1 Habitusbildung im Studium der Sozialpädagogik. Eine explorative Studie zur Strukturtypik studentischer Professionalisierungsprozesse Inauguraldissertation zur Erlangung des Akademischen Grades eines Dr. phil., vorgelegt dem Fachbereich 02 Sozialwissenschaften, Medien und Sport der Johannes Gutenberg-Universität Mainz von Roland Bauer aus Darmstadt Gelnhausen 2007 2 Tag des Prüfungskolloquiums: 10. September 2007 3 Danksagung: Den Forschungsteams, allen beteiligten Doktoranden und Studenten für ihre interpretatorischen Leistungen, Anregungen und Kollegialität. Den Studentinnen und Studenten, ohne deren Bereitschaft, mir eine autobiografische Stegreiferzählung zu geben, diese Arbeit nicht zustande gekommen wäre. Nicht zuletzt dem betreuenden Professor für seine Anregungen, freundliche Kritik und das sicherlich hohe Maß an Geduld, das er oftmals aufbringen musste. Vor allem aber meinen Eltern, deren Unterstützung diese Arbeit erst ermöglichte. 4 Inhaltsverzeichnis 1 Einleitung 8 2 Forschungsdesign 9 2.1 Fragestellung der qualitativ-empirischen Studie 9 2.2 Zur Klärung zentraler Begriffe: studentischer und pädagogischer Habitus, pädagogische Professionalität 10 2.3 Erhebungsmethode 11 2.4 Auswertungsmethode 12 2.5 Theoretische Folie 14 2.6 Zum Forschungsprozess 17 3 Zur rekonstruktionsmethodischen und -methodologischen Position der objektiven Hermeneutik 18 3.1 Textförmigkeit sozialer Wirklichkeit 18 3.2 Zur Konzeption regelgeleiteten sozialen Handelns 19 3.3 Rekonstruktion der Fallstruktur als Explikation von Sinnstrukturen 21 3.4 Fallrekonstruktion als Sequenzanalyse natürlicher Protokolle 21 3.5 Zur Transformation und Reproduktion der Fallstruktur 22 3.6 Latente bzw. objektive Sinnstrukturen 23 3.7 Fallstruktur-Generalisierung - zur Dialektik von Allgemeinem und Besonderem 24 3.8 Prinzipien der objektiv-hermeneutischen Textinterpretation 25 4 Rekonstruktion des Datenmaterials 32 4.1 Rekonstruktion des Interviews „Martin“ 32 4.1.1 Abschnitt 1 Interpretation der objektiven Daten 32 4.1.2 Abschnitt 2 Interpretation der autobiografischen Stegreiferzählung von Martin 42 4.2 Rekonstruktion des Interviews „Claudia“ 52 4.2.1 Abschnitt 1 Interpretation der objektiven Daten 52 4.2.2 Abschnitt 2 Interpretation der autobiografischen Stegreiferzählung von 59 Claudia 4.3. Rekonstruktion des Interviews „Michaela“ 74 4.3.1 Abschnitt 1 Interpretation der objektiven Daten 74 4.3.2 Abschnitt 2 Interpretation der autobiografischen Stegreiferzählung von Michaela 87 5 4.4. Rekonstruktion des Interviews „Ulrich“ 98 4.4.1 Abschnitt 1 Interpretation der objektiven Daten 98 4.4.2 Abschnitt 2 Interpretation der autobiografischen Stegreiferzählung von Ulrich 115 5.1 Zur Professionssoziologie 126 5.2 Paradoxien sozialpädagogischen Handelns, zu den Auswirkung der Organisationsratio und der staatlichen Rahmenbedingungen auf eine professionalisierte Praxis nach Fritz Schütze 128 5.2.1 Professionsmerkmale in der Tradition des interaktionistischen Paradigmas, zur Profession Sozialpädagogik 128 5.2.2 Dominanz des Verlaufskurvenpotentials gegenüber Interaktions- kompetenz und Kontingenz einer gelungenen Identitätskonzeption 131 5.2.3 Organisation- Instrument und Kontrollinstanz sozialer Arbeit 134 5.2.4 Paradoxien professionalisierten Handelns im Kontext der Aktenverwendung sozialpädagogischer Verwaltungstätigkeit 137 5.2.5 Ausrichtung des pädagogischen Fokus auf Arbeitsteiligkeit und Expertenspezialisierung versus Orientierung am Gesamtarbeitsbogen 139 5.2.6 Das Dilemma des Sicherheitswertes im Routineverfahren und die damit verbundene Einschränkung der professionellen Handlungsaufmerksamkeit 140 5.2.7 Hoheitsstaatliche Aufgaben der Professionellen und potentiell einher- gehendes Zurückstellen von Entfaltungsmöglichkeiten der Klienten 146 5.2.8 Paradoxien des professionellen Handelns, systematische Fehler und sekundäre Reaktionsstrategien 149 5.3 Skizze einer revidierten Theorie professionalisierten Handelns, Ulrich Oevermann 153 5.3.1 Einleitung 153 5.3.2 Allgemeine Ableitungsbasis, Einführung zentraler Begriffe der Professionstheorie, zur Vermittlung zwischen konkreter Lebenspraxis und hypothetisch konstruierter Welt 153 5.3.3 Gesellschaftliche Krisenlösung und Strukturen systematischer Erzeugung des Neuen 159 5.3.4 Autonome praktische Krisenbewältigung und rekonstruktive Bearbeitung von Geltungsfragen 161 5.3.5 Drei Foki der Logik professionellen Handelns 164 5.3.6 Zum Fokus Erkenntniskritik und Überprüfung von Geltungsansprüchen - Wissenschaft und professionalisierter Habitus des Forschers 169 6 5.3.7 Zum Fokus Therapie, Aspekte einer soziologischen Sozialisations- theorie: diffuse und rollenförmige Sozialbeziehungen 174 5.3.8 Zur Differenz zwischen Professionalisierungsbedürftigkeit und faktischer Professionalisiertheit 178 5.3.9 Die Professionalisierungsproblematik pädagogischer Praxis, eine strukturanalytische Betrachtung des therapeutischen Fokus 179 5.3.9.1 Pädagogisches Handeln versus naturwüchsige sozialisatorische Praxis 179 5.3.9.2 Die therapeutische Dimension pädagogischer Praxis im Sinne einer Prophylaxe pathogener Entwicklungen 181 5.3.10 Die potentielle Struktur des pädagogischen Arbeitsbündnisses als Rahmung einer professionalisierten Praxis 182 5.3.11 Zur Verknüpfung zentraler Strukturelementen pädagogischer Professionalisierung: mäeutische Pädagogik, therapeutische Praxis und pädagogisches Arbeitsbündnis 184 5.3.12 Paradoxien und strukturelle Ambivalenzen gesetzlicher Schulpflicht gegenüber der Strukturlogik des Arbeitsbündnisses 186 5.3.13 Aufgaben und Funktionen der Eltern bei gesetzlicher Schulpflicht und im pädagogischen Arbeitsbündnis 189 5.3.14 Das Ausbleiben einer Professionalisierung der Praxis - Gründe und Konsequenzen 189 5.4 Professionstheoretische Überlegungen zu Dienstleistungen der Sozialverwaltung, Ulrich Oevermann 191 5.4.1 Standardisierbarkeit und Nicht-Standardisierbarkeit von Dienstleistungen 191 5.4.2 Professionalisierungsbedarf sozialverwalterischer Dienstleistungen 194 5.4.3 Das Verhältnis der professionalisierungsbedürftigen Praxis der Sozialverwaltung zur Rechtspflege - Legitimationsbedarf und stellvertretende Krisenbewältigung 195 5.4.4 Auswirkungen des Strukturdilemmas von Sozialverwaltung und Sozialarbeit 197 5.4.5 Teilprofessionalisierung von Sozialarbeit und Sozialverwaltung – institutionelle Trennung des Rechtspflegerischen und des Therapeutischen 198 5.4.6 Künftige Aufgaben der Sozialadministration - Krise der Erwerbsarbeit und internationale Arbeitsmigration 200 6 Qualitativ-empirische Studien zur Berufseinmündung in die sozialpädagogische Praxis 202 6.1 Professionalität in biografischer Perspektive - Die Statuspassage vom Studium zum sozialen Beruf, Ergebnisse der Studie von Ulrike Nagel 202 7 6.1.1.1 Statuspassage als Berufsrisiko - Professionalisierung mit Risiko- kompetenz, variablen Handlungsstrategien und Relevanzstrukturen 202 6.1.1.2 Kontextuierung der Statuspassage als Gestaltungsspielraum 203 6.1.1.3 Das Scheitern der Berufseinmündung - die Statuspassage als Orientierungskrise 204 6.1.2 Berufskonzeptionen der Statuspassage 205 6.1.2.1 Identitätsmanagement der Statuspassage - Sozialarbeit als Sozialanwaltschaft 205 6.1.2.2 Konzeption der Sozialarbeit als Krisenmanagement 206 6.1.3 Das Professionalisierungsprojekt engagierte Rollendistanz 207 6.2 Handlungsmuster und Deutungskompetenz von Fachhochschulstudenten und -absolventen, eine qualitativ-empirische Studie von Friedhelm Ackermann 209 6.2.1 Typik der Studierenden - Pragmatiker, Selbstverwirklicher, Erfahrungsgesättigte, Zertifikatsorientierte 210 6.2.2 Typik der Berufspraktikanten - pragmatische Idealisten, Selbstverwirklicher, alte Hasen, der Profi, Nicht-Angekommene 211 6.2.3 Typik der Praktiker - Fachlich-Profilierte, Fachlich- Erfahrungsgesättigte, Resignativ-Angepasste 213 6.2.4 Zusammenfassung der Befunde von Friedhelm Ackermann 214 7 Kontrastierung und Konvergierung der Untersuchungsergebnisse 215 7.1 Maximaler Kontrast Fall 1 „Martin“ - Fall 3 „Michaela“ 216 7.2 Minimaler Kontrast Fall 1 „Martin“ - Fall 2 „Claudia“ 219 7.3 Kontraste und Konvergenzen der Fallstrukturen „Michaela“ und „Ulrich“ 221 8 Strukturtypik 224 8.1 Strukturtyp 1: Scheitern der Habitusformation durch Verweigerung von Emergenz 224 8.2 Strukturtyp 2: Krisenbearbeitung und Transformation biografietypischer Strukturen 225 9.1 Auf der Strukturtypik basierende explorative Aussagen zum Vergleich der Studienmodelle des wissenschaftlich gebildeten Praktikers und des qualitative Methoden vermittelnden Studiengangs 226 9.2 Resümee 228 10 Literatur 230 11 Darstellung der Arbeit auf einer Seite 237 8 1 Einleitung Untersuchungsgegenstand vorliegender qualitativer Studie ist die im Folgenden als studentischer oder pädagogischer Habitus bezeichnete sozialpädagogische Professio- nalisierung im Studium, einschließlich eines Vergleichs zweier unterschiedlicher Fachhochschulausbildungen; untersucht werden Bildungsprozesse und Professio- nalisierungsverläufe im Studium. Zur Datenerhebung wird das narrative Interview sensu Schütze verwandt, als Auswertungs- und Interpretationsverfahren kommt Oevermanns Konzeption der objektiv-strukturalen Hermeneutik zur Anwendung. Im Theorieteil (Abschnitt IV) werden Beiträge von Fritz Schütze und Ulrich Oevermann zur Professionalisierbarkeit pädagogischer Praxis in einer paraphrasierten Form vorgestellt, um als Folie sozialpädagogischer Fachlichkeit den theoretischen und methodischen Kontext für die Rekonstruktion einer Strukturtypik der Genese des sozialpädagogischen Habitus und für den Vergleich des Datenmaterials der Studenten der beiden Studiengänge zu bilden. Zum Problem der Professionalisierbarkeit und der Professionalisierungsbedürftigkeit wird, insbesondere mit den Beiträgen zu Ulrich Oevermanns Revision der klassischen Professionstheorie (Marshall 1950, Parsons 1968), zur Rekonstruktionsmethode und -methodologie der objektiven Hermeneutik sowie zu Oevermanns professionstheoretischen Überlegungen zu Dienstleistungen der Sozial- bürokratie, auf das strukturtheoretische Professionsmodell Bezug genommen. In Oevermanns Skizze einer revidierten Theorie professionalisierten Handelns werden wissenschaftliches Verstehen und hermeneutisches Fallverstehen die Grundlagen des professionalisierten Handelns, Professionalität konstituiert sich als widersprüchliche Einheit von Theorie- und Fallverstehen. „Wir werden später sehen, dass das professionalisierte Handeln in seinen klienten- bezogenen Praxisformen und Varianten genau den gesellschaftlich-lebenspraktischen Ort dieser in sich praktischen Vermittlung von Theorie und Praxis darstellt (Oevermann 1996, S. 79).“ Der Gebrauch männlicher und weiblicher Formen folgt den Konventionen der deutschen Rechtschreibung, nicht dem Konzept des Gender Mainstreaming. Für das empirische Material gilt, dass das jeweilige Geschlecht des Falls beibehalten wurde, ebenso wurde in der Darstellung der theoretischen Folie und deren teilweise fallbasierten Explikationen verfahren. 9 2 Forschungsdesign 2.1 Fragestellung der qualitativ-empirischen Studie Das Forschungsinteresse gilt allgemein der Genese einer professionalisierten sozial- pädagogischen Praxis im Studium. Neben der Entwicklung einer Strukturtypik aus den vorliegenden Fällen ist ein Anliegen dieser Arbeit, in einem explorativen Sinne zur Klärung der Fragestellung beizutragen, ob eine im Studium vermittelte Forschungs- kompetenz, die Lehre und Einübung qualitativ-empirischer Methoden, Bildungs- prozesse im Studium und die Habitusformation fördert und so einer professionalisierten Praxis den Weg bereitet. Im Sinne des Pragmatismus, hierbei beziehe ich mich auf Dewey, Peirce und James, könnte über ein propädeutisches Hermeneutikum die Erkenntnis des Falles zum Instrument der sozialpädagogischen Interventionspraxis werden. „Für den Bildungsprozess, der in den Studiengängen des Erziehungs- und Sozialwesens eröffnet werden soll, ist entscheidend, dass durch die Vermittlung fallrekonstruktiv gewonnener Theorien, durch die Arbeit am Fallmaterial dieses kritische Reflexions- wissen entstehen kann. So lassen sich charakteristische Orientierungsspuren in der Habitusformation der Studierenden legen, mit deren Hilfe es möglich wird, Fälle eigenständig zu rekonstruieren und Lebensgesetzlichkeiten verstehen zu lernen (Kraimer 2000, S. 48).