annahmen, zeigen sich keine Unterschiede. Beschäftigte,
die ihre berufliche Situation vor der AU als stark belastend beschrieben, weisen
eine geringere Chance auf, sich bei der beruflichen Rückkehr von dem*der AG unterstützt zu
fühlen (OR=0,3; 95 %-KI: 0,13; 0,71).
Fazit: Obgleich AG der Durchführung von BEM- bzw. StW-Verfahren i. d. R. nicht aktiv widersprachen,
kommen sie ihrer Pflicht, Beschäftigten mit langen AU-Zeiten ein Angebot zum BEM
zu machen, (weiterhin) unzureichend nach. Jedoch lehnten auch Beschäftigte Angebote zum
BEM ab, überwiegend mangels Unterstützungsbedarfs. Möglicherweise liegen dem auch Kosten-
Nutzenabwägungen oder mangelndes Wissen zum BEM zugrunde. Durch ihr Informations-
bzw. Empfehlungsverhalten und ihre Haltung gegenüber den Rückkehrenden könnten
Ärzte*Ärztinnen und AG hier begünstigend Einfluss nehmen.
Beschäftigte mit Hauptschulabschluss haben eine höhere Chance als Beschäftigte mit
(Fach-)Abitur, keine BEM-/StW-Option zu erhalten als diese anzunehmen. Vergleichsweise
häufig wurde hier von alternativen Handlungsstrategien wie der Kündigung Gebrauch gemacht,
die im Widerspruch zum BEM bzw. zur StW stehen. Gleichfalls früheren Forschungsergebnissen
entsprechend erweist sich der Bildungsstand unabhängig von der Inanspruchnahme
eines BEM-/StW-Verfahrens auch als bedeutsamer Einflussfaktor der späteren Erwerbstätigkeit/
Arbeitsfähigkeit. Die beiden RTW-Interventionen scheinen, zumindest wie sie
aktuell umgesetzt werden, keinen messbaren Beitrag zur Reduzierung gesundheitlicher Ungleichheiten
zu leisten.
Selbst im Falle eines angenommenen BEM-/StW-Verfahrens bewerteten nur ca. zwei Drittel
der Beschäftigten die erfahrene AG-Unterstützung als (eher) ausreichend. BEM- bzw. StW-Verfahren
gilt es so weiterzuentwickeln und umzusetzen, dass sie sich nicht nur deshalb nützlich
zeigen, weil keine Kündigung erfolgt, sondern weil sie tatsächlich dazu beitragen, u. a.
Arbeitsfähigkeit wiederzuerlangen. Interventionen sollten entsprechend ihrer zu erwartenden
Wirksamkeit eingesetzt werden. Weiterer Forschung bedarf es, um insbesondere die Wirksamkeit
des BEM zielgruppenspezifisch zu bewerten.