Die Rezeption der Philosophie Schopenhauers beim jungen Nietzsche : 1865-1869
Date issued
Authors
Editors
Journal Title
Journal ISSN
Volume Title
Publisher
License
Abstract
Die Dissertation behandelt die Rezeption der Philosophie Schopenhauers beim jungen Nietzsche in den Jahren 1865-1869. Der kanonischen Unterteilung des Philosophierens Nietzsches in drei verschiedenen Phasen zufolge hat man die erste Phase (welche 1878 mit Menschliches, Allzumenschliches endet) als „Schopenhauerianer-Wagnerianer“ bestimmt. Die Hauptthese der Dissertation ist, dass bei dem jungen Nietzsche auch eine “vorwagnerianische“ Rezeption der Philosophie Schopenhauers zu erkennen sei, in welcher Nietzsche, unabhängig von Wagner, eine eigene Auslegung der Philosophie Schopenhauers entwickelt hat. Wie seine Briefe und nachgelassene Fragmente 1865-1869 zeigen, hat sich Nietzsche vor der Begegnung mit Wagner allein für die Ethik Schopenhauers interessiert, nicht auch für dessen Metaphysik; besonders schätzte er nämlich den Moralisten der Parerga und Paralipomena.
Aus der Analyse seiner Jugendschriften geht hervor, dass der „Schopenhauerismus“ Nietzsches vom Anfang an „heterodox“ gewesen ist, und dass er die Metaphysik von Die Welt als Wille und Vorstellung eigentlich nie vertreten hat. Schon 1868, und zwar in dem Fragment Zu Schopenhauer, versucht er eine Widerlegung der Metaphysik Schopenhauers (dieselbe Metaphysik, die er vier Jahre später in der „Geburt der Tragödie“, unter dem Einfluss Wagners, doch annehmen wird). Ins Besondere verwirft Nietzsche die Bestimmung des Dinges an sich als Wille: Dieser Punkt des Diskurses Schopenhauers sei theoretisch unbegründet.
Der Auslegung von Friedrich Albert Lange gemäß (dessen Geschichte des Materialismus Nietzsche im Frühling 1866 gründlich gelesen hatte) betrachtet Nietzsche die Metaphysik Schopenhauers als „Begriffsdichtung“, die nur in Hinsicht auf das menschliche Bedürfnis des Menschen einen Wert hat. Nach Lange, welcher die kantische Lehre im Sinne eines radikalen Phänomenalismus interpretiert, erfüllt nämlich die Metaphysik einem moralischen Bedürfnis der Menschheit, genau wie die Religion und die Dichtung. Das impliziert, nach Nietzsche, dass eine Weltanschauung zu wählen, eigentlich eine Antwort auf ein individuelles ethischen Bedürfniß ist, abgesehen von jedem logischen Widerspruch, den man in einem philosophischen System finden kann; und das heißt daher, Nietzsche konnte doch schopenhaurianer bleiben, trotz aller Widersprüche und Schwäche, die die Metaphysik Schopenhauers enthalten kann.
1867 versucht der junge Philologe Nietzsche, Schopenhauers Auffassung der Geschichte in seiner philologischen Tätigkeit anzuwenden, um eine philosophische Dimension der Philologie zu finden. Das wird ganz offensichtlich in der Antrittsvorlesung Homer und die klassische Philologie (1869), wo er im Gegensatz zu Friedrich August Wolf (Prolegomena ad Homerum, 1795) das Ilias und die Odyssee zu einem einzigen Verfasser zurückführt, welcher nach der in den Parerga und Paralipomena dargelegten Genielehre beschrieben wird.
Die Annahme einer “vorwagnerianische” Rezeption der Philosophie Schopenhauers ermöglicht, in der Entwicklung des Denkens Nietzsches viele scheinbare Widersprüche zu lösen, auf die in der Nietzsche-Forschung sehr oft hingewiesen wurde. Ins Besondere sei erwähnt, dass in der zweiten Phase seines Philosophierens Nietzsche eigentlich auf seine erste und pre-wagnerische Rezeption des Philosophie Schopenhauers zurückkommt: Denn er polemisiert wieder gegen die Metaphysik Schopenhauers (und jene metaphysische Weltanschauung), trotz (wie es in Menschliches, Allzumenschliches II deutlich geschrieben wird) der Hochschätzung des „Moralisten-Genie“ und dessen Feinsinnigkeit für die psychologische Beobachtung.