“ Aus der Kontrastierung von vier objektiv-hermeneutischen Einzelfallinterpretationen resultiert eine Strukturtyp des studentischen Habitus, deren Vergleichsdimensionen an die unterschiedlichen Studiengangskonzeptionen zweier Fachhochschulen rückge- bunden werden. Die erste der beiden ausgewählten Fachhochschulen integriert seit 1995 in exemplarischer Form qualitativ-empirische Methoden in den Studiengang, die Regel- studienzeit umfasst acht Semester einschließlich zweier Praxissemester, die Staatliche Anerkennung ist in das Studium implementiert. An die 1991 verabschiedete Studien- reform wurde ein Professionsmodell angelegt, das die Fähigkeit einer personen- und situationsbezogenen Theoriebildung als basale Voraussetzung für wissenschaftlich fundierte sozialpädagogische Intervention zugrunde legt. Im Sinne einer intensiven Verzahnung von Theorie, Praxis und Methode werden Exploration und Feldforschung gekoppelt mit Interventionslehre, Theorie-Praxis-Seminar, Fallseminar und dem 10 Angebot einer Forschungswerkstatt qualitativer Methoden.1 Die zweite Fachhochschule begann 1973 den Studienbetrieb, Ziel des Reformstudienganges Sozialwesen war die Ausbildung zum Diplom Sozialarbeiter/ Sozialpädagogen auf wissenschaftlicher Basis, durch die Verknüpfung von Theorie und Praxis sollten die Studierenden zu beruflichem Handeln auf der Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse und Methoden befähigt werden. Projektstudium, mehrere Praktika und Berufspraktikum dienen der Einbindung und Reflexion der Praxis in die Ausbildung.2 Diese Fachhochschule legt in ihrer Studien- ordnung das Modell des „wissenschaftlich ausgebildeten Praktikers“ zugrunde. Eine leitende Prämisse für die Strukturierung des Studiums war, dass professionalisiertes sozialpädagogisches Handeln eine interdisziplinäre Herangehensweise erfordert, dass Prozesse pädagogischer Intervention einer fragmentarischen Disziplin angehören, die bereichsübergreifend verschiedene Traditionen und Schulen sowie verschiedene Bereiche von Theorie, Wissenschaft und Praxis einbezieht. 2. 2 Zur Klärung zentraler Begriffe: studentischer und pädagogischer Habitus, pädagogische Professionalität In seiner Schrift „Zur Soziologie der symbolischen Formen“ erläutert Bourdieu den Forschungsansatz von Erwin Panovsky, der Parallelen in der Entwicklung der gotischen Architektur und des Schulsystems untersucht.3 Panovsky erforscht Erklärungen zur Logik jener Verknüpfungen zwischen verschiedenen symbolischen Systemen einer Gesellschaft bzw. Epoche, die von der strukturalistischen Methode als Homologien von Systemen relativer Autonomie betrachtet werden. Ein gemeinsames Gestaltungsprinzip dieser beiden finde sich in der Institution Schule als einer „verhaltensnormierenden Instanz“. Funktion der Schule sei es, Unbewusstes zu übermitteln und Individuen zu bilden, die über jenes System unbewusster oder tief vergrabener Schemata verfügten, in dem ihre Bildung bzw. ihr Habitus wurzele. „In der Terminologie der generativen Grammatik Noam Chomskys ließe sich der Habitus als ein System verinnerlichter Muster definieren, die es erlauben, alle typischen 1 vgl. Studienordnung der Katholischen Hochschule für Soziale Arbeit Saarbrücken, gültig ab 1.10.1991, pdf-Dokument, http:// www.khsa.de 2 vgl. Ackermann 1999, S. 42 f., vgl. Studienordnung für den Studiengang Soziale Arbeit an der Fachhoschule Oldenburg Ostfriesland Wilhelmshafen in Emden, Stand 2001, pdf- Dokument, http://www. fhoow.de 3 Panovsky, Erwin: Gothic Architecture and Scholasticism 11 Gedanken, Wahrnehmungen und Handlungen einer Kultur zu erzeugen - und nur diese (Bourdieu 1974, S. 143).“ Der in dieser Arbeit verwandte Begriff des studentischen Habitus meint die Einübung und Grundlegung einer professionalisierten Praxis im Studium. Hierzu gehören im Sinne des explizierten Professionsmodells zentral ein strukturanalytisches Fallverstehen, die stellvertretende Deutung sowie Kenntnisse der Strukturdefizite, Dilemmata, Paradoxien, der Spannungsverhältnisse und der Organisationsratio sozialer Arbeit. 2.3 Erhebungsmethode Als Instrument der Datenerhebung wurde das von Fritz Schütze maßgeblich entwickelte und systematisierte Verfahren des narrativen Interviews verwandt. Mit diesem nicht- standardisierten Interviewverfahren kommen interaktionistische und phänomenolo- gische Theorietraditionen, im Anschluss an die Chicagoer Schule, insbesondere die Einflüsse von George Herbert Mead und Alfred Schütz zur Synthese (vgl. Klaus Kraimer, 1994, S. 83). Typisch für diese Methode des Interviews ist der Charakter der autobiografischen Stegreiferzählung, die hier greifenden Zugzwänge des Erzählens (Schütze 1982) rekapitulieren nicht nur die Darstellungsinhalte, sondern auch deren Form. Die Datenerhebung umfasst sechs narrative Interviews, aus Gründen der Vergleich- barkeit der Fälle werden von diesen vier Einzekfallrekonstruktion im folgenden Text niedergelegt, kontrastiert und zu Strukturtypen verdichtet. Im Hinblick auf die zur Auswertung genutzte objektive Hermeneutik erwies es sich als sinnvoll, einen standardisierten Fragebogen zur Erhebung der objektiven Daten der Interviewten zu verwenden. Das Interviewmaterial wurde vollständig transkribiert, für die Transkription wurde eine Notation gewählt, die innertextlich nicht erfassbare Besonderheiten wie Sprechpausen und Betonungen kennzeichnet. Transkriptionszeichen: (.) Pause ca. 1 Sek ; (..) Pause ca. 2 Sek (...) Pause ca. 5 Sek; (Pause) längere Pause (Lachen) Lachen; (`) Anheben der Stimme 12 (Seufzer) Seufzer (,) Absenken der Stimme (Luftholen) tiefes Luftholen; (?) Frageintonation unterstrichenes Wort Betonung (-) Unterbrechung bzw. Neuauf- nahme eines Gedankenganges 2.4 Auswertungsmethode „Die Erfahrung im Umgang mit den Verfahren der objektiven Hermeneutik hat bisher gezeigt, dass allerdings diese radikale Differenz zu der Handlungsfreiheit des Alltags erhebliche Schwierigkeiten bereitet. Diese bestehen aber eben nicht darin, sich erst einmal komplizierte Techniken aneignen zu müssen, sondern vornehmlich darin, einen uns im Zeitalter der Szientifizierung immer schwerer fallenden Ein- stellungswechsel vorzunehmen und uns vor jeder Anwendung von Theorien und Verfahrenstechniken ganz auf die Sache selbst einzulassen. Und sie nach allen Seiten hin zu beobachten und abzutasten. …Das einzig geheimnisvolle dieser rekonstruktiven Ermittlungstätigkeit besteht darin, ohne Scheu vor dem vermeintlich Trivialen und Selbstverständlichen die Sinnzusammenhänge eines konkreten Textes nach allen Seiten hin möglichst ausführlich zu betrachten und zugleich kritisch nur das zuzulassen, was sich mit dem vorliegenden Text auch wirklich deckt, dies aber möglichst extensiv.“4 Das erhobene Datenmaterial wurde von verschiedenen Forschungsteams- und -kolloqien bei Professor Dr. Detlef Garz an den Universitäten Oldenburg und Mainz nach der Methode der objektiven Hermeneutik von Ulrich Oevermann interpretiert. Besonders ausführlich -extensiv- waren die Interpretationen zu den Eingangssequenzen der Interviews. Die Auswahl interpretierter Sequenzen folgt dem Verlauf des Textes vom Beginn der Erzählung an, zur Überprüfung der Strukturhypothesen wurden Text- passagen aus späteren Abschnitten der Interviews, u. U. aus den Segmenten der immanenten und exmanenten Nachfragen gewählt. Bei der je einzelnen Fallre- konstruktion wurde auf eine theoretische Koppelung weitestgehend verzichtet, ent- sprechend Oevermanns Axiom der Fallstruktur als eines eigenlogischen Zusammen- hangs und im Sinne einer Interpretation in der Sprache des Falles. Der für die objektive 4 Ulrich Oevermann: Zum Problem der Persevanz im Delikttyp und modus operandi, Spurentext- Auslegung, Tätertyp-Rekonstruktion und die Strukturlogik kriminalistischer Ermittlungspraxis. Zugleich eine Umformung der Persevanzhypothese aus soziologisch-strukturanalytischer Sicht, BKA Forschungsreihe Bd. 17, Wiesbaden, 1985, S. 195; zit.n. Wagner, Hans-Josef 2001, S. 103 13 Hermeneutik zentrale Strukturbegriff ist der eines Bildungsprozesses, in dem in unablässiger Strukturerzeugung Strukturen transformiert und reproduziert werden. Der Ablaufcharakter fallspezifischer Selektivität impliziert eine Offenheit, Nicht- Determiniertheit der jeweiligen Entscheidungssituation. Im Anschluss an diesen Strukturbegriff und der Offenheit der jeweiligen Situationen entwirft Oevermann das an George Herbert Mead anknüpfende Modell der Offenheit von Lebenspraxis als einer Dialektik von Emergenz und Determination des Neuen. Dieses Verhältnis ist dialektisch insofern, als das Emergente, um Bestand zu haben, in das Determinante übergegangen sein muss, als das es dann rekonstruiert wird. Aus objektiv-hermeneutischer Sicht sind die Handlungsspielräume einer je konkreten Lebenspraxis durch Regeln gesetzt, bereits die Welt sozialer Regeln bestimmt Möglichkeiten und Folgen einer Handlung, nicht erst die Lebenspraxis. Gegründet auf die nicht-hintergehbaren Regeln zielt die objektiv- hermeneutische Textinterpretation auf Strukturrekonstruktion. Basal für die objektiv hermeneutischen Analysen ist somit nicht die an den Text angelegte Lebenserfahrung, vielmehr die Regelkompetenz der Interpretanten. Die Struktur, die sequenzanalytisch rekonstruiert wird, ist gegeben mit der Nicht-Zufälligkeit der Selektionen innerhalb der Handlungsoptionen, diese selbst folgen einer Struktur. Das Spezifische und das Charakteristische der Auswahl innerhalb der durch Regelgeltung bestimmten Optionen ist kennzeichnend für die Lebenspraxis und bildet die Fallstruktur. Für die objektiv- hermeneutische Interpretation der Fallstruktur steht die Untersuchung von Trans- formation und Reproduktion dieser Struktur im Zentrum. Die Transformation gilt als die allgemeinere Form des Verlaufs, da die Reproduktion konstitutionslogisch immer schon eine Transformation voraussetzt, eine reproduzierte Struktur und ihre Gesetzlichkeit das Ergebnis eines Transformationsprozesses ist. „Aus der konstituionstheoretischen Perspektive stellen die Prozesse der Struktur- transformation die fundierende Bewegung des Sozialen dar. Strukturreproduktionen erscheinen demgegenüber als Innehalten dieser Bewegung. Die Reproduktionen sind gleichsam Rastplätze auf dem Weg der Strukturtransformation (Wernet 2000, S. 17).“ Der begriffsimmanente Anspruch einer Objektivität der Methode wird von mir als eine interpersonelle Subjektivität, eine intersubjektiv rekonstruierte Wirklichkeit aufgefasst, die Interpretation des Falles als grundsätzlich nicht abgeschlossen und über die niederge- legte Rekonstruktion hinaus weiter interpretierbar. 14 2. 5 Theoretische Folie Professionstheorie Zur Professionstheorie werden Beiträge von Fritz Schütze und Ulrich Oevermann zur Professionalisierbarkeit pädagogischer Praxis in einer paraphrasierten Form vorgestellt, um als Folie sozialpädagogischer Fachlichkeit eine theoretische Folie für den Vergleich der Absolventen der beiden Studiengänge zu bilden. Zum Problem der Pro- fessionalisierbarkeit beziehungsweise Professionalisierungsbedürftigkeit wird mit den Beiträgen von Fritz Schütze zu Strukturlogik und Paradoxien sozialpädagogischen Handelns und Ulrich Oevermanns Skizze einer revidierten Theorie professionalisierten Handelns, seinen Beiträgen zur Rekonstruktionsmethode und -methodologie der objektiven Hermeneutik sowie den professionstheoretischen Überlegungen zu Dienst- leistungen der Sozialbürokratie auf das strukturtheoretische Professionsmodell Bezug genommen. „Die Grundidee dieses professionstheoretischen Ansatzes besteht darin, professionelle Berufe als Vermittlungsinstanz zwischen Theorie und (Lebens-) Praxis und damit auch als Vermittler zwischen wissenschaftlichem Wissen und Alltagswissen zu konzeptuali- sieren. In diesem Sinne bestimmt Oevermann die Strukturlogik professionalisierten Handelns als widersprüchliche Einheit von universeller Regelanwendung auf wissen- schaftlicher Basis einerseits und hermeneutischem Fallbezug andererseits (Merten/Olk 1996, S. 576 f).“ Schütze Fritz Schütze untersucht die Strukturkomponenten von Profession auf der Basis des interaktionistischen Forschungsansatzes der Chicagoer Schule (Schütze 1996, S. 183- 275). Als charakteristisches Professionsmerkmal gilt nach Schütze das Verhältnis von Professionellen und Klienten. Zwischen jeder Profession und ihrem Klientel besteht ein Störpotential in Form eines spannungsreichen, im Kern paradoxen sozialen Verhältnisses. Dieses nicht aufhebbare Störpotential führt, wie Schütze verdeutlicht, zu Irritationen und Missverständnissen. Aus ihm gehen Paradoxien professionellen Handelns hervor, die immer wieder Reflexionen auf den Ebenen der Berufsethik, der Selbsterfahrung und der Handlungsvollzüge bedürfen. Die Interaktion ist durch eine wechselseitige prinzipielle Fremdheit der Handlungsrelevanz gekennzeichnet. Eine Verschmelzung von Identität und Wahrnehmungsperspektive der Interaktionspartner ist 15 nicht möglich, diese Kommunikationsbarriere kann nur durch wechselseitige Vertrau- ensvorschüsse überwunden werden. Paradoxien der Profession sind nach Schütze das Dilemma, auf unsicherer empirischer Basis Prognosen über Fall- und Projektentwicklung abgeben zu müssen, „...allgemeine Typenkategorien professionellen Wissens in die Spezifität des konkreten Falls bzw. Projekts anwenden zu müssen“ sowie die Paradoxie zwischen der Tendenz zum „Zuwarten“, der „natürlichen Entwicklung eines Falls und der Intervention, dem Einsatz der mächtigen Verfahren bei auftauchenden Problemen, zu vermitteln (Schütze 1996, S. 194).