Rechtsmedizin Originalien Rechtsmedizin https://doi.org/10.1007/s00194-023-00664-7 Rechtsmedizin in der Angenommen: 22. September 2023 © The Author(s) 2023 Populärkultur Potenziale für interdisziplinäre Lehre und Forschung Clara-Sophie Schwarz1 · Tanja Germerott1 · Anne Buwen2 · Magdalena Lustig2 · Katja Stolper2 · Teresa Toth2 · Mirko Uhlig2 1 Institut für Rechtsmedizin, Universitätsmedizin Mainz, Mainz, Deutschland 2 Fach Kulturanthropologie/Europäische Ethnologie, Institut für Film-, Theater-, Medien- und Kulturwissenschaft, Mainz, Deutschland Zusammenfassung Hintergrund: Das mediale Interesse an ihrer Arbeit kann sich im beruflichen Alltag von Rechtsmediziner:innen niederschlagen und die zukünftige Entwicklung des Faches beeinflussen. Um adäquat reagieren zu können, bedarf es einer differenzierten Einordnung der medialen Inszenierungen. Methoden: Für eine erste Annäherung wurde eine Kooperation zwischen Rechtsmedizin und Kulturanthropologie initiiert und ein gemeinsames Projektseminar durchgeführt. Die Analyse der ausgewählten populärkulturellen Fallbeispiele (Podcasts, TV-Serien, Sachbücher) basierte auf den hermeneutischen Verfahren der historisch-kritischen Filmanalyse und Medienanalyse. Das Ziel des Projektes bestand darin, spezifische Schlüsselnarrative, die zur rezenten öffentlichen Inszenierung der Rechtsmedizin genutzt werden, herauszuarbeiten. Ergebnisse: Ausgehend vom Konzept des „forensischen Marktes“ als profitables und Aufmerksamkeit generierendes Forum zur Darstellung der Rechtsmedizin, werden Fallbeispiele präsentiert. Sachbücher, an denen Rechtsmediziner beteiligt sind, nehmen eine ambivalente Position ein, da sie einerseits die Spektakularisierung des Sujets befördern und Erwartungshaltungen bedienen, andererseits versuchen, Rechtsmedizin differenziert darzustellen und auch politische Interventionen fordern. Bei den untersuchten TV-Produktionen ist auffällig, wie die Darstellungen durch ein naturalistisches Weltbild geprägt sind, nach dem nur die vermeintlich objektiven Methoden der Forensik befriedigende Antworten bieten. Durch die Heroisierung der Rechtsmedizin als Anwältin der Verstorbenen wird ein dramaturgisches Bedürfnis befriedigt, aber ihre Kompetenz im Ermittlungs- und Strafverfahren überzogen dargestellt. Schlussfolgerungen: Bereits diese erste Sondierung konnte die Vielschichtigkeit und Komplexität des Untersuchungsfeldes zeigen, das eine interdisziplinäre Forschung verlangt. Neben den drängenden ethischen Fragen ergeben sich weitere zur Inszenierung der Rechtsmedizin und ihren Folgen für das Fach selbst, die in der Daten aktuellen Diskussion produktiv aufgegriffen werden können. WeitergabevonDaten ist fürdiesenArtikelnicht relevant, da im Rahmen der aktuellen Studie Schlüsselwörter keineDatensätzeerstelltwurden. Forensischer Markt · Trivialliteratur · Krimis · Massenmedien · True Crime Hinführung Interesse an der Arbeit von Rechtsmedi- ziner:innen zu. Diese wiederum reagieren Egal, ob Kriminalromane, True-Crime-For- darauf und sprechendieÖffentlichkeit u. a. mate, TV-Produktionen oder Hollywood- mit eigenen Podcasts und biografisch ge- Thriller, – fast alle haben sie: die Figur der färbten Sachbüchern an oder treten als Rechtsmedizinerin bzw. des Rechtsmedi- Expert:innen in Talkshows auf [3, 6]. Popu- QR-Codescannen&Beitragonline lesen ziners. Seit Jahren nimmt das öffentliche läre, von Rechtsmedizinern verfasste Sach- Rechtsmedizin 1 Originalien bücher wie Wenn die Toten sprechen [2] Was ist Kulturanthropologie, und was Aufbau des Projektseminars oderDer Totenleser [16] zeichnen das Bild ist ihr Interesse an dem Thema? Die Kul- der Forensiker:innen als moderne und ver- turanthropologie ist eine historisch argu- Die Analyse der skizzierten Diskurslage lässliche Mantiker:innen. mentierende Wissenschaft, die kulturel- stellt für beide Fächer ein Forschungsde- le Phänomene untersucht. Unter Kultur siderat dar. Um in der aktuellen Debat- Rechtsmedizin trifft Kulturanthro- versteht das Fach sozial/medial vermit- te also zu ersten Einschätzungen gelan- pologie – Problemstellung und telte und kollektiv geteilte Deutungsleis- gen zu können, sollte zunächst einmal Erkenntnisinteressen tungen, mit denen sich Menschen in ih- geklärt werden, welche Motive, Selbst- ren jeweiligen Lebenswelten orientieren. und Fremdbilder überhaupt existierenund Zu den Kernaufgaben der universitären In den Blick genommen werden räum- kursieren. Dieser evaluative Schritt wur- RechtsmedizingehörenForschung, akade- lich, zeitlich und sozial bedingte Sinnent- de gemeinsam mit den Master-Studieren- mische Lehre und das Erbringen forensi- würfe, die der Forschung Rückschlüsse auf den der Mainzer Kulturanthropologie im scher Dienstleistungen. Bei der Ausübung gesellschaftliche Transformationsprozesse Wintersemester 2021/2022 gegangen. Als dieser Tätigkeiten und darüber hinaus se- erlauben. Die Kulturanthropologie ist kein Seminarziel wurde vereinbart, populäre hen sich Mitarbeiter:innen rechtsmedizi- normativesProjekt,dasherausarbeitet,wie Formate und Kontexte, in denen Vorstel- nischer Institute nicht selten mit Vorurtei- Menschen leben sollen. Vielmehr wird ein lungen von Rechtsmedizin evoziert und len und klischeehaften Vorstellungen so- hermeneutischer Ansatz verfolgt, um in verhandelt werden, ausfindig zu machen, wohl von Laien als auch von Fachpersonen Erfahrung zu bringen, wie Menschen le- diese zu beschreiben sowie in ihre jeweili- konfrontiert, die vermutlich auf mediale/ ben und leben wollen. Medizinische Be- gen kulturellen Zusammenhänge zu stel- populärkulturelle Darstellungen zurückzu- handlungskonzepte und Gesundheitsvor- len. Und – dies ist bereits bei einer kur- führen sind. Um als Rechtsmediziner:in auf stellungen werden in diesem Zusammen- sorischen Sichtung potenzieller Beispiele die Herausforderungen, die mit der öf- hang ebenso wie Gesetze und gesetzliche augenscheinlich – weil die populärkultu- fentlichen Aufmerksamkeit einhergehen, Institutionen als kulturelle Phänomene in- rellen Inszenierungen der Rechtsmedizin adäquat reagieren zu können, bedarf es terpretiert, die historischem Wandel un- auf bewährte narrative Muster zurückgrei- einer differenzierten Einordnung der ver- terliegen und in denen sich gesellschaftli- fen, lag es nahe, bei der Analyse des Mate- schiedenen Inszenierungen. che Wertvorstellungen widerspiegeln. Für rials auch Ansätze der Erzählforschung zu Eine Reflexion ihrer öffentlichen Selbst- die Kulturanalyse ist die Untersuchung der nutzen. Das heißt, die jeweiligen Inszenie- darstellung sollte in erster Linie von der Fragen, wie Rechtsmedizin und Rechts- rungen sind als Narrationen zu verstehen, Rechtsmedizin selbst geleistet werden, mediziner:innen in unterschiedlichen me- die – je nach Publika – ganz unterschied- besitzt sie doch die größte Expertise, dialen Formaten inszeniert werden, und liche Funktionen erfüllen können [7, 11]. wenn es um die tatsächlichen Zuständig- welche lebensweltliche Effekte diese Dar- Für eine adäquate Einschätzung der Pro- keitsbereiche sowie Möglichkeiten und stellungen haben, demnach von großem jektergebnisse muss berücksichtigt wer- Grenzen der eigenen Methoden geht. Interesse. Welche Sehnsüchte und Bedürf- den, dass es sich um eine hermeneuti- Allerdings ist nicht davon auszugehen, nislagen werden hier adressiert, und was sche Untersuchung handelt, an die kei- dass alle Schieflagen durch reine Intro- sagt das über eine Gesellschaft aus? nenaturwissenschaftlichenMaßstäbe (wie spektion ausgeglichen werden können. Was ist das Interesse der Rechtsmedi- z. B. Reproduzierbarkeit) angelegt werden Schon der rezente deutschsprachige Dis- zin? Die Art und Weise, wie die Rechts- können. Die kulturanthropologische For- kurs, in dem „die“ Rechtsmedizin durch medizin in der Öffentlichkeit wahrgenom- schungverstehtBilderundBewegtbilder in unterschiedliche Akteur:innen modelliert men wird, hat einen Einfluss auf die Ent- Anlehnung an Clifford Geertz und Roland wird, ist komplex. Daher erscheint es wicklung des Faches – schließlich steht Barthes als „symbolisch codierte [. . . ] Aus- sinnvoll, beim Versuch einer ersten