“ Ein wesentlicher Teil professioneller Handlungsparadoxien entsteht intraorgani- satorisch, in arbeitsteiligen und zum Teil herrschaftlichen Kontexten, in Routine- abläufen und der dadurch erzeugten „dritten Natürlichkeit“ der professionell herge- stellten Klientenwirklichkeit (Schütze 1996, S. 252). Für den je einzelnen Sozialarbeiter gestalten sich diese Handlungsparadoxien besonders schwierig durch persönliche Verletzungsdispositionen, die zu Reaktionen wie „Kadavergehorsam“ oder strikter Ablehnung der Organisationsratio führen können. Mangelhafte Ausbildung in den relevanten Wissenschaftsbereichen, insbesondere den Analyseverfahren sowie mangel- hafte Praxis-Einsozialisation führen dazu, dass die widersprüchliche Handlungslogik der Paradoxien nicht bewusst ist, beziehungsweise geleugnet wird. Organisations- und Herrschaftskontexte können derart widersprüchlich konstruiert sein, dass keine objektive Chance für eine geordnete Entfaltung von professionellen Handlungslinien besteht. Schütze charakterisiert die professionellen Berufe als „...seismographisches Spiegelbild der kulturellen Veränderungen der Gesamtgesellschaft und ihrer Teilbereiche...(Schütze 1996, S. 196).“ Somit wandeln sich fortlaufend ihre externen und internen Strukturen, immer wieder sind intensive Probleme der Anpassung an die gesellschaftlichen Wandlungen zu bewältigen. Oevermann Von besonderer Bedeutung ist Oevermanns Konzeption der stellvertretenden Deutung, dies bedeutet zunächst die (stellvertretende) Deutung des latenten Sinns einer Interaktion und wird von Ulrich Oevermann exemplarisch, im Sinne eines Analogons zur sozialen Arbeit, an der Lehrertätigkeit expliziert. Entsprechend Oevermanns Forderung eines kompetenten und fachlichen Verhaltens des Lehrers, wäre dieser in der Lage, auf Grund seiner Kenntnis der Strukturproblematik erzieherischen Handelns, ein widerspenstiges 16 Schülerhandeln als authentischen Ausdruck dieser Rahmenstruktur zu deuten. Mit dieser stellvertretenden Deutung entfällt die kumpaneihafte Solidarität des „Müsli“-Lehrers, die stellvertretende Deutung bezieht die konkrete biografische Situation, einschließlich der Herkunft, als je motivierend ein. Vor allem aber kann der Lehrer mit dieser Deutung die objektive Sinnstruktur jenseits des subjektiv Gemeinten und Intendierten entziffern, er kann seine eigene Beteiligung an der Interaktionsdynamik reflexiv mitthematisieren und so kann vermieden werden, die aus der pädagogischen Interaktion resultierende Kooperation kausal auf den Schüler zu reduzieren. Oevermann plädiert für eine mäeutische bzw. sokratische Pädagogik. Eine mäeutische Pädagogik ist darauf ausgerichtet, ein Problembewusstsein durch Konfrontation mit unerwarteten Konstellationen oder Folgen zu wecken, um eingefahrene Gewohnheiten an der empirischen und logischen Evidenz zu brechen und auf dieser Folie eine eigentätige Lösungssuche zu initiieren. Notwendige Voraussetzung dieser sokratischen Hinführung ist eine entwicklungspsychologisch geleitete Deutung des spezifischen Umgangs des Schülers mit einer Problemkonstellation, die untersucht, von welchen Konzepten und Überzeugungen er sich naturwüchsig leiten lässt, um den Schüler mit einer problematisierenden Konfrontation auf Inkompatibilitäten seines Denkens aufmerksam zu machen. Die sokratische Hinführung zu einer selbsttätigen Einsicht ist nur möglich durch die stellvertretende Deutung des Lehrers, die zu einem konkreten Bild von dessen konzeptueller Denkstruktur führt. Auch die Normenvermittlung wird erst glaubwürdig, wenn die Prinzipien der Kooperation und der gemeinsamen Problembewältigung in der auf Sachhaltigkeit basierenden Achtung vor dem Wert der Eigentätigkeit des Einzelnen sachlogisch folgen. Soziales Lernen als eigenlogisches Curriculum ohne Verbindung mit der konkreten Sachlogik des Lernens bezeichnet Oevermann als Widerspruch in sich. „Dieses Prinzip der Verknüpfung von deutender und rekonstruierender Beobachtung und indirekter Problemexposition in einer mäeutischen Pädagogik lebt natürlich davon, dass der Schüler als konkreter Fall und als ganze Person für den Lehrer thematisch ist und ist deshalb in seiner Realisierung auf das Funktionieren eines pädagogischen Arbeitsbündnisses angewiesen (Oevermann 1996, S. 158).“ 17 2. 6 Zum Forschungsprozess Der Umfang des verwandten Datenmaterials beträgt vier Einzelfallstudien, je zwei objektiv-hermeneutische Interpretationen narrativer Interviews von Diplomandinnen und Diplomanden der Fachhochschule Oldenburg-Ostfriesland-Wilhelmshaven und der Katholischen Hochschule für Soziale Arbeit Saarbrücken. Die Rekonstruktion der Einzelfälle folgt Oevermanns Empfehlungen zur Interpretation, besondere Beachtung fand die Aufnahme der Erzählung, interpretiert wurde unter Verwendung von Fein- analysen, Überprüfung der Strukturhypothesen, unter Anwendung der objektiv- hermeneutischen Prinzipien Sequentialität, Kontextfreiheit, Totalität, Extensität, Wört- lichkeit und Sparsamkeit. Im Bemühen um ein methodisch exaktes Vorgehen wurden zunächst die objektiven Daten extensiv interpretiert. Die aus der Rekonstruktion der objektiven Daten gebildeten Lesarten, als vorläufige Hypothesen zur Struktur des Falles, sind im Anschluss an diese Daten zusammengefasst. Im Fortgang des Inter- pretationsprozesses wurden diese Zusammenfassungen mit den Fallstrukturhypothesen hinsichtlich Konvergenzen und Divergenzen verglichen, im Regelfall gingen ihre zentralen Strukturelemente in die Fallstrukturrekonstruktion mit ein. Ziel der Interpretationen der Interviewtexte war, über die Fallstruktur Daten zur Selbstsicht und Selbstpräsentation, zu biografisch und sozialpädagogisch relevanten Strategien, zur objektiven Motiviertheit der Studienaufnahme und der künftigen sozialen Praxis zu gewinnen und potentielle Transformationen auf dem Weg der Akkulturation in die Fachkultur aufzuspüren. Das im Anschluss an die Einzelfallrekonstruktionen dargestellte strukturtheoretische Modell dient als theoretische Folie für den Vergleich der Einzelfallrekonstruktionen. Die Interpretationen, besonders die Fallstruktur- hypothesen wurden anhand des minimalen und maximalen Kontrastes verglichen. Im nächsten Arbeitsschritt werden die Ergebnisse der Kontrastierung zu einer Strukturtypik verdichtet, deren zentrale Kategorien die Vergleichsdimensionen (Nagel 1997) der Studie bilden. Der Logik des abduktiven Schließens folgend, werden nun, basierend auf der Strukturtypik, in einem explorativen Sinn Professionalisierungstendenzen der Fälle zum Studienmodell des wissenschaftlich gebildeten Praktikers verglichen mit denen zum strukturtheoretischen Modell. 18 3 Zur rekonstruktionsmethodischen und -methodologischen Position der objektiven Hermeneutik Die Methodik der objektiven Hermeneutik ist für die vorliegende Arbeit von einer doppelten Relevanz, als Königsweg zur stellvertretenden Deutung, als der zentralen Kompetenz professionalisierten sozialpädagogischen Handelns und als theoretische Unterfütterung zur Auswertungsmethode. Für den folgenden Abschnitt beziehe ich mich auf Overmanns Aufsatz „Die Methode der Fallrekonstruktion in der Grundlagen- forschung sowie der klinischen und pädagogischen Praxis“ (in: Kraimer 2000) sowie auf Andreas Wernets „Einführung in die Interpretationstechnik der objektiven Hermeneutik“ (Wernet, 2000). 3.1 Textförmigkeit sozialer Wirklichkeit Empirische Sozialwissenschaft im Sinne des Untersuchens einer sinnhaften bzw. sinnstrukturierten Welt meint diese verstehen, interpretieren. In Form des Textes liegt den empirischen Sozialwissenschaften ihr Gegenstand vor. Die objektive Hermeneutik als Verfahren der Textinterpretation mit dem Anspruch einer intersubjektiven Überprüf- barkeit der Geltung der Interpretation liefert eine methodische Kontrolle der wissen- schaftlich-empirischen Operation des Verstehens. Der methodische Zugang der objektiven Hermeneutik zum Untersuchungsgegenstand ist der, dass sich die sinnstrukturierte Welt durch Sprache konstituiert und in Texten materialisiert, dass die soziale Wirklichkeit eine textförmige ist. Methodologisch sind Texte Protokolle der Wirklichkeit, der Textbegriff ist in der Konstitutionstheorie der sinnhaften Welt angesiedelt, der Protokollbegriff entstammt der Sphäre des empirisch-methodischen Zugriffs auf diese Welt. Für die Methodologie der objektiven Hermeneutik ist ausschließlich durch das Protokoll der Zugang zu einer methodologisch kontrollierten Wirklichkeitserforschung möglich bzw. erlaubt, ein direkter Zugang zur Wirklichkeit ist nicht möglich, dieser bleibt der Gegenwart konkreter Lebenspraxis vorbehalten. Die Vorstellung, durch die Be- schränkung auf die Textanalyse sei die eigentliche Wirklichkeit nicht erforschbar oder zumindest verarmt, entspricht nicht der objektiven Hermeneutik. Für diese wird mit dem Protokoll die Wirklichkeit Gegenstand methodischer Erschließung. 19 „Protokolle erscheinen leicht als bloß forschungslogisch bedeutsame Datenblätter. Sie sind aber viel mehr. Sie repräsentieren zugleich die Textförmigkeit sozialer Wirklichkeit.“ 5 3.2 Zur Konzeption regelgeleiteten sozialen Handelns Der Begriff der Regel geht auf Searle zurück und wird von diesem differenziert in den Typus der konstitutiven und den Typus der regulativen Regel. Die Konzeption regelgeleiteten sozialen Handelns besagt, dass soziales Handeln normativ konstituiert ist. Jede soziale Praxis bewegt sich innerhalb eines Raumes regelerzeugter Möglichkeiten und wird durch diese begründet. Interpretationen der Protokolle sozialen Handelns sind rekursiv zum Regelwissen, der Geltungsanspruch der objektiven Hermeneutik basiert auf der Inanspruchnahme geltender Regeln. Der Regelbegriff liegt insofern an der Schnittstelle zwischen Untersuchungsgegenstand und Methode, als er zum einen die Konstitution thematisiert und zum anderen das grundlegende Konzept methodologischer Rekonstruktion darstellt. Ein zentraler Aspekt der Konzeption der Regelgeleitetheit ist die Nichthintergehbarkeit von Regelgeltung, diese kann von der Lebenspraxis weder umgangen, noch außer Kraft gesetzt werden. Durch Regelgeleitetheit entsteht, im Unterschied zur sozialen Norm, aus der hervorgeht was zu tun ist, die Bedeutung einer Handlung. Oevermann verwendet als Beispiel zur Unterscheidung von generativer Regel und sozialer Norm die Sequenzanalyse mit der Sequenzstelle des Begrüßungsvorganges, an der A sein Gegenüber B begrüßt hat und dieser in irgendeiner Weise reagieren muss. „Während nun auf der Ebene des regelgeleiteten Handelns die Verweigerung des Zurückgrüßens durchaus eine wohlgeformte Handlung mit einer klaren, eindeutigen Bedeutung und einer klaren sinnlogischen Folge ist, stellt sie auf der Ebene der sozialen Normierung fast immer eine Abweichung und auf der Ebene der Praxis ein Scheitern dar (Oevermann 1999, S.10).“ Es besteht eine konstituionslogische Differenz zwischen Regel und Norm, die Voraussetzung der Regel erst erzeugt den Gegenstand bzw. die Entscheidungssituation, die dann durch Normierung spezifiziert werden muss. Eine Regel kann gedacht werden ohne den Kontext einer Norm, während das Denken einer Norm immer schon das 5 Oevermann 1986, S. 47, zit.n. Wernet 2000, S. 13 20 Denken einer Regel präsupponiert. Objektiv-hermeneutische Rekonstruktion ist bezogen auf die wirklichkeits- und die texterzeugenden Regeln, das Regelwissen bildet eine Stütze für die Explikation von Textbedeutung. Denjenigen Regeln, über die wir im Sinne des Kompetenzbegriffs verfügen müssen, um ihre Geltung material zu kritisieren, kommt methodologisch eine herausragende Bedeutung zu. Wernet6 verweist exem- plarisch auf ein sprachliches Angemessenheitsurteil, das nur mit dem Heranziehen der sprachlichen Regelgeltung selbst kritisiert werden kann. Dies gilt nach Oevermann für die folgenden universellen, da in ihrer Geltung nicht hintergehbaren Regelkomplexe: 1.) die universellen und einzelsprachspezifischen Regeln der sprachlichen Kompetenz, 2.) die Regel der kommunikativen oder illokutiven Kompetenz (Universalpragmatik), 3.) die universellen Regeln der kognitiven und moralischen Kompetenz Im Jahr 1999 expliziert Oevermann den Typus der material nicht kritisierbaren, univer- sellen Regeln in einer modifizierten Form und führt jene Regeln als bekannte Beispiele dieses Typus ein: 1.) Die universalgrammatischen Regeln der Theorie Chomskys, deren Kritik ihre Geltung immer schon voraussetzt und die damit material nicht kritisierbar sind. 2.) Die ebenfalls nicht-hintergehbaren Regeln des logischen Schlusses; 3.) „Ein ganz anderer Bereich von material nicht kritisierbaren Regeln ist in den Regeln der sozialen Kooperation zu sehen, deren Kern die Reziprozitätsregel ausmacht und die schon in der Hegelschen Philosophie im Prinzip der Sittlichkeit sinngemäß expliziert wurde. Bei Piaget werden sie als die konstituierenden Prinzipien der Moral bezeichnet, die erzeugend jeweils hinter den historisch konkreten Normierungen, den konkreten Gesetzen stehen (Oevermann 1999, S. 15).