Sortie- die Rechtsmedizin im Dienst der Öffent- drucksformen“, auf die es allerdings keine rung andere einschlägige Disziplinen mit- lichkeit. IndemRechtsmediziner:innensich „Perspektive der Allgemeingültigkeit“ [8] einzubeziehen. Vor diesem Hintergrund selbst und ihre Arbeit in den Medien dar- gibt, da Seh- und somit Deutungsgewohn- wurde im Frühjahr 2021 eine Kooperati- stellen oder indem sie dargestellt werden, heiten kulturell bedingt und dynamisch on zwischen der Rechtsmedizin und der wird das Bild der Rechtsmedizin auf eine sind. Somit handelt es sich bei den hier Kulturanthropologie/Europäischen Ethno- spezifische Weise gezeichnet. Zu verste- präsentierten Ergebnissen um vorläufige logie der Universität Mainz initiiert und hen,welches Bildwie gezeichnetwird, von Deutungsangebote. – sozusagen als ein gemeinsames Heran- wem, für wen, wodurch und warum, er- Allen Beteiligten war von vornherein tasten an das Thema sowie als Chance, scheint essenziell, um als Fachvertreter:in klar, dass im Rahmen des Seminars kein die jeweiligen fachspezifischen Sichtwei- mit Blick auf die eigene Rolle und die zu- numerisch repräsentativer Überblick, der sen kennenzulernen, – ein gemeinsames künftigeAusrichtungdesFachesdenÜber- alle Diskursformate und -akteur:innen er- Projektseminar im Master-Studiengang blick zu behalten und handlungsfähig zu schöpfend registriert und würdigt, erar- Kulturanthropologie im Wintersemester bleiben. beitet werden kann. Angestrebt wurden 2021/2022 durchgeführt, über das hier also zahlenmäßig überschaubare, qualita- berichtet werden soll. tive„Tiefenbohrungen“–vondenSeminar- teilnehmer:innen durchgeführt und von 2 Rechtsmedizin denDozierendenbegleitet.DieAnalyseder schung nicht als qualitative Gegensätze eben mit bestimmten chemischen Verbin- ausgewähltenFallbeispieleorientierte sich verstanden werden, sondern als komple- dungen und dann entsprechenden Lam- dabei an den hermeneutischen Verfahren mentär [1, 5].WenngleichPüschel undMit- pen, so wie das auch jeder aus CSI kennt, der historisch-kritischen Filmanalyse bzw. telacher einer verklärten populärkulturel- [die Spuren] sichtbar machen“ [20]. Medienanalyse (methodische Schritte: In- len Imagination entgegenwirken wollen, Die dritte studentische Arbeit be- haltsanalyse, Close Readings, Kontextana- beabsichtigen sie nicht, der Rechtsmedi- schäftigte sich mit Stereotypen, die in lyse) [10]. Im Folgenden seien exempla- zin ihre medienwirksame Faszination zu der US-amerikanischen True-Crime-Rei- risch die Ergebnisse von 4 Fallstudien in nehmen – als Akteur:innen auf dem fo- he Medical Detectives – Geheimnisse der aller Kürze zusammengefasst. rensischen Markt wollen Püschel und Mit- Gerichtsmedizin vermittelt werden. Die telacher ihr Produkt profitabel platzieren. Episoden haben in der deutschen Fas- Darstellung der Ergebnisse Ihr Anspruch ist aber, ein schiefes Bild in sung eine Länge von ca. 45min und der Öffentlichkeit zu korrigieren. behandeln nacheinander zwei Kriminal- Im Hinblick auf das zunehmende popu- Einweiteres Format, das aktuell populär fälle, meistens Tötungsdelikte. Auffällig lärkulturelle Interesse an der Rechtsme- ist und das neben Püschel z. B. auchMarcel ist, wie massiv die Serie ein naturalistisch dizin und deren Vermarktungspotenzia- Verhoff[18]undMichaelTsokos [17]bedie- geprägtes Weltbild transportiert, d. h. len sprechen die Kommunikationswissen- nen, ist das des True-Crime-Podcasts. Hier- suggeriert, dass valide Erkenntnisse allein schaftler:innen Englert und Reichertz von mit beschäftigte sich die zweite studenti- mithilfe exakter naturwissenschaftlicher der „Entwicklung eines ,forensischen Me- scheArbeit.WährendVerhoffsPodcasteine Methoden zu gewinnen sind. So heißt dienmarktes‘“ [4], auf welchem die Nach- bunte Palette an rechtsmedizinischen Su- es etwa in Episode 2 der ersten Staffel, frage nicht nur von Formaten wie dem jets bietet, dominiert in den anderen zwei die 1996 produziert und in Deutschland Tatort bedient wird, sondern Rechtsmedi- genannten Produktionen die Präsentati- 2002 erstausgestrahlt