“ Anschließend an diesen Typus universeller Regeln wird der Bestand einer Vielzahl weiterer Regeln abnehmender Reichweite der Geltung angenommen, bis hin zu milieuspezifischen Regeln, deren Fortbestand abhängig ist von der Existenz des Milieus. Für diese Regeln mit geringerer Geltung bedarf es im Einzelfall unter Umständen einer Überprüfung der in Anspruch genommenen Geltung, die Geltungssicherung kann mit der Interpretation bzw. der Kritik der für die Interpretation in Anspruch genommenen Regeln durchgeführt werden. 6 vgl. Wernet 2000, S. 14 21 3.3 Rekonstruktion der Fallstruktur als Explikation von Sinnstrukturen „Die Objektivität der Struktur, für die Positivisten ein mythologisches Relikt, ist, der dialektischen Theorie zufolge, das Apriori der erkennenden subjektiven Vernunft. Würde sie dessen inne, so hätte sie die Struktur in ihrer eigenen Gesetzlichkeit zu bestimmen, nicht von sich aus nach den Verfahrensregeln begrifflicher Ordnung aufzubereiten (Adorno 1969, S. 14-15).“ Aus objektiv-hermeneutischer Sicht sind die Handlungsspielräume einer je konkreten Lebenspraxis durch Regeln gesetzt, bereits die Welt sozialer Regeln bestimmt Möglich- keiten und Folgen einer Handlung, nicht erst die Lebenspraxis. Gegründet auf die nicht- hintergehbaren Regeln zielt die objektiv-hermeneutische Textinterpretation auf Struktur- rekonstruktion. Basal für die objektiv-hermeneutischen Analysen ist somit nicht die an den Text angelegte Lebenserfahrung, vielmehr die Regelkompetenz der Interpretanten. Die Struktur, die sequenzanalytisch rekonstruiert wird, ist gegeben mit der Nicht- Zufälligkeit der Selektionen innerhalb der Handlungsoptionen, diese selbst folgen einer Struktur. Das Spezifische und das Charakteristische der Auswahl innerhalb der durch Regelgeltung bestimmten Optionen ist kennzeichnend für die Lebenspraxis und bildet die Fallstruktur. „Die Selektionen selbst folgen einer Struktur. Und erst ihre Strukturiertheit verleiht der Lebenspraxis ihre Identität (Wernet 2000, S. 15 ).“ 3.4 Fallrekonstruktion als Sequenzanalyse natürlicher Protokolle Die Selektivität vollzieht sich auf der Folie der durch soziale Regeln eröffneten Handlungsspielräume, die Entscheidungsmöglichkeiten erscheinen als Anschluss- möglichkeiten innerhalb eines Ablaufs. Analog formuliert auf der Basis der Sequenz- analyse die Rekonstruktion der Fallstruktur die Ablaufstruktur fallspezifischer Ent- scheidungen. Die Logik der Sequenzanalyse besteht darin, den tatsächlichen Ablauf des natürlichen Protokolls als eine sequentielle Strukturiertheit zu sehen, deren Einzelakte unter nach gültigen Regeln möglichst sinnvollen Anschlüssen getroffen worden sind und aus deren Gesamtheit sich die konkrete Struktur des Gebildes ergibt. In diesem unablässigen Prozess der Strukturproduktion erfolgen Transformation und Repro- duktion von Strukturen. 22 „Die konkrete Besonderheit des historischen Gebildes bildet sich auf diese Weise scharf als Kontrast auf der Folie der ‚objektiven Möglichkeiten’ seiner einbettenden Milieus inklusive der Möglichkeiten der objektiven Vernunft universeller Regeln ab (Overmann 1991, S. 270).“ Oevermanns Strukturbegriff ist der eines Bildungsprozesses, in dem in unablässiger Strukturerzeugung Strukturen transformiert und reproduziert werden. Der Ablauf- charakter fallspezifischer Selektivität impliziert eine Offenheit, Nicht-Determiniertheit der jeweiligen Entscheidungssituation. Im Anschluss an diesen Strukturbegriff und die Offenheit der jeweiligen Situationen entwirft Oevermann das an George Herbert Mead anknüpfende Modell der Offenheit von Lebenspraxis als einer Dialektik von Emergenz und Determination des Neuen. Dieses Verhältnis ist dialektisch insofern, als das Emergente, um Bestand zu haben, in das Determinante übergegangen sein muss, als das es dann rekonstruiert wird. 3.5 Zur Transformation und Reproduktion der Fallstruktur Für die objektiv-hermeneutische Interpretation der Fallstruktur steht die Untersuchung von Transformation und Reproduktion der Fallstruktur im Zentrum. Die Transformation der Struktur gilt als die allgemeinere Form des Verlaufs, da die Reproduktion konstitu- tionslogisch immer schon eine Transformation voraussetzt, da eine reproduzierte Struktur und ihre Gesetzlichkeit das Ergebnis eines Transformationsprozesses ist. „Aus der konstituionstheoretischen Perspektive stellen die Prozesse der Strukturtrans- formation die fundierende Bewegung des Sozialen dar. Strukturreproduktionen er- scheinen demgegenüber als Innehalten dieser Bewegung. Sie sind gleichsam Rastplätze auf dem Weg der Strukturtransformation (Wernet 2000, S. 17).“ Die Reproduktion einer Struktur ist ein dynamischer Vorgang, auffassbar als Bildungs- prozess und im Sinne der Offenheit von Lebenspraxis als eine von mehreren Möglich- keiten. In der sequenzanalytischen Praxis wird die Offenheit der protokollierten Selektion gerade durch jene Entscheidungsoptionen deutlich, die der Texterzeuger nicht gewählt hat. Der Raum der Möglichkeiten des regelgeleiteten sozialen Handelns ist nicht logisch vollständig und abgeschlossen, vielmehr macht gerade die Wahl neuer, unvorhergesehener und regelverletzender Optionen die Bedeutung der Regelgeleitetheit 23 aus. Ebenfalls von besonderer Bedeutung für die Methodologie ist die sequenz- analytische Betrachtung des Datenmaterials als eines bereits a priori sequenzierten Gebildes, im Text als einem Nacheinander von Textelementen werden die Selektions- knoten von vornherein präsentiert. 3.6 Latente bzw. objektive Sinnstrukturen Latente, dem Texterzeuger nicht bekannte und jenseits seiner Meinung von sich beziehungsweise von seiner sozialen Praxis liegende Strukturen bilden den Mittelpunkt des Forschungsinteresses der objektiven Hermeneutik. Andreas Wernet verdeutlicht diesen Sachverhalt: „Eine zentrale forschungslogische Ausrichtung der objektiven Hermeneutik ist darin begründet, dass ein Text Bedeutungsstrukturen generiert, jenseits von Selbstbild und Selbstverständnis einer sozialen Praxis, die sich in Meinungen, Intentionen oder Wertorientierungen dieser Praxis erschöpft (Wernet, 2000, S. 18).“ Mit dieser methodologischen Ausrichtung wird eine Abgrenzung gegenüber inhalts- paraphrasierenden Text- und Sinninterpretationen mit Orientierung an Intentionen von Sprecher und Aussage vorgenommen. Die objektiv-hermeneutische Interpretation als Verfahren der Rekonstruktion latenter Sinnstrukturen verweist auf eine Rekonstruktion entlang geltender Regeln, nicht auf eine lebensweltliche Übernahme der Handlungs- perspektive oder ein empathisches Verstehen des Handelnden und im offenen Raum geltender Regeln auswählenden Individuums. „Die Differenz zwischen der Ebene der objektiv-latenten Sinnstrukturen und der Ebene der subjektiv-intentionalen Repräsentanz ist für die objektive Hermeneutik ent- scheidend.“ 7 Die Selbstauffassung des Subjekts geht als eine Bedeutungsebene in die Fallrekon- struktion mit ein, aussagefähig wird sie erst in Verbindung mit der Ebene der rekon- struierten latenten Sinnstruktur. Im Grenz- und Idealfall einer völlig aufgeklärten Kommunikation wäre eine vollständige Koinzidenz intentionaler Repräsentanz und latenten Sinnstrukturen gegeben. 7 Oevermann, Ulrich/Alert, Tilmann/Konau, Elisabeth/Krambeck, Jürgen 1979: Die Methodologie einer „objektiven Hermeneutik“ und ihre allgemeine forschungslogische Bedeutung in den Sozialwissenschaften; in: Hans-Georg Soeffner (Hrsg.) Interpretative Verfahren in den Sozial- und Textwissenschaften, Stuttgart, S. 352-434, S. 380, zit.n. Wernet, 2000, S. 18 24 3.7 Fallstruktur - Generalisierung - zur Dialektik von Allgemeinem und Besonderem Die objektive Hermeneutik erhebt den Anspruch Gegenmodell zu sein zum sub- sumierenden, klassifizierenden und gesetzeswissenschaftlichen Theorieverständnis. Der Untersuchungsgegenstand soziale Wirklichkeit kann mit Operationen der Subsumtion nicht angemessen erfasst werden, da hierbei die für protokollierte soziale Wirklichkeit charakteristische Dialektik vom Allgemeinen und Besonderen nicht berücksichtigt wird. Die Theoriebildung bleibt empirisch ungesättigt, wenn der Einzelfall ausschließlich als Exemplar einer begrifflichen Gattung behandelt wird und die theoretischen Modelle erweitert werden um eine empirische Verteilung von Merkmalen. „Im Terminus ‚Fallrekonstruktion’ soll zum Ausdruck kommen, dass es sich um ein erschließendes Nachzeichnen der fallspezifischen Strukturgestalt in der Sprache des Falles selbst, also um die schlüssige Motivierung eines Handlungsablaufs in Begriffen des konkreten Handlungskontextes geht, und dieses Vorgehen im scharfen Gegensatz zur üblichen subsumtionslogischen Kategorisierung und Klassifikation von primären Datenmaterial unter vorgefasste theoretische Kategorien steht (Oevermann 1981, S. 4).“ Zur Rekonstruktion der Fallstruktur wird diese „in der Sprache des Falles selbst“ so extensiv wie möglich zum Ausdruck gebracht. Der Allgemeinheitsanspruch der Fallre- konstruktion ergibt sich aus den konstititionstheoretischen Prämissen, denn der Fall ist als sinnstrukturiertes Gebilde immer schon mehr als ein Einzelfall. Jede protokollierte soziale Wirklichkeit beinhaltet das Allgemeine, wie das Besondere des konkreten Falles. Die Allgemeinheit der Fallstruktur einer konkreten Lebenspraxis besteht schon durch die Beteiligung geltender Regeln an ihrer Entstehung, die Besonderheit erweist sich in der Selektivität der Entscheidungen. Selektivität erhebt insofern einen Allgemeinheits- anspruch, als sie praktische Antwort auf lebenspraktische Problemstellungen mit dem Anspruch allgemeiner Geltung und Begründbarkeit ist. Die Fallstrukturgeneralisierung nimmt, verpflichtet dieser Ebene der Allgemeineinheit der Ergebnisse der Fallre- konstruktion, die Formulierung einer materialen, empiriegesättigten Theorie vor. Diese bildet den Kern einer dem Modell der Verallgemeinerung geronnener Fallstrukturen folgenden Theorieentwicklung8. 8 vgl. Garz/ Kraimer 1994, S. 7-22 25 3.8 Prinzipien der objektiv-hermeneutischen Textinterpretation Die Prinzipien objektiv-hermeneutischer Interpretation bilden eine Brücke zwischen Methode und Methodologie, sie formulieren konkrete Verfahrensregeln für die Praxis der Interpretation und sind zugleich verankert in der methodologischen Begründung. Die fünf Prinzipien (1)Kontextfreiheit, (2)Wörtlichkeit, (3)Sequentialität, (4)Extensität und (5)Sparsamkeit verweisen auf zentrale methodologische Kategorien. (1) Kontextfreiheit: Die kontextfreie Interpretation als erster und vorläufiger Inter- pretationsschritt wendet sich dem Text in der Haltung „künstlicher Naivität“ zu. Um eine Zirkularität durch Kontextbezogenheit zu vermeiden, wird methodisch bewusst Wissen um den Forschungsgegenstand ausgeblendet. Kontextfreiheit meint Würdigung des Textes als natürliches Protokoll sozialer Wirklichkeit, nach dieser ersten Form der Bedeutungsexplikation erfolgt nachgeordnet die Kontextuierung, so dass diese beiden Dimensionen der Interpretation analytisch voneinander unabhängig sind. Kontext- freiheit bedeutet, im ersten Interpretationsschritt zur Vermeidung einer Kontextanalyse Kontexte zu einer beispielsweise sprachlichen Sequenz zu entwerfen. Die Kontras- tierung mit der nachfolgenden, den Kontext einbeziehenden Interpretation, deckt in aller Schärfe Dissonanzen zwischen dem Sinngehalt dieser Sequenz und ihrem Kontext auf. (2) Wörtlichkeit: Für ein Verständnis der Textanalyse als Wirklichkeitsanalyse ist das Prinzip der Wörtlichkeit unumgänglich. Das Prinzip der Wörtlichkeit korrespondiert mit dem methodologischen Postulat der Textförmigkeit sozialer Wirklichkeit, wie umge- kehrt eine Missachtung dieses Prinzips eine Berufung auf das Textverstehen als inter- subjektiv überprüfbare Operation ausschließt. Freuds Untersuchungen zu Fehlleistungen können als exemplarisch gelten für die Anwendung des Wörtlichkeitsprinzips, dieses verpflichtet dazu, den Text mit einer Exaktheit zu untersuchen, die in alltäglichen Kontexten des Verstehens inadäquat wären. „Ich fordere Sie auf, auf das Wohl unseres Chefs aufzustoßen.“… „Hier wird eine feierliche Stimmung unerwarteterweise durch das Eindringen eines Wortes gestört, das eine unappetitliche Vorstellung erweckt, und wir können nach dem Vorbild gewisser Schimpf- und Trutzreden kaum etwas anderes vermuten, als dass sich eine Tendenz zum Ausdruck bringen will, die der vorgeschobenen Verehrung energisch widerspricht und etwa sagen will: Glaubt bloß nicht daran, das ist nicht mein Ernst, ich pfeif' auf den Kerl 26 u. dgl..9“ Die vorliegende protokollierte Gestalt des Textes muss immer und gerade dort, wo innertextliche Widersprüche auftreten, berücksichtigt werden. Beim Prinzip der Wört- lichkeit gilt es innertextliche, vom Text selbst als Differenz markierte Verweisungs- zusammenhänge wie „ auf das Wohl aufstoßen“ in ihrer analytischen Unabhängigkeit zu berücksichtigen. Die Differenz liegt vor in einer textimmanenten Gestalt, nicht als eine außertextliche Unterstellung und kann ohne Vorwissen am Text wahrgenommen werden. Die Berücksichtigung jener Differenz zwischen intendierter Textbedeutung und sprachlicher Umsetzung markiert die methodische Bedeutung des Wörtlichkeitsprinzips. Mit diesem wird ein direkter Zugang zur Explikation der differierenden Ebenen des manifesten Sinngehalts und der latenten Bedeutungsstruktur des Textes eröffnet. Das Prinzip der Wörtlichkeit legt einen methodisch-technischen Grund zur methodo- logischen Ausrichtung als Verfahren zur Rekonstruktion latenter Sinnstrukturen. Die Technik wörtlicher Interpretation ist Mittel zur Aufrechterhaltung von Distanz zum Gegenstand, Hilfsmittel gegenüber der Tendenz, in eine lebenspraktische Sichtweise zu wechseln und verlangt vom Interpreten eine Haltung akribischer Betrachtung dessen, was im Alltag übergangen und belächelt wird und die in sozialen lebenspraktischen Zusammenhängen einer Verletzung entspräche. Somit wird beim Prinzip der Wörtlich- keit die kategoriale Unterscheidung der unterschiedlichen logischen Sphären wissen- schaftlicher und praktischer Einstellung besonders deutlich. Im obigen Beispiel des Versprechers des Festredners, auf das Wohl des Chefs aufzustoßen, wird die lebens- praktische Interpretation über die Fehlleistung hinweg dessen Willen, eine Würdigung auszusprechen, anerkennen. (3) Sequentialität: Grundoperationen der Textinterpretation, methodologische Implika- tionen und konstitutionstheoretische Aspekte korrespondieren mit diesem Schlüssel- konzept der Sequenzanalyse. „Konstitutionslogisch ist die Sequentialitäts-Thematik das Schlüsselkonzept einer vor allem an Mead und Pierce entfalteten Theorie der Entstehung des Neuen, einer Theorie der Lebenspraxis und ihrer Zukunftsoffenheit und einer Theorie der Bildungsprozesse (Wernet 2000, S. 27).“ Für die interpretatorische Praxis gilt die Grundregel, streng beim natürlichen Ablauf des 9 Freud 1915/1916, S. 57, 65-66 27 Protokolls zu bleiben. Oevermann erläutert die Grundsätze der Sequenzanlyse von Interaktionsprotokollen am Beispiel einer familialen Interaktionssequenz, in der sich eine soziale Struktur vollständig reproduziert.10 „1 K1 Mutti, wann krieg ich denn endlich was zu Essen. Ich hab so Hunger. 2 M1 Bitte. Möchtst dein Brot selbst machen oder soll ich dir’s schmieren ? 3 K2 Ist mir egal. 4 M2 Also mach’s selbst. 5 K3 Ach nein. 6 M3 Kurt komm. Hier ist die Margarine (Oevermann 1981, S.9)“. Zunächst ist der Protokoll- oder Szenenbeginn besonders ausführlich zu interpretieren. Zum ersten Sprechakt werden möglichst viele Kontexte gedankenexperimentell konstru- iert, die diesen nach prinzipiell explizierbaren Regeln sinnvoll machen. Damit der Interaktionsverlauf im Prozess des Ausschließens von Möglichkeiten deutlich wird, muss jedes Wissen um den äußeren Kontext ausgeblendet werden. Im nächsten Schritt werden diese hypothetisch entworfenen Kontexte mit dem tatsächlichen konfrontiert, den Oevermann zum vorliegenden Beispiel so beschreibt: „Der Sprecher war ein sechs- jähriger Junge, die Äußerung fiel, nachdem die Familie gerade zum Abendessen am Esstisch Platz genommen hatte. Auf dem Tisch standen Brot, Aufschnitt, Butter und Tomaten. Mit dem Essen konnte jeder beginnen, er musste sich nur die Brote schmieren (Oevermann 1981, S. 13).“ Hieraus folgt der Schluss, dass durch die Motivation der Äußerung eine mit der Abweichung von der Normalität indizierte Besonderheit des Falles vorliegt. Denn die pragmatischen Erfüllungsbedingungen der Aussage des Kindes liegen in der äußeren Realität nicht vor, sie liegen in der inneren Realität des Kindes. Die Erfüllungsbedingungen sind pathologisch, wenn die folgenden Bedingungen gegeben sind, dass sie nicht in der äußern Realität vorkommen, noch dem Subjekt reflexiv zugänglich sind. Oevermann deutet den Sprechakt in Bezugnahme auf Watzlawicks Kommunikationsmodell auf der Ebene des Beziehungsaspekts als Auf- forderung an die Mutter, wie ein kleineres Kind oder als eine mächtige Figur wie der 10 Oevermann 1981, S. 9-24 28 heimkehrende Vater behandelt zu werden.11 Erst wenn die sequentielle Positionierung berücksichtigt wird, kann die Strukturlogik der Sprechakte rekonstruiert werden. Die Antwort der Mutter. „Bitte. Möchtst dein Brot selbst machen oder soll ich dir’s schmieren?“ bietet dem Kind zwei Optionen zur Auswahl. Dessen vorausgehende Frage enthält jedoch bereits seine Wahl, die mit der Antwort der Mutter unterlaufen wird. Für die interpretatorische Praxis ist wichtig, penibel das Prinzip der Sequenzanalyse einzuhalten, denn die innere Tendenz, die Bedeutungsstrukturen im Verlauf des Textes zu suchen, führt zu einer Rekonstruktion der vom Texterzeuger formulierten Selbst- einschätzung, nicht zur Rekonstruktion der Strukturlogik der Interaktion beziehungs- weise des sequentiellen Gebildes. Die Prinzipien Sequentialität und Kontextfreiheit schließen die Verwendung von Text- und Kontextwissen zur Begründung von Lesarten aus, nicht das Wissen um Kontexte und Anschlüsse an sich. Die Rekonstruktion der Bedeutung einer Textstelle stellt die folgende Sequenz in einen inneren Kontext, die Benennung unterschiedlicher Optionen verweist auf die Besonderheit des Falls. Das gedankenexperimentelle Entwerfen innerer Kontexte verdeutlicht das Spezifische der Entscheidungen des sozialen Gebildes und somit wird der Text zum Protokoll eines Bildungsprozesses. Die Technik des experimentellen Entwerfens logischer Anschlüsse zielt auf die Rekonstruktion der Individualität, des spezifischen Gewordenseins einer Lebenspraxis. Die Auswahl und Begrenzung von Textteilen ist erlaubt und unvermeidlich, für die gewählten Textabschnitte gelten verbindlich die Regeln der Sequenzanalyse. Das Suchen nach besonders aussagekräftigen Textstellen, ein „Wandern im Text“ ist, im Anschluss an die vollständig explizierte Sequenzanalyse rekonstruktionsmethodologisch unbedenklich und für die Praxis geboten. Beginn und Ende der Interpretation werden unterschiedlich behandelt, mit der Auswahl einer Textstelle wird der Anfang gewählt, das Abbruchkriterium ist textimmanent. Die sequenzanalytische Interpretation des gewählten Textabschnitts kann beendet werden nach einer Phase der Reproduktion einer rekonstruierten Struktur. Für die Wahl des Anfangs gilt diese forschungslogische Ver- bindlichkeit nicht, vielmehr sind allgemeine Fragen zu Logik, Praxis und Ökonomie handlungsleitend. Für die objektive Hermeneutik ist die Forschungsstrategie der Offenheit des Datenmaterials charakteristisch, das Fortschreiten der Fallrekonstruktion 11 vgl. Oevermann 1981, S. 16 29 ermöglicht eine zielgerichtete Auswahl von Sequenzpositionen. Nach vollständiger Interpretation eines Textausschnitts, wie im Beispiel der familialen Interaktion, kann im Datenmaterial nach Passagen zum Ausbau, zur Modifikation oder zum Widerlegen der Fallstrukturhypothese gesucht werden. (4) Extensität: Für die Extensität als auffälligstes Merkmal der Methode objektiv- hermeneutischer Textinterpretation ist ein detailliertes, akribisches Bearbeiten geringer Textmengen charakteristisch. Diese Vorgehensweise führt zu der Kritik an der objektiven Hermeneutik, dass das Datenmaterial nur punktuell bearbeitet werde und dieses nicht in seiner Gesamtheit gewürdigt werde. Die detailliert und akribisch prakti- zierte Interpretation führe zu einem mit unangemessenen Explikationsaufwand betriebenen Verausgaben an Nebensächlichem, zu einer artifiziellen Überprägnanz. „Zur ersten, noch allzu abstrakten Annäherung sei an die Abhängigkeit aller Einzelnen von der Totalität erinnert, die sie bilden. In dieser sind auch alle von allen abhängig. Das Ganze erhält sich nur vermöge der Einheit der von seinen Mitgliedern erfüllten Funktionen. Generell muss jeder einzelne, um sein Leben zu fristen eine Funktion auf sich nehmen und wird gelehrt zu danken, so lange er eine hat.“12 Adornos Begriff der Totalität verdeutlicht, dass keine unvermittelten Einzelphänomene existieren, sondern jedes konkrete Phänomen in einen allgemeinen Zusammenhang eingebettet ist. Entsprechend der Dialektik vom Allgemeinen und Besonderen, aus der hervorgeht, dass das Besondere sich erst auf der Folie des Allgemeinen bildet, lässt sich aus objektiv-hermeneutischer Sicht formulieren, dass ein soziales Gebilde mit keiner Äußerungsform die Sinnstrukturiertheit verlassen kann. Die methodologische Annahme, dass sich aus protokollierten Ausschnitten sozialer Wirklichkeit ein Allgemeines rekonstruieren lässt, liegt dem Prinzip extensiver Feinanalyse zugrunde. Im Sinne Adornos Begriff der Totalität wird jedes konkrete Phänomen als in einen allgemeinen Zusammenhang eingebettet betrachtet. Mit diesem strukturanalytischen Ganzheitsbegriff der objektiven Hermeneutik lässt sich prinzipiell an jeder Stelle des Protokolls sozialer Wirklichkeit die Struktur rekon- struieren. Die Aussagefähigkeit extensiver Feinanalyse basiert auf der Qualität der Interpretation, nicht auf dem Umfang des Datenmaterials. Aus dem Prinzip der Extensivität folgt mit der kein Element des Protokolls unberücksichtigt lassenden 12 Adorno 1967 Stichwort Gesellschaft, in: Evangelisches Staatslexikon, Stuttgart, Spalte 637; zit.n. Adorno 1967, S. 17 30 Feinanalyse eine methodisch kontrollierte Erschließung des Textes. Die Prinzipien Wörtlichkeit, Extensivität und Kontextfreiheit formulieren zusammen die forschungs- praktischen Bedingungen, den Text in seiner Gesamtheit und genau so, wie protokolliert zu nehmen. Der Extensität ist erst dann entsprochen, wenn alle möglichen Lesarten typologisch erschöpfend benannt sind. In der Praxis erfordert die Extensität die Haltung, geduldig nach neuen Lesarten zu suchen. Die Frage, wann die Lesarten erschöpft sind kann nur material beantwortet werden, je geduldiger die Suche nach Lesarten war, desto wahrscheinlicher werden keine neuen hinzutreten. Die hierbei möglicherweise auftretende Redundanz der Interpretation bleibt forschungspraktisch die Ausnahme. (5) Sparsamkeit: Das Prinzip Sparsamkeit schreibt vor, nur solche Lesarten zu bilden, die ohne weitere Zusatzannahmen zum Fall vom Text erzwungen sind, Lesarten die auf der Annahme fallspezifischer Außergewöhnlichkeiten basieren, werden ausgeschlossen. Eine Funktion der Sparsamkeit ist mit der umfangslogischen Begrenzung der Extensität eine forschungsökonomische, mit der durch dieses Prinzip vorgenommenen Selektion der Lesarten wird der Interpret auf den Text verpflichtet, somit ist eine weitere und zentrale Funktion des Sparsamkeitsprinzips eine forschungslogische. „Das Prinzip Sparsamkeit bringt den Aspekt der Regelgeleitetheit und Wohlgeformtheit in besonderem Maße interpretationstechnisch zur Geltung. Denn es erlaubt nur diejenigen Bedeutungsexplikationen, die den Text als regelgeleitetes und wohlgeformtes Gebilde ansehen und verbietet diejenigen Lesarten, die den Text, ohne dass dieser selbst darauf verweist, als fallspezifisch motivierte Regelabweichung interpretiert (Wernet 2000, S. 36).“ Bei Verletzungen des Sparsamkeitsprinzips muss für außertextliche Unterstellungen immer schon ein vorgängiges Textverständnis in Anspruch genommen werden. Damit wird genau jene Operation unterlaufen, die für die objektive Hermeneutik von grund- legender Bedeutung ist, die Explikation von Textbedeutung entlang geltender Regeln. Die Einhaltung des Sparsamkeitsprinzips dient vor allem dazu, eine textlich unbegründ- bare Unterstellung von „Unvernünftigkeit“, „Regelverletzung“ oder „Pathologie“ zu vermeiden, den Interpreten nicht nur hinsichtlich der Lesarten, sondern in Bezug auf die Fallstrukturhypothese an das Textprotokoll zu binden. Dem Ziel einer methodisch kontrollierten und objektiven Interpretation verpflichtet, werden mit der Sparsamkeit nur textlich überprüfbare Fallstrukturhypothesen zugelassen. 