wurde: „Wo nor- ziner:innen zunehmend auch selbst in die on konkreter Kriminalfälle und der Arbeit male Ermittlungsmethoden versagen, da Öffentlichkeit treten. Unabhängig von den amObduktionstisch. Trotz nüchterner Dar- hilft die Wissenschaft“ – wobei mit Wis- zugrunde liegenden Motiven der Rechts- legung rechtsmedizinischer Befunde ent- senschaft hier eben ausschließlich die mediziner:innen erfolgt dabei stets eine faltet sich in Püschels Unterhaltungen mit Naturwissenschaften gemeint sind. Ein Inszenierung ihres Faches. der Journalistin Mittelacher durch die aus- (selbst-)kritisches Nachdenken über die Im Zentrum der ersten studentischen schmückende Erzählweise eine emotiona- Fallibilität rechtsmedizinischer Zugänge Fallstudie standen die medialen Inszenie- le Atmosphäre. In Tsokos’ Podcast sind regt die Serie nicht an. rungen durch Klaus Püschel. Einer nicht- es eher die hörspielartigen Nacherzählun- Dem propagierten naturalistischen akademischen Öffentlichkeit ist der eme- gen, die Spannung erzeugen und das Pu- Weltbild stehen die Emotionalisierung ritierte Professor für Rechtsmedizin durch blikum fesseln sollen.Das gängigeNarrativ und Spektakularisierung der massentaug- seineAuftritte inunterschiedlichenmedia- von der ständigen Konfrontation mit dem lichaufbereitetenKriminalfällegegenüber. lenFormatenbekanntgeworden.SeinePo- Tod,welches sich insbesondere in den ein- Beispielsweise finden Originalfotos von sition ist ambivalent, da er einerseits über- gespielten Interviewsequenzenmit Tsokos Tatorten und/oder Leichen regelmäßig zogeneMediendarstellungenkritisiert, an- potenziert, baut sich lediglich bei Verhoff Eingang in die Produktion. Was ebenfalls dererseits aber das mediale Interesse an etwas ab, indemer auchder Arbeitmit den starke Gefühle bei den Zuschauenden der Rechtsmedizin durch seine Sachbuch- Lebenden eine hohe Relevanz im eigenen hervorrufen kann, vermutlich auch soll, Krimis selbst bedient und dabei auch die Fachgebiet zuschreibt. sind emotional aufgeladene Aussagen Politik in die Pflicht nimmt. So fordert Pü- Hier zeichnet sich einMuster ab, auf das der Angehörigen von Opfern. Durch die schel beispielsweise eine grundsätzliche die empirische Erzählforschung bereits in – sicherlich auch der Dramaturgie ei- Reform des „Systems Leichenschau“ mit anderen thematischen Zusammenhängen ner Fernsehproduktion geschuldeten – deutlich höheren Obduktionsraten [15]. hingewiesen hat: Die narrativen Darstel- Heroisierung der rechtsmedizinischen Zusammenmit der GerichtsreporterinMit- lungen der Rechtsmedizin in den unter- Kompetenz im Ermittlungs- und im Straf- telacher hat Püschel u. a. den Mehrteiler schiedlichen Medienformaten wirken sich verfahren könnte bei den Zuschauer:innen Tote schweigen nicht. Faszinierende Fälle auf die Vorstellungen der Menschen da- das Stereotyp entstehen, die Rechtsmedi- ausderRechtsmedizin verfasst, in dem ei- hingehend aus, dass sie als Denk- und ziner:innen mit ihren kühlen Köpfen und gene Erfahrungen beschrieben sind [12]. Deutungsschablonen fungieren [13]. Bei- exakten Methoden seien diejenigen, die in BeiderDarstellungder Fällependeltder Er- spielhaft lässt sich dies an den Podcasts einer chaotischen Welt die (notwendige) zählstil zwischen Krimi-Erzählung, journa- von Tsokos und Verhoff zeigen, die selbst Ordnung wiederherstellen. listischem Tatsachenbericht und Einschü- mediale Bezüge herstellen, um für die Zu- Die vierte studentische Arbeit hatte die ben, mit denen das rechtsmedizinische hörenden das Erzählte einzuordnen. In ei- im ZDF ausgestrahlte fiktive Kriminalse- Vorgehen verständlich erklärt und der Ar- ner Erzählsequenz erwähnt Tsokos etwa rie Die Spezialisten – Im Namen der Op- beitsalltag geschildert wird. Die Bücher die Blutspurenanalyse und nutzt als Refe- fer (2016–2019) zum Gegenstand. Zu die- wollen sowohl unterhalten als auch in- renzpunkt eine populäre Fernsehproduk- sen Spezialist:innen gehört die fiktive Fi- formieren, wobei diese zwei Funktionen tion, um die komplexe Materie für Laien gur Dr. Katrin Stoll, die als forensische