31 Die Prinzipien Wörtlichkeit, Kontextfreiheit und Extensität einerseits und Sparsamkeit andererseits wirken in besonderer Weise aufeinander, während die Wörtlichkeit dazu dient, den Text in seiner tatsächlichen Gestalt auszudeuten und weitreichende Schluss- folgerungen anzustellen, wendet sich das Sparsamkeitsprinzip gegen die Tendenz, weitreichende unbegründbare Interpretation anzustellen. Hieraus folgt jener für die objektive Hermeneutik charakteristische Interpretationsduktus, dass einerseits aus einer akribischen Textanalyse auch gewagte Hypothesen zu gewinnen sind und andererseits weitestgehende Zurückhaltung gegenüber textlich nicht indizierten Interpretationen gefordert ist. 32 4 Rekonstruktion des Datenmaterials 4.1 Rekonstruktion des Interviews „Martin“ 4.1.1 Abschnitt 1, Interpretation der objektiven Daten Sequenz 1 M. geb. 1970 in Gelsenkirchen Durch die vorgenommene Anonymisierung des Namens bleibt das Geschlecht zunächst unbekannt. Erste spekulative Hypothesen zum Geburtsdatum sind die einer mögliche Mitgliedschaft der Eltern zur alternativen Bewegung, deren politisches Engagement ebenso möglich wäre, wie Einflüsse der Hippiekultur auf das familiäre Milieu. Konkrete Anhaltspunkte für eine ungewöhnliche Biografie der Herkunftsfamilie liegen hier jedoch nicht vor, daher erwarten wir einen eher normalen biografischen Verlauf. Aus dem weiten Feld potentieller Verläufe jenes Lebensabschnitts des Erzählers bis zum Jahr 2000 werden in einem spekulativen Sinne die folgenden Hypothesen ent- worfen: M. könnte auf dem zweiten Bildungsweg das Abitur gemacht und nach mehrjährigem Auslandsaufenthalt ein Studium aufgenommen haben. Eine längere Zugehörigkeit zur Armee als Zeitsoldat wäre beim männlichen Geschlecht des Stegreif- erzählers ebenso denkbar, wie eine Tätigkeit als Gärtner, Tischler oder Erzieher, der er/ sie im Anschluss an die entsprechende Ausbildung nachging. Eine Normalbiografie, wie sie fünfzig Jahre zuvor als leitende Fiktion und Maß einer gelungenen Lebenspraxis bestand, liegt mutmaßlich nicht vor, vielmehr erwarten wir einen für die heutige Zeit typischen eher unruhigen biografischen Verlauf, eventuell mit Brüchen. Für Biografien heute gilt, dass der Raum regelgeleiteter Optionen für Lebensentwürfe komplexer, vielfältiger ist, dass die aus verschiedenen Mustern zusammengesetzte Patchwork- Biografie schon als Normalfall gilt, auch weil für viele Berufsgruppen eine langfristige Schließung von Zukunftsoffenheit im Sinne einer Stelle für das Leben nicht gegeben ist; dies entspricht den Restriktionen, die mit der obigen Vielfalt einhergehen. Die Berufseinmündung der/des 1970 geborenen M. wäre nach einer Lehre im Anschluss an die Schulzeit etwa 1990, bei einer unmittelbar auf die Schulzeit folgenden Ausbildung circa 1985, im Falle eines universitären Studiums in der so genannten Regelstudienzeit läge der Berufseintritt etwa um 1995. Im Zeitraum der Adoleszenz- krise, um 1987, waren die zentralen politischen Ereignisse der Golfkrieg, 1989 der Fall der Mauer und die Wiedervereinigung Deutschlands. Diese beiden emotional hoch besetzten Ereignisse könnten Katalysatoren für ein aktives politisches Engagement M.s 33 gewesen sein, zum Beispiel in Form einer Teilnahme an Demonstrationen, an nächtlichen Mahnwachen vor dem Rathaus seiner/ihrer Heimatstadt. Als erste Assoziationen zu Gelsenkirchen fallen zunächst die Stichworte Schalke 04 und Gelsenkirchener Barock. Mit einer Einwohnerzahl von 294000 liegt Gelsenkirchen in einem Ballungsgebiet, in dem die Stahlindustrie als wichtiger ökonomischer Faktor von einer Krise und einer Umstrukturierung durch die Einführung neuer Technologien betroffen war. Gelsenkirchen, wie viele andere deutsche Regionen mit Bedarf an Arbeitskräften, war Ziel der zweiten großen Migrationsbewegung nach dem Zweiten Weltkrieg, bei der vor allem türkische und italienische Arbeiter nach Deutschland einreisten und im Ruhrgebiet für die Montageindustrie tätig waren; nach jener ersten, einhundert Jahre zurückliegenden Migrationswelle polnischer Arbeiter, die, wie auch Arbeitskräfte aus den östlichen Gebieten des Deutschen Reiches, Ost- und Westpreußen, Posen und Schlesien, den deutschen Bergbau unterstützten. Die Rationalisierung des Bergbaus in den zwanziger Jahren führte dazu, dass viele Bergleute ihre Arbeit verloren. Als Zentrum der Rüstungsindustrie der Nationalsozialisten wurde Gelsenkirchen ein wichtiges strategisches Ziel alliierter Bombenangriffe, bei Kriegsende waren drei Viertel der Wohn- und öffentlichen Gebäude zerstört. In Bezug auf die oben erwähnte Migrationsbewegung ist es möglich, dass M., einer dieser Gruppen angehörend, in Kindheit und Jugend in Diaspora lebte und nur Kontakte innerhalb des eigenen Kultur- und Religionskreises hatte. In diesem Falle könnte die Auseinandersetzung mit restriktiven kulturellen und familialen Werten und das Ringen um eine hiervon unabhängige Lebenspraxis das zentrale Thema der Adoleszenz gewesen sein. Erste Rahmung M. wurde 1970 in Gelsenkirchen geboren, ist im Jahr 2000 dreißig Jahre alt, wurde wahrscheinlich 1976 eingeschult und besuchte möglicherweise ab 1980 eine weiter- führende Schule. Neben den Einflüssen des Elternhauses könnten Ereignisse wie Stahl- und Erdölkrise sowie eine regional bedingte gewisse kulturelle Vielfalt Elemente der soziokulturellen Umwelt der/des jungen M. gewesen sein. Während der Adoleszenz- krise waren der Golfkrieg und die deutsche Wiedervereinigung Ereignisse, die für M. zu Katalysatoren der Entwicklung einer politischen Identität geworden sein könnten. 34 Sequenz 2 Mit 8 Jahren, zweite Klasse, Umzug nach Uetersen in Schleswig Holstein. Mit dem Wohnortwechsel von Gelsenkirchen nach Uetersen, einer Kleinstadt mit 18.056 Einwohnern, wechselt M.’s Familie von einer Großstadt im Ruhrgebiet, in der Ereignisse wie die Krisen der Stahlindustrie und kulturelle Vielfalt lebensweltlich erfahren und nicht medienvermittelt aufgenommen werden, in ein kleinstädtisches Milieu nahe bei Hamburg. Die Entstehung Uetersens im Landkreis Pinneberg geht zurück auf eine um 1200 auf den Geestrücken im Urstromtal der Elbe von einem Barmstedter Rittergeschlecht errichtete Schutzburg. 1870 erhielt Uetersen von der Königlichen Regierung in Schleswig die Stadtrechte verliehen. Als traditionelle Hafen- stadt für Buten- und Binnenschifffahrt ist Uetersen ist überregional vor allem durch die seit 1880 bestehende Rosenzucht bekannt. Beweggrund für die Entscheidung in Uetersen bei Hamburg in Schleswig-Holstein zu leben, könnte ebenso ein berufliches Motiv sein, wie ein gesundheitliches, die klimatische Veränderung ob einer Atemwegs- oder Hauterkrankung eines Familien- mitglieds, eine Trennung der Eltern, Krankheit oder Todesfall in der Familie, verbunden mit der Übernahme eines elterlichen Erbes. Zum Entwerfen spekulativer Hypothesen für das Motiv der Familie zum Umzug legen wir eine Normalitätsunterstellung an den Text an, für die Annahme eines pathologischen Motivs gibt es keine innertextlichen Begrün- dungen und Hypothesen wie die eines alternativen Lebensentwurfes verfolgen wir zunächst nicht weiter. Am wahrscheinlichsten scheint uns ein Umzug der gesamten Familie nach Uetersen, die Entscheidung hierfür muss die berufliche Situation der Eltern mit einbeziehen. Zum jetzigen Zeitpunkt kann das Motiv noch nicht eindeutig bestimmt werden, eine leichtfertige Entscheidung war es nicht, gewichtige Gründe bewogen M.'s Familie zum Umzug. Sequenz 3 anschließend allgemeinbildendes Gymnasium Die Wahl eines allgemeinbildenden, also humanistischen Gymnasiums gegenüber einer Schulform wie einem fachbezogenen Gymnasium ist möglicherweise ein Indiz dafür, dass in der Familie der Erwerb von Bildung für die Kinder ein hoher Stellenwert zukommt. Der Zeitpunkt des Übergangs von der Grundschule wird zwischen 1980 und 1982 zu datieren sein. Die Biografie der Familie ist entsprechend den historischen, ökonomischen und soziokulturellen Gegebenheiten nicht ungewöhnlich, eine Besonder- 35 heit besteht im Wohnortwechsel von Gelsenkirchen nach Uetersen. Im Falle eines geringeren Einkommens der Eltern oder beispielsweise weiterer, für eine BAFÖG- Vergabe nicht anerkannter Belastungen der Familie besteht für M. im Anschluss an die Schulzeit eine ökonomisch bedingte Einschränkung der Optionen zur Berufswahl, entweder entscheidet er/sie sich für eine kurze Ausbildung oder für ein selbstfinanziertes Studium. Sequenz 4 achte Klasse wiederholt Im Sinne einer Normalitätsunterstellung interpretieren wir diese Sequenz nicht als auffällig, denn die Wiederholung eines Schuljahres im Alter von etwa vierzehn Jahren ist nicht ungewöhnlich, ein Interpretationsbedarf bestünde, wenn in nachfolgenden Textstellen deutlich wird, dass dies der Beginn einer anhaltenden Störung im Lernprozess ist. Zur Überprüfung jener Hypothese, dass M. einer Migrantengruppe angehören könnte, wird der Vorname des Erzählers, Martin, eingeführt. Martin geht zurück auf den lateinischen Familiennamen Martnus, lat. Märs, Märtis, Martius (entspricht dem Monat März), dem Namen des römischen Kriegsgottes Mars. Martin als Vorname fand im mittelalterlichen Deutschland Verbreitung durch die Popularität des heiligen Martin, im vierten Jahrhundert Bischof von Tours, Schutzheiliger der Franken und Gründer der ersten abendländischen Klöster. Die Hypothese türkischer oder polnischer Migranten ist somit unwahrscheinlich, für die weitere Interpretation besonders interessant wäre zwar der Fall, dass türkische oder polnische Migranten ihrem Sohn diesen Namen gaben, doch wir gehen im Folgenden bis auf weiteres von einer deutschen Herkunftsfamilie aus. Sequenz 5 1991 Abitur Nach vierzehn Jahren Schulzeit erwirbt Martin, als Siebenjähriger eingeschult, das Reifezeugnis. 1991 gilt das tradierte Schema Abitur - Studium - Beruf nur noch als eine Option unter mehreren Wahlmöglichkeiten einer Berufsbiografie innerhalb eines Raums regelerzeugter Möglichkeiten. Die Vielzahl von Möglichkeiten kann mit Anschlüssen wie Zivil- oder Wehrdienst, Auslandsaufenthalt, Lehre oder Studium nur angedeutet werden. Hinsichtlich eines Studium deuten sich im Einzelfall die folgenden Anschlussmöglichkeiten an: • Die vierzehnjährige Schulzeit und die Wiederholung der achten Klasse weisen darauf 36 hin, dass Martin kein genialer Schüler war, dessen Sonderbegabung als Prä- destination für ein hochgestecktes Karriereziel, zumindest für die Entscheidung zu einem Physik- oder Medizinstudium gilt, vielmehr ist die Wahl eines bodenständigen Berufsziels wahrscheinlich. • Das Einkommen der Eltern ist möglicherweise nicht ausreichend, um Martin ein von Sorge um die Finanzierung unbelastetes Studium zu ermöglichen, sofern sich diese Hypothese zum ökonomischen Status des Elternhauses bestätigt, wird dies zur Restriktion Martins Optionen und zugleich zum basalen Kriterium der Berufs- respektive Studienwahl. Sequenz 6 Vater geboren `48 Für die Berufsbiografie des Vaters gilt, dass dieser sowohl die Armut der Nach- kriegsjahre, die kollektive Verdrängung von Schuld und Verweigerung von Trauer, als auch die prosperierende Wirtschaft als Kind in den fünfziger Jahren miterlebte. Sein Alter zur Zeit Martin’ Geburt betrug zweiundzwanzig Jahre. Damit wurde er relativ früh Vater, doch sind mit Anfang zwanzig geschlossene Ehen und die Geburt eines Kindes unmittelbar im Anschluss für diese Zeitepoche nicht ungewöhnlich. Die Adoleszenz des Vaters fand statt zu der Zeit, als die Bewegung der Außerparlamentarischen Opposition sich am Zenit ihrer unmittelbaren gesellschaftlichen Wirkung befand. Sequenz 7 arbeitet als Augenoptikergeselle Diese Sequenz lässt sich vordergründig interpretieren in dem Sinne, dass der Vater zwar Augenoptikermeister ist, auf Grund der schwierigen Beschäftigungssituation jedoch eine Stelle mit einem Gesellenvertrag angenommen hat. Eine andere Lesart wäre exemplarisch, dass der Vater erst vor einigen Jahren die Gesellenprüfung abgelegt hat, weil er zuvor einen anderen Beruf ausübte und aus gesundheitlichen Gründen umschulte zum Augenoptiker. Es ist auch an sich nicht auffällig, dass der Vater als Geselle arbeitet, denn es gibt in Deutschland nur wenige Möglichkeiten, sich in diesem Beruf zum Meister zu qualifizieren und die unter Umständen große Entfernung zwischen Wohn- beziehungsweise Arbeitsort und Schulort können für jemand, der eine Familie versorgt hinreichend Grund sein, vom Besuch der Meisterschule Abstand zu nehmen. Auffällig hingegen ist die Wahl der Formulierung des Sohnes für den Vater, einen fünfzigjährigen ,gestandenen’ Mann. Mit der Charakterisierung des Vaters als „Augenoptikergesellen“ 37 nimmt Martin eine dequalifizierende Bewertung vor, teilt uns latent mit, „der hat sein Meisterstück noch nicht gemacht“ und „der ruht sich auf seinen Lorbeeren als Geselle aus und wir haben kein Geld.“ Hier schwingen enttäuschte Erwartungen an den Vater mit, dass dieser seinen Meister machen und initiativ werden sollte für die Verbesserung der finanziellen Situation der Familie; die Bewertung wird ohne jede situations- imannente Notwendigkeit vorgetragen. Basis für Martins Bewertung kann eine durch die Mutter in das familiale Wertesystem eingeführte Aufstiegsorientierung sein. In der Formulierung „arbeitet als Augenoptikergeselle“ klingt der Vorwurf der Unselbständig- keit durch, wie auch jener, diesen familialen Wert nicht eingelöst zu haben. Die hieran anschließende Hypothese einer starken, für die Familie und besonders die Kinder normativen Mutter werden wir unter Umständen an gegebenem Ort aufgreifen. Sequenz 8 Mutter, geboren `50 Der Altersabstand zum Vater ist unauffällig, die Mutter war zur Zeit der Geburt ihres Sohnes zwanzig Jahre alt, wahrscheinlich wurde die Ehe einige Monate vorher geschlossen. Eine ungewollte Schwangerschaft könnte ebenso Anlass einer vorzeitigen Eheschließung gewesen sein, wie auch eine frühe Heirat als Legitimation zum Verlassen des Elternhauses gedient haben könnte. Zwar wurde 1961 von der Berliner Schering AG mit dem Präparat Anolvar die erste empfängnisverhütende Pille in Deutschland auf den Markt13 gebracht, doch galt nach wie vor, dass junge Frauen keinen Geschlechtsverkehr vor der Ehe bräuchten, entsprechend auch keine Verhütungsmittel. Öffentliche Diskussionen und Aufklärung wurden nicht gefördert, Schering führte die empfängnis- verhütende Pille als „Mittel zur Behebung von Menstruationsstörungen“ ein. Während erst die Studentenbewegung unter dem Motto der sexuellen Revolution die Ent- tabuisierung der Sexualität förderte und damit die freie Verfügbarkeit der Pille, wird diese 1968 in der Enzyklika Humanae vitae als Mittel zur Verhütung von Papst Pius VI geächtet. Diese Haltung bleibt bis heute unverändert. 13 verkürzt nach: medicine-wordlwide, die Pille, url:http//www.m-ww.de/sexualitaet_fortpflanzung/verhuetung/pille.html 38 Sequenz 9 arbeitet als Hausfrau Wie schon bei der Einführung des Vaters wird hier eine ungewöhnliche Formulierung gewählt. Mit der Wortwahl ‚arbeitet als Hausfrau’ wird allgemein der Wert häuslicher Arbeit betont und im Besonderen die Leistung der Mutter aufgewertet. Somit übermittelt uns Martin ein Bild der Eltern, die Mutter, Hausfrau, arbeitet viel, während der Vater dem familialen, durch die Mutter eingeführten Aufstiegswert mit seiner Tätigkeit nicht entspricht. Sequenz 10 betreut eine ältere Dame, weitere Nebenjobs Die Tätigkeiten der Mutter tragen wesentlich zur Unterstützung der Ökonomie der Familie bei, das Einkommen des Vaters alleine reicht wahrscheinlich für den angestrebten Lebensstandard nicht aus. Erst ihre Tüchtigkeit, neben der Doppelrolle als Hausfrau und Mutter noch weitere Nebenjobs auszuüben, ermöglicht, der Familie den angestrebten materiellen Status zu halten. Mit der Betreuung einer älteren Dame ist ein Hintergrund sozialer Tätigkeit in die Familie eingeführt. Für Martin ist eher die Mutter signifikant, als der Vater, wie es die Bewertungen der Eltern in den objektiven Daten nahe legen. In einem spekulativen Sinne könnte Martin in einer biografisch orientierten Selbstpräsentation anführen, „ich habe bereits als Kind durch die Begleitung meiner Mutter bei ihrer pflegerischen Tätigkeit die ersten Grundbegriffe sozialer Haltung und sozialen Handelns gelernt.“ Sequenz 11 (Martin) vier Jahre als Zeitsoldat bei der Bundeswehr Eine langfristige Verpflichtung zum Soldatentum ist nicht nur pragmatisch motiviert mit dem Ziel der ökonomischen Absicherung einer Berufsausbildung, allgemein mit dem Grundbedürfnis der Sicherheit, sondern bei dieser Wahl schwingt immer eine gewisse Affinität zur Institution, zum Militärischen mit. Auf der Ebene subjektiv erzeugten Sinns steht wahrscheinlich das Sicherheitsmotiv, von der Bundeswehr als doppeldeutiger Werbeslogan gebraucht, „Bundeswehr- wir schaffen Sicherheit“, im Vordergrund. Mit einer vierjährigen Verpflichtung ist in der Armee die Möglichkeit einer Offiziers- laufbahn gegeben. Jedoch ist eine strukturelle Abweichung von Martins intentionaler Planung wahrscheinlich, denn mit der Verweildauer von vier Jahren bei der Bundeswehr ist zwar das Minimum einer freiwillige Verpflichtung gewahrt, in der Regel wurde zur damaligen Zeit aufgrund der höheren Anreize, den hohen Abfindungssummen und der 39 Kostenübernahme einer Berufsausbildung oder eines Universitätsstudiums, eine Verpflichtung von acht bis zwölf Jahren eingegangen. Im Falle der nachträglichen Lösung eines acht- oder zwölfjährigen Vertrages konnte dieser reduziert werden auf ein Minimum von vier Jahren, eine weitere Verkürzung oder ein ad hoc- Ausstieg war nur unter beträchtlichen finanziellen Einbußen möglich. Vor dem Hintergrund der Bundeswehrverpflichtung zur Absicherung eines in die Offizierslaufbahn integrierten Studiums auf Grund eines zu geringen Einkommens der Eltern (vgl. objektive Daten, Sequenz 5), scheidet für Martin diese Möglichkeit eines ad hoc-Ausstiegs aus. Der Fakt, dass es möglich ist, im Anschluss an das Abitur eine Lehre zum Tischler, zum Bankkaufmann oder eine vergleichbare Berufsausbildung ohne den Umweg über die Bundeswehr zu absolvieren und sich hiermit die Option für ein Studium zu eröffnen, stützt die Hypothese von der Affinität zur Bundeswehr. Für Martin bietet die Bundeswehr gegenüber dem Studium einen fremdstrukturierten, heteronomen Tagesablauf bei einem gesicherten und vergleichsweise gehobenen materiellen Status, wie ein Studium kann die Militärzeit eine Entscheidung für eine Verlängerung des Übergangs zum Erwachsenen- beziehungsweise Berufsleben sein. Eine latente Sinnstruktur innerhalb des Ensembles von Bedürfnissen (Sicherheit), Präferenzen (Umgang mit Waffen, mit militärischem Gerät, möglicherweise Abenteuerlust), Zielen (Offizierslaufbahn und abgesichertes Studium), die das Motiv für die Wahl der Armeezeit bilden, ist die Entscheidung für den bundeswehrtypischen leitfadengestützten Alltag, für eine von autonomen Entscheidungen entlastete Lebenspraxis. Darüber hinaus entspricht die Entscheidung für ein biografisches Übergangstadium in einem latenten Sinne der Entscheidung für eine verlängerte Passage der Adoleszenz vor der Übernahme der Aufgaben und Pflichten, über die traditionell die Identität des Erwachsenen definiert wird. In diesem Falle werden Martins Eltern nicht dem Bildungsbürgertum mit einem entsprechenden Planungshorizont für eine akademische Karriere angehören, so dass Martin keine effiziente familiale Beratung für ein Studium und den anschließenden Beruf erhielt und eine vierjährige Suche notwendig wurde. Bezüglich einer Beratung zum Studium entsprach Martins Lage der vom Arbeitskreis Bielefelder Soziologen so charakterisierten Situation eines Orientierungswaisen. 40 Sequenz 12 Bundeswehr beendet ohne Studium `95 Die vorliegenden Daten zur existentiellen Situation der Familie (Vater ist als Augen- optiker mit Gesellengehalt tätig, Mutter übt mehrere Nebenjobs aus) erhärten die These, dass unter dem Druck der begrenzten materiellen Ressourcen der Eltern die Entscheidung für die Verpflichtung zur Sicherung des Studiums entstand, im Kontext der hart arbeitenden Mutter wird das Scheitern dieses intentionalen Entwurfs besonders misslich. Eine autonome Lebenspraxis führt der nun fünfundzwanzigjährige Martin mit bisheriger Schul- und vierjähriger Militärzeit nicht. Aus der Bundeswehrerfahrung resultiert eine Veränderung des biografischen Entwurfs, möglicherweise waren die Vorannahmen nicht realitätsnah genug. Karrierechancen, wie auch die Option einer Lehre werden geringer. Insofern die Planung der Bundeswehrzeit mit Studium möglicherweise eine heteronome war, getroffen im Kontext der begrenzten ökonomischen Ressourcen des Elternhauses und von diesem mitgetragen, basiert der vorzeitige Ausstieg aus der Armee auf einer autonomen Entscheidung, diese führt allerdings auch zu einem autonomen Scheitern der Planung. Entwicklungspsychologisch interessant ist, dass dieses mutmaßlich durch Frustration freigewordene Auotonomiepotential zunächst zu einem Scheitern der Planung führt. Sequenz 13 Ende ’95 Beginn eines Vorpraktikums für ein Studium Sozialpädagogik an einer Fachhochschule Die Studienordnungen des Fachhochschulstudiums Sozialpädagogik sehen in den Bundesländern unterschiedliche Zugangsvoraussetzungen zum Studium vor, für die von Martin gewählte Einrichtung war der Nachweis eines sechsmonatigen Praktikums erforderlich. Fraglich ist, ob der Studienbeginn einen Wendepunkt in Martins Biografie markiert oder eine lineare Fortsetzung ist auf einem langen Weg, konkrete berufliche Ziele zu realisieren. Ist die Wahl eines sozialen Berufs eine grundlegende Wandlung Martins sozialer Handlung, etwa „ich will nicht Menschen töten, ich will Ihnen helfen“ oder bleibt ein roter Faden berufsbiografischen Handelns bisher von der Interpretation unerschlossen? Welche Rolle hat die sozial tätige Mutter bei der Umorientierung zur Sozialpädagogik gespielt? Mit den bisherigen Daten wirkt Martins Handlungsschema wie eine wenig zielgerichtete Suchbewegung, denn eine objektive Notwendigkeit zur Bundeswehr zu gehen, um im Anschluss Sozialpädagogik zu studieren, besteht nicht. 41 Die Entscheidungen zur Berufswahl, als Schließung von Zukunftsoffenheit, wird in der Regel nicht ad hoc getroffen, vielmehr sind sie Endpunkte eines Prozesses längerer Reflexion. In diesem Kontext bedarf der Verzicht auf die angestrebte Offizierslauf- bahn einer adäquaten Alternative. Wird die vierjährige Militärzeit von Martin als ,verschenkte', ,vergeudete' Lebenszeit verarbeitet werden, war die extrinsische Motivation der Offizierslaufbahn mit anschließendem Studium bei einem im Vergleich zum Bafög-Studenten hohen und gesicherten finanziellen Status, einhergehend mit einer gewissen Affinität zum Militärischen, gegenüber dem Alltag der Bundeswehr zu schwach, um die gesteckten Ziele dauerhaft zu verfolgen? In jedem Falle ist im Vorfeld einer Verpflichtung bekannt, dass die Armeezeit als zentrale Strukturelemente Reglementierung, Fremdbestimmung und Disziplinierung beinhaltet. Im Sinne einer spekulativen Hypothese hat Martin diese persönlichkeitsformenden Elemente entweder angestrebt, um entsprechend seiner Meinung von sich selbst an chaotischen Persönlich- keitsanteilen zu arbeiten und so studierfähig zu werden, oder gerade diese Elemente führten, im Kontext der nach Elternhaus und Schule linear fortgesetzten heteronomen Lebenspraxis, zur Entscheidung, nach vier Jahren den Dienst zu quittieren. Zusammenfassung der Interpretation der objektiven Daten Das familiale Milieu entspricht dem eines mittelständischen Status, die biografischen Daten der Eltern weisen keine Besonderheiten auf. Dem Sohn Bildung zu ermöglichen, ist für die Familie nicht einfach, insofern ist der vorzeitige Abbruch der Militärzeit ohne Studium ein Scheitern, der familiäre Auftrag und das gesetzte Ziel, bei der Bundeswehr existentiell gesichert zu studieren, werden nicht eingelöst. Martin erlebt erstmals das Scheitern seiner Planung. Im Sinne einer angelegten Normalitätsfolie wird es für den fünfundzwanzigjährigen ein später Beginn der Berufsausbildung. Auffällig ist der Kontrast bei der Beschreibung der Eltern, die Mutter wird in einer geradlinigen Form als tüchtig charakterisiert, für die Beschreibung des Vaters wird eine Formulierung gewählt, in der eine geminderte Wertschätzung der Person mitschwingt. 42 4.1.2 Abschnitt 2, Interpretation der autobiografischen Stegreiferzählung von Martin Erzählstimulus: „M., nachdem du dein Studium an dieser Fachhochschule abgeschlossen hast, arbeitest du nun im Berufspraktikum, machst Deine Staatliche Anerkennung. Erzähl’ mir bitte von deinem Ausbildungsprozess, den du nun bald abschließen wirst. Für mich ist hierbei alles interessant, was du erzählen möchtest. Sequenz 1 Ja (...), ja (...), also ich muss dazu sagen, also ich bin, als ich damals mein Studium aufgenommen hab’, Die Aufnahme der Interaktion generiert eine Struktur für das gesamte Interview, gibt das Thema der Erzählung vor. Daher ist der Beginn einer Narration für die Interpretation von besonderer Bedeutung. Martin beginnt mit der Präambel ja, also..., im Habitus einer offiziellen Auskunft. Hiermit teilt er dem Zuhörer im Sinne Watzlawicks Kommunikationsmodells auf der Beziehungsebene seine Rahmung der Interview- situation mit, er schränkt gegenüber der im Erzählstimulus intendierten maximalen Offenheit das Interaktionsfeld ein, wie auch im Weiteren, mit der Distanz, die er auf der Ebene des Inhalts zum Studienbeginn herstellt. Am Anfang steht das Allgemeine, der Erzähler sammelt sich, zwar hat er ein gedankliches Gerüst für seine Erzählung, der Komplexität des Themas angemessene Formulierungen zu finden ist jedoch schwierig, daher wird der Faden mehrfach unterbrochen und wieder aufgenommen. „...als ich damals mein Studium aufgenommen hab’“, stellt als subjektive Sinngebung eine große Distanz zum Studienbeginn her und betont den Aspekt individueller Entwicklung seit diesem Zeitpunkt. Sequenz 2 bin ich eigentlich doch mit 'ner anderen Perspektive daran gegangen. Martin beschreibt hier eine Diskrepanz zwischen den Vorannahmen seines intentionalen Entwurfs und der Selbstevaluation zum Studienende hin. Die Perspektive und die Erwartungen waren anders, als die erlebte Studienrealität. Entsprechend der Hypothese zum vorzeitigen Ausstieg aus der Bundeswehr, dass die Vorannahmen nicht realitätsnah genug waren (objektive Daten, Sequenz, 12, Absatz 2), stehen nun auch die Vorstellungen zum Studium in keiner guten Passung zur Wirklichkeit. Daher ist wahrscheinlich, dass Martin sein Bild zur Berufsausbildung mit einem gewissen Maß an 43 Naivität entwirft. Sofern dieses Muster sich wiederholt und zur Struktur gerinnt, wäre die Hypothese einer latenten Sinnstruktur aufzustellen, „egal was ich mache, es ist immer anders, als ich es mir vorstelle.