An- in der Medien- und Kommunikationsfor- anschaulich zu machen: „Man kann aber thropologin ungeklärte Kriminalfälle löst – Rechtsmedizin 3 Originalien u. a. mithilfe von Untersuchungen an Lei- gar produzierten?) Wunsch nach Wahrheit Frage von Schaden und Nutzen medialer chen und Knochen. Entscheidend ist, dass und Aufklärung reagieren, der im Kontext Inszenierungen nicht pauschal beant- die Aufklärung der Fälle nicht zwingend von Todesfällen stark gewachsen ist. worten lässt. Letztes kann auch als Fazit der Überführung und Bestrafung mögli- aus der zweiten Fallstudie gelten, deren cher Täter:innen, sondern einerWertschät- Schlussfolgerungen und Ausblick wesentliches Ergebnis ist, dass True-Cri- zungder Opfer undHinterbliebenendient. me-Formate nicht nur ein spezifisches Denn, wenn Menschen selbst nicht mehr Die Rechtsmedizin steht im Dienste der Bild der Rechtsmedizin zeichnen, son- darüber sprechen können, was ihnen pas- Öffentlichkeit; sie ist nicht unabhängig dern auch konkrete Vorstellungen ihrer siert ist, sei die Wissenschaft, insbeson- von gesellschaftlichen Entwicklungen. Arbeitsweisen und Methoden nicht nur dere die Rechtsmedizin, so das Narrativ Gerade deswegen ist die Selbstreflexion bei medizinischen und juristischen Lai- der Serie, das einzig probate Mittel, ihnen – fachhistorisch und im Hinblick auf aktu- en installieren. Mit diesen Vorstellungen Gehör zu verschaffen. Dabei kommen im elle gesellschaftliche und wirtschaftliche müssen Rechtsmediziner:innen z. B. in Seriensetting unterschiedliche forensische Veränderungen – von großer Bedeutung. ihrer Rolle als Sachverständige umgehen. Methoden zum Einsatz, mit denen sich Während der jüngst publizierte Beitrag In der dritten Fallstudie konnte heraus- selbst Taten, die weit in der Vergangen- von Ritz-Timme et al. [14] rechtliche gearbeitet werden, dass in bestimmten heit liegen, aufklären lassen. Rechtsmedi- und ethische Fragen bei der Präsenta- Formaten Rechtsmedizin vor dem Hinter- ziner:innen scheinen in diesem Sinne als tion rechtsmedizinischer Inhalte in den grund eines naturalistischen Weltbildes die eingangs erwähnten Mantiker:innen (Massen-)Medien adressiert, stehen in den inszeniert wird. Tatsächlich beschäftigt zu fungieren, die tote Körper nutzen, um hier vorgestellten Arbeiten keine Fragen sich die Rechtsmedizin jedoch häufig mit eine Wahrheit ans Licht zu bringen. des Dürfens und Sollens im Mittelpunkt. Deutungsfragen, und auch „harte“ na- Die TV-Produktion Die Spezialisten Vielmehr geht es darum, mediale Darstel- turwissenschaftliche Fakten, wenn es sie macht auf eine Verschiebung im ge- lungen von Rechtsmedizin zu beschreiben gibt, können im Kontext von Strafverfah- sellschaftlichen Umgang mit dem Tod und ineinenübergeordnetengesellschaft- ren nicht zwingend für sich sprechen. Es aufmerksam: Während sich das speziali- lichen Zusammenhang zu bringen und besteht also einerseits die Möglichkeit, sierte Erfahrungswissen im Umgang mit diesbezüglich interdisziplinär anschlussfä- dass ein unzutreffendes Bild von Grenzen Sterbenden, Toten und dem Tod im Zu- hige Interpretationsansätze zu generieren. und Möglichkeiten rechtsmedizinischer ge einer Medikalisierung zunehmend in In dem Beitrag von Ritz-Timme et al. wird Methoden transportiert wird und falsche funktionalisierte Bereiche verlagert hat, deutlich, dass Gesetzestexte nicht ausrei- Erwartungen an die Rechtsmedizin ent- entwickelten sich Sterben und Tod ab chen, um bestimmte Fragen praktischen stehen, andererseits schränkt sich die Mitte des 20. Jh. zu einem wichtigen Handelns in der (Rechts-)Medizin zu be- Rechtsmedizin in wissenschaftlicher Hin- Gegenstand künstlerischer und medialer antworten, sondern dass auch ethische sicht ein. Interdisziplinäre Forschung z. B. Formate. Die vermehrte Popularisierung Fragen zu beantworten sind. Auch die mit den Rechtswissenschaften wäre nicht von Wissen über den Tod wird in der Fragen nach beabsichtigten und unbeab- mehr denkbar, wenn die Möglichkeit kultur- und sozialwissenschaftlichen For- sichtigten Folgen medialer Darstellungen eines Erkenntnisgewinnes durch ande- schung als eine „neue Sichtbarkeit des und danach, wie Rechtsmediziner:innen re als naturwissenschaftliche Methoden Todes“ diskutiert [9]. Tod und Sterben sind ihr Fach inszenieren (wollen) oder nicht, negiert würde. In der vierten studenti- inzwischen feste Bestandteile von Serien- verlangen zunächst einmal nach qualita- schen Arbeit wurde im Kontrast zu dem formaten, und tote Körper stehen häufig tiven Forschungsmethoden. gerade beschriebenen naturalistischen im Fokus der Handlungen [19]. Neben Die erste hier vorgestellte Fallstudie Weltbild die Inszenierung von Rechts- der Fokussierung auf tote Körper zeichnet lässt erkennen, dass Aufmerksamkeit als mediziner:innen als Medien, die in toten sich die neue Sichtbarkeit des Todes auch mediales Kapital auch genutzt werden Körpern lesen und Opfern von Verbre- durch eine zunehmende Darstellung von kann, um z.B. politische Forderungen in chen zu Gerechtigkeit verhelfen, in den Tätigkeiten aus dem Bereich der Forensik der Öffentlichkeit zu platzieren. Die me- Blick genommen. Von der tatsächlichen und des Bestattungswesens aus, wobei dienwirksame Faszination soll dem Fach Rolle medizinischer Sachverständiger im gleichzeitig eine Verwissenschaftlichung nicht genommen, sondern in verschie- deutschen (Straf-)Recht ist diese Zuschrei- des Todes stattfindet. Professionelle Ex- dener Hinsicht genutzt werden, während bung weit entfernt, allerdings stellt sich pert:innen bzw. „Spezialisten“ bringen gleichzeitig Kritik an überzogenen Dar- erneut die Frage nach Wechselwirkungen den Tod mittels (natur-)wissenschaftlicher stellungen geübt wird. „Der Übergang zwischen medialen Inszenierungen und Verfahren unter Kontrolle. Die Protago- zwischen Information und Sensation ist Sachverständigentätigkeit. nistin Stoll wird in diesem Kontext als jedoch fließend und läuft Gefahr, sehr Zur Frage, welche konkreten sub- Heldin gezeichnet, durch deren Handlun- schnell in einer sich permanent steigern- jektiven Alltagshandlungen durch die gen der Tod gesellschaftlich beherrschbar den Eskalation in Richtung der Aufmerk- medialen Sinnangebote angestoßen wer- erscheint. Ihr gelingt es, Gerechtigkeit samkeitsattraktion zu münden“ [14], wie den, können auf Grundlage der Semi- herzustellen und den Angehörigen von Ritz-Timme et al. bemerken, sodass die- narergebnisse noch keine substanziellen Opfern Trost zu spenden.Die Seriemagda- se Haltung durchaus als ambivalent zu Aussagen getroffen werden. Die Ausein- mit auf einen medial transportierten (oder beschreiben ist und zeigt, dass sich die andersetzung mit dieser Frage ist für die 4 Rechtsmedizin Abstract Kulturanalyse von hoher Relevanz. Aller- Forensic medicine in popular culture. Potentials for interdisciplinary dings musste das Seminar (vom Oktober teaching and research 2021 bis Februar 2022) in der pandemie- bedingten Lockdownsituation unter den Background: The media’s interest in their work can be reflected in the everyday damals politisch verordneten Einschrän- professional life of forensic physicians and influence the future development of the kungen durchgeführt werden, und so war field. In order to be able to react as a forensic physician, a differentiated classification of es den Studierenden noch nicht möglich, the media productions is required. ethnografisch zu forschen (d. h. biografi- Methods: For the purpose of a first approach, a cooperation between the Department sche Interviews mit Rezipient:innen und of Forensic Medicine and the Department of Cultural Anthropology at the University of teilnehmende Beobachtungen durchzu- Mainz was initiated and a joint project seminar was conducted in the master’s degree führen). Solch ein ethnografischer Ansatz, course in cultural anthropology. The analysis of the selected examples (podcasts, TV series, nonfiction) was based on the hermeneutic procedures of historical-critical der die Perspektiven der Rezipient:innen film analysis and media analysis. The aim of the project was to identify specific key in den Fokus rückt, sollte bei einer nach- narratives that are used for the public staging of forensic medicine. folgenden Untersuchung berücksichtigt Results: Based on the concept of the “forensic market” as a profitable and attention- werden. Aber schon eine erste Auswer- generating forum for the (self-)presentation of forensic medicine, case studies are tung populärer Literaturen und Medien presented. Non-fiction books in which forensic physicians are involved as co-authors hat gezeigt, wie dynamisch und auch occupy an ambivalent position, as on the one hand they promote the spectacularizing ambivalent das Untersuchungsfeld ist – of the subject and serve the expectations of the market, while on the other hand they und wie differenziert und interdisziplinär attempt to present the competencies of forensic medicine in a differentiated manner daher die Debatte über das (Selbst-)Bild and also call for political intervention. In the TV productions studied, it is striking how der Rechtsmedizin in der Öffentlichkeit strongly the portrayals of forensic medicine and forensic doctors are characterized geführt werden muss. by a naturalistic view of the world, according to which only the supposedly objective methods of forensics offer satisfactory answers. By heroizing forensic medicine as the Fazit für die Praxis advocate of the deceased, a dramaturgical need is satisfied but the competence of forensic medicine in investigative and criminal proceedings is overstated. Die Inszenierung der Rechtsmedizin in den Conclusion: The initial exploratory work presented here was already able to Massenmedien wirft fachübergreifende Fra- gen auf, die nicht nur ethisch-moralischer demonstrate themultilayered nature and complexity of the field of investigation, which Natur sind. Anhand der hier vorgestellten calls for interdisciplinary research. In addition to the pressing ethical issues, further Fallstudien lassen sich folgende Fragen ab- questions arise about the presentation of forensic medicine and its consequences leiten, die in einer fachinternen Auseinander- for the scientific specialty itself, which can be productively addressed in the current setzung mit medialen Inszenierungen auf- discussion. gegriffen werden können: Wo nützt es und wo schadet es der Rechtsmedizin, vorder- Keywords gründig als unterhaltsam wahrgenommen Forensic market · Trivial literature · Crime fiction · Mainstreammedia · True crime zu werden? Welche Erwartungen werden bei rechtsmedizinischen Laien durch medial vermitteltes „Halbwissen“ über rechtsmedi- zinische Methoden geschürt, und wie geht man seitens der Rechtsmedizin mit diesen Einhaltung ethischer Richtlinien die oben aufgeführtenWeiterverwendungendesMa- Erwartungen um, wenn man sie enttäuschen terials die Einwilligungdes jeweiligen Rechteinhabers muss? Welche Folgen kann es haben, wenn Interessenkonflikt. C.-S. Schwarz, T. Germerott, einzuholen. suggeriert wird, dass die Rechtsmedizin mit A. Buwen,M. Lustig, K. Stolper, T. Toth undM.Uhlig quasimathematischer Exaktheit Ergebnisse geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht. WeitereDetails zur Lizenz entnehmenSie bitte der Lizenzinformation auf http://creativecommons.org/ liefert, die scheinbar keiner weiteren Deu- Die Studie beinhaltet keineUntersuchungen anMen- licenses/by/4.0/deed.de. tung bedürfen? Und welches Bild wird von schenoder Tieren. der Rechtsmedizin durch die Fokussierung auf die Opferperspektive gezeichnet? Open Access.Dieser Artikelwird unter der Creative Literatur CommonsNamensnennung4.0 International Lizenz veröffentlicht, welche dieNutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, VerbreitungundWiedergabe in jegli- 1. Burger H, Luginbühl M (2014) Mediensprache. Korrespondenzadresse chemMediumundFormat erlaubt, sofern Sie den/die Eine Einführung in Sprache und Kommunikati- ursprünglichenAutor(en)unddieQuelle ordnungsge- onsformenderMassenmedien. DeGruyter, Berlin, Clara-Sophie Schwarz mäßnennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz Boston Institut für Rechtsmedizin, Universitätsmedizin beifügenundangeben, obÄnderungen vorgenom- 2. Buschmann C (2021) Wenn die Toten sprechen. Mainz menwurden. Ullstein,Berlin Am Pulverturm 3, 55131Mainz, Deutschland 3. EnglertCJ(2014)DerCSI-Effekt inDeutschland.Die MachtdesCrime-TV.SpringerVS,Wiesbaden c.schwarz@uni-mainz.de Die in diesemArtikel enthaltenenBilder und sonstiges 4. Englert CJ, Reichertz J (2016) CSI & Co als me- Drittmaterial unterliegen ebenfalls der genannten diatisierte Form der Governance? In: Englert CJ, Creative Commons Lizenz, sofern sich aus der Abbil- Reichertz J (Hrsg) CSI – Rechtsmedizin – Mitter- dungslegendenichts anderes ergibt. Sofern das be- nachtsforensik. Springer VS, Wiesbaden, S S 1–S Funding. Open Access funding enabled and organi- treffendeMaterial nicht unter der genanntenCreative 21 Commons Lizenz steht unddie betreffendeHandlung zed by Projekt DEAL. nicht nachgesetzlichenVorschriften erlaubt ist, ist für Rechtsmedizin 5 Originalien 5. Frizzoni B (2015) ImSherlock-Modus. ZurReaktua- Hinweis des Verlags. Der Verlag bleibt in Hinblick lisierungdermythischenDetektivfigur in der BBC- auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeich- Serie. In: ZimmermannHP (Hrsg) Lust amMythos. nungen in veröffentlichten Karten und Instituts- Kulturwissenschaftliche Neuzugänge zu einem adressen neutral. populären Phänomen. Jonas, Marburg, S S 223–S 229 6. Grenz T, Möll G, Reichertz J (2014) Zur Strukturie- rung von Mediatisierungsprozessen. In: Krotz F, DespotovićC, KruseMM(Hrsg)DieMediatisierung sozialer Welten. Medien Kultur Kommunikation. SpringerVS,Wiesbaden,SS73–S91 7. Lehmann A (2007) Reden über Erfahrung. Kulturwissenschaftliche Bewusstseinsanalyse des Erzählens.Reimer,Berlin 8. LeimgruberW, Andris S, Bischoff C (2013) Visuelle Anthropologie: Bilder machen, analysieren, deuten und präsentieren. In: Hess S, Moser J, Schwertl M (Hrsg) Europäisch-ethnologisches Forschen. NeueMethoden und Konzepte. Reimer, Berlin, SS247–S281 9. Macho T, Marek K (2007) Die neue Sichtbarkeit des Todes. In: Macho T, Marek K (Hrsg) Die neue Sichtbarkeit des Todes. Wilhelm Fink,München, S S9–S23 10. Merkel I (2014) Historisch-kritische Filmanalyse. In: Bischoff C, Oehme-Jüngling K, Leimgruber W (Hrsg)Methodender Kulturanthropologie. Haupt, Bern, SS257–S272 11. Meyer S (2020) Narrativität. In: Heimerdinger T, Tauschek M (Hrsg) Kulturtheoretisch argumen- tieren. Ein Arbeitsbuch. Waxmann, New York, S S323–S350 12. Püschel K, Mittelacher B (2019) Tote schweigen nicht. Faszinierende Fälle aus der Rechtsmedizin. Ellert&Richter,Hamburg 13. Reichertz J (2016) CSI und das Feld der deutschen Rechtsmedizin. In: EnglertCJ,Reichertz J (Hrsg)CSI – Rechtsmedizin –Mitternachtsforensik. Springer VS,Wiesbaden,SS23–S29 14. Ritz-Timme S, Paganini C, Duttge G, Hansson N, Turnsek A, Fangerau H (2023) Rechtsmedizin im „forensischen Medienmarkt“. Rechtsmedizin (im Druck) https://doi.org/10.1007/s00194-023- 00645-w 15. SWR1Leute (2021)RechtsmedizinerProf. Dr. Klaus Püschel. Einsatz für die Opfer und das Leben. https://www.ardmediathek.de/video/swr1- leute/klaus-pueschel-oder-rechtsmediziner- oder-obduzierte-viele-corona-tote-und- kritisierte-frueh-das-robert-koch-institut/ swr/Y3JpZDovL3N3ci5kZS9hZXgvbzEyNzk2ODA. Zugegriffen:13. Juni2023 16. TsokosM(2020)DerTotenleser:UnglaublicheFälle ausderRechtsmedizin.Ullstein,Berlin 17. TsokosM,GoerzA (2021)DieZeichendesTodes. ht tps://podcasts.apple.com/de/podcast/die-zeiche n-des-todes-der-true-crime-podcast-mit-micha el/id1452488865.Zugegriffen:13. Juni2023 18. Verhoff M, Nischik V (2022) Rechtsmedizin – Dichtung und Wahrheit. https://podcasts.apple. com/de/podcast/rechtsmedizin-dichtung-und- wahrheit/id1511908080. Zugegriffen: 13. Juni 2023 19. Weber T (2007) Codierungen des Todes. Zur filmi- schenDarstellungvonToteninderamerikanischen Fernsehserie „Six FeetUnder“. In:MachoT,MarekK (Hrsg) Die neue Sichtbarkeit des Todes. Wilhelm Fink,München,SS541–S557 20. Tsokos M, Eins P (2019) Der Puzzle-Mörder. https ://podcasts.apple.com/de/podcast/der-puzzle-m %C3%B6rder/id1452488865?i=1000429691055. Zugegriffen:13. Juni2023 6 Rechtsmedizin