“ Zur Frage, worin die Diskrepanz zwischen dem Planungshorizont und der eigenen Evaluation zum Studienende begründet sein könnte, lässt sich die folgende Hypothese aufstellen: Die Bundeswehr bietet, zumindest teilweise, rezeptartige Handlungsleitfäden für spezifische Situationen an. Mit einer vergleichbaren Erwartung, für den jeweiligen Kontext pädagogischer Praxis passende Handlungsschemata gereicht zu bekommen, ging Martin in das Studium. Diese Erwartung entspricht den bisherigen biografischen Erfahrungen, Elternhaus, Schule und Bundeswehr als lineare Fortsetzung dieser Sozialisationsinstanzen versorgten Martin mit rezeptartigen Handlungsanweisungen. Wir wissen zunächst nicht, ob Martin sich im Weiteren mehr Theorie, mehr Praxis oder mehr Struktur gewünscht hat, in jedem Falle ist es ihm, wie schon bei der Armeeverpflichtung nicht gelungen, ein adäquates Bild zur Realität der Ausbildung zu entwerfen. Sequenz 3 ich dachte eigentlich, dass mir hier ja über- wiegend Handlungskompetenzen vermittelt werden, wobei, ich sach’ mal, natürlich der Wunsch da auch äh vorhanden war, dass einem ja, ich sach’ mal, wie in einem Kochbuch Rezepte vermittelt werden, wie man halt zum Beispiel mit mit mit gewalttätigen Jugendlichen umgeht oder ähnliche Sachen. Mit der Formulierung, „ich dachte eigentlich“, beginnt der Erzähler die Diskrepanz zwischen dem vorab entworfenen Bild zum Fachhochschulstudium und der subjektiv erlebten Studienwirklichkeit zu beschreiben. „Wobei ich sach’ mal natür- lich der Wunsch da auch äh vorhanden war, dass einem ja, ich sach’ mal wie in einem Kochbuch Rezepte vermittelt werden“: Signifikant für Martins Zukunftsmodell ist ein reproduktives Anlegen der Erfahrungen und Bedürfnisse, wie sie bisher von Schule, Elternhaus und der Armee, als Ersatz dieser beiden, bedient wurden. Diese kognitive Modell ist systemisch betrachtet geschlossen statt zukunftsoffen, Strukturen der Persönlichkeit, der Kognition und der Lebenspraxis werden reproduziert. Im Sinne einer Haltung zu den Aufgaben des Lebens entsteht eine subjektive Sicherheit, Chancen und Risiken des Neuen vermeidend, hält der Student konservierend an dem fest, was sich in der Vergangenheit bewährt hat. 44 Martins deterministisches und mechanistisches Bild des Lebens mündet zum Studienbeginn in der Erwartung von Vermittlung formallogischen Handlungs- anleitungen, analog einer bedingten Prozedurenanweisung der Informatik, wenn (Fall) X ---> dann (Handlung) Y. Für die Forschungsfrage ist die Entwicklung des pädagogischen Habitus im Studium von zentraler Bedeutung, daher wird im Folgenden zu klären sein, ob es Martin gelingt, das deterministische Modell einer fallbezogenen Anweisung abzulegen oder ob dieses, zur Struktur geronnen, handlungsleitend für seine Praxis bleibt. Das artikulierte Bedürf- nis nach einer starken Struktur war vermutlich ein wesentliches Motiv der Wahl einer Fachhochschule. Insofern dieses Bedürfnis nach Strukturvorgabe das gleiche ist, das neben dem existentieller Sicherheit zentrales Element der Motivation für die Wahl der Bundeswehr war, kam es zumindest in den vier Jahren als Zeitsoldat nicht zu einer Lösung der Strukturfixierung. Als vorläufige Hypothese gehe ich davon aus, dass Martin auf der rationalen Ebene einen Wandel der Einstellung vorgenommen hat, insgeheim jedoch seinen verlorenen Rezepten von pädagogischer - und Lebenspraxis nachtrauert. Die Vorstellung jener Rezepte sozialer Arbeit entsprechen einer leitenden Fiktion.14 Sequenz 4 So, aber das hab’ ich dann doch relativ schnell gemerkt, dass das nicht möglich ist und vor allem auch gar nicht sinnvoll ist und hab’ aber meinen Schwerpunkt im Studium trotzdem darauf gelegt, äh Arbeit mit Kindern und Jugendlichen zu machen, sprich Jugendarbeit. Im Sinne einer an den Text angelegten skeptischen Grundhaltung entsteht hier das Bild des Sozialarbeiters, der an den als Jugendlicher gemachten positiven Erfahrungen der Vereinsarbeit mit Kindern und Jugendlichen festhält, im Studium einschließlich Praktika, Diplomarbeit und Staatlicher Anerkennung das Thema Jugendarbeit wählt, um anschließend mit Kindern und Jugendlichen zu arbeiten. Allein auf dieses Praxisfeld, unter Ausklammerung des gesamten Spektrums an Möglichkeiten, die dem Fachhoch- schulabsolventen offen stehen, bleibt das eingangs artikulierte Bedürfnis, Handlungs- kompetenzen für den Einzelfall vermittelt zu bekommen, bezogen. Fraglich ist, ob der geltend gemachte Lernprozess, „so, das hab’ ich dann aber doch relativ gemerkt, dass das nicht möglich und vor allem auch 14 Hans Vaihinger unterscheidet in der „Philosophie des Als Ob“ verschiedene Arten von Fiktionen, nützliche, mathematische, wie zum Beispiel das Urmeter. Vaihingers Philosophie wurde ein wissenschaftstheoretischer Hintergrund der Individualpsychologie Alfred Adlers, in dessen Sinne Martin die leitende Fiktion einer Einführung in eine rezeptgleitete Sozialpädagogik verfolgt. 45 gar nicht sinnvoll ist“, rational-reflexives Statement im Studium als dem Einübungsfeld des pädagogischen Habitus und Handelns bleibt, wie ich vermute oder eine dauerhafte Transformation kognitiver und personaler Strukturen markiert. Ein transformatorisches Potential, wie es in den Übergangstadien zum Erwachsenen-, zum Berufsleben, bei Krisen, Lebensereigniskrisen oder auch bei Trauer frei wird, Ereig- nisse, die eine Wandlung markieren können, sind in dieser Interpretation nicht auf- findbar. Sequenz 5 kommt einfach daher, dass ich die entsprechende, ja, entsprechend vorbelastet bin, ich hab’ mit ich glaub’ zwölf Jahren angefangen Jugendarbeit zu machen, bedingt durch meinen Bruder, der in einem Fußballverein gespielt hat und hab’ dort dann ja, als Betreuer war ich erst tätig und hab’ dann so die anfallenden Tätigkeiten gemacht, wie Schuhe zubinden, Spielbericht ausfüllen, Bälle aufpumpen, beim Training mitwirken und so weiter. Die aktive Mutter, die neben Kindern und Haushalt eine ältere Dame betreut und weitere Nebenjobs ausübt, findet keine Zeit, den jüngeren Sohn zum Sport zu bringen. Daher beauftragt sie den zwölfjährigen Martin, seinen Bruder dorthin zu begleiten, ihm und den Mitspielern die Schuhe zu schnüren. Von den Betreuern des Vereins anfangs mit kleinen Hilfestellungen wie Bälle aufpumpen und Zeit nehmen eingebunden, wurde er in die Jugendarbeit des Vereins integriert. „beim Training mitwirken und so weiter“ legt den Schluss nahe, dass der Student eine gewisse Sportlichkeit mitbringt. Martin spricht nicht von der eigenen Begeisterung für Fußball, vom Interesse am Sport. Im Normalfall wäre er zunächst als aktiver Spieler in einer Jugendmannschaft und darüber zur Jugendarbeit des Vereins gekommen. Da Tätigkeiten wie Bälle aufpumpen und Schuhe schnüren nicht primär motivierend sind, stellt sich die Frage, was Martin bewegt, über mehrere Jahre aktiv im Verein mitzuwirken. Eine These ist, dass er motiviert wird von der Zugehörigkeit zur Gemeinschaft des Sportvereins, der Anerkennung, die er von der Mutter und den Trainern für seine Unterstützung erhält und der mit dieser Tätigkeit verbundenen Erfahrung des Selbstwertes. Es kommt zu einer dauerhafte Bindung an diesen Sportverein, Martin übernimmt verantwortlichere und komplexere Aufgaben. Die Intention für die Schilderung dieses Textabschnittes ist, dem Zuhörer mitzuteilen, dass er, Martin, schon seit der frühen Jugend sozial tätig ist mit Kindern und Jugendlichen und daher ein sozialer Praktiker, dessen soziales Handeln als 46 Bedürfnis und innere Natur untrennbar verwoben ist mit der eigenen Person und Biografie. Eine wenig wahrscheinliche Möglichkeit, die jedoch nicht mit Sicherheit ausgeschlossen werden kann ist, dass dem Studenten auf Grund dieser Intention das eigene Fußballspielen derart unwichtig wurde, dass es unerwähnt blieb. Sequenz 6 und bin darüber dann nachher in die Gesamt- jugendarbeit des Vereins gewechselt, ja und hab’ dann Gesamtjugendarbeit gemacht, Feste organisiert und so weiter und so weiter und weil mir das halt eben sehr viel Spaß gemacht hat während der Schulzeit, hab’ ich dann später schon den Wunsch gehabt, dort tätig zu werden. Martin hat sich über den Zeitraum vom 13. Lebensjahr bis in die Adoleszenz zum Ende der Gymnasialzeit hin in der Jugendarbeit des Vereins engagiert. In Abwägung zwischen der mit dem Besuch des Humanistischen Gymnasiums angebotenen Option der Karriere und dem Wunsch, die erfahrene Freude am sozialen Engagement - in diesem spezifischen Arbeitsfeld - zum Beruf zu machen, entscheidet er sich interessengeleitet. Die Planung des Studiums über die Bundeswehr könnte ein Versuch sein, materielle bzw. Karriereziele und das Interesse sozialer Tätigkeit miteinander zu vereinbaren. Für den Entwurf der Berufstätigkeit, als einer Säule des Lebensplans, bekommt die Erfahrung mehrjähriger Tätigkeit als Betreuer eines Fußballteams eine herausragende Stellung. Mutmaßlich war Martin ein eher durchschnittlicher Schüler, der in der Schule und im Elternhaus keine positive Verstärkung für seine Leistungen erhielt, er war weder Sportskanone, Mittelpunkt und Star einer Mannschaft, noch talentierter Musiker. In der beginnenden Pubertät markiert dann die positive soziale Erfahrung als Betreuer im Sportverein eine veränderte Selbstsicht und hebt ihn heraus über eine latente Unzu- friedenheit, etwa „das ist es, damit bin ich glücklich“. Der Fakt, dass Martin im Studium beharrlich, schon dogmatisch festhält am Ziel, mit Kindern und Jugendlichen zu arbeiten, und kein ernsthaftes Interesse an Theorien, Methoden und anderen Praxisfeldern entwickeln kann, geht eher zurück auf eine phlegmatische und ängstliche Haltung zum Studium, ängstlich im Sinne einer Strategie der Vermeidung des poten- tiellen Scheiterns an einer ihm fremden Praxis und nicht auf die uns präsentierte subjektive Sinngebung „ich hab’ mein Ding schon als 13-jähriger gefunden, ich bin Praktiker der Kinder- und Jugendarbeit.“ 47 Sequenz 7 und hatte eigentlich meine weitere Ausbildung äh daran ausgerichtet, die vier Jahre Bundeswehrzeit, die ich gemacht hab’, dienten bei mir schlicht und ergreifend dazu um auch (einfach?) (nicht eindeutig identizierbares Wort) mein Studium zu finanzieren, äh wobei die Möglichkeit ja auch bestand, aber das hat, ich sach’ mal von den Rahmenbe- dingungen, die bei der Bundeswehr da sind, mir doch einfach zu lange gedauert. Zunächst plante Martin das Studium an einer Hoch- bzw. Fachhochschule der Bundeswehr, hierbei kann die von der Bundeswehr angebotene und von Martin wahrgenommene Option, die Dienstzeit auf vier Jahre zu verkürzen, eingeschlossen sein. Die Planung der Bundeswehrzeit schließt den Aufstieg zum Offizier mit ein, Martin erlebt wahrscheinlich erstmals das Scheitern eines Entwurfs, des in die Militär- zeit integrierten Studiums. Der biografische Entwurf des Studiums über die Bundeswehr verweist auf ein starkes Bedürfnis nach Struktur und Sicherheit, einschließlich eines gehobenen und gesicherten materiellen Anspruchs. Möglicherweise wurde dieses Sicherheitsmotiv von den Eltern an Martin herangetragen. Die Bundeswehrzeit wird funktional dargestellt, der biografische Entwurf ist teleologisch angelegt, „von der deadline“ geplant. Den Widerspruch dieser funktionalen Sichtweise zu den kürzeren Alternativen löst Martin nicht auf, es macht wenig Sinn, sich für acht oder zwölf Jahre zu verpflichten, um dann Sozialarbeit mit Kindern und Jugendlichen zu machen, es sei denn, Martin hoffte bei der Armee eine Gruppe junger Menschen zu betreuen, seine Betreuertätigkeit vom Sportverein als Zeitsoldat fortzusetzen. Sequenz 8 Ja im Studium selbst (...) muss ich sagen em: Grundstudium ganz klar 'ne Orientierungseinheit gewesen, also ich sach’ mal weniger für mich, ob... da ich ja den Bereich eigentlich von vorneherein festgelegt hatte, aber man hat hat schon einen guten Einblick bekommen in andere Berufsfelder, die es in der sozialen Arbeit gibt, wobei (...)also ich meine Praktika, also wir müssen ja Kurzzeit- praktika machen und ich diese Kurzzeitpraktika auch von vorn herein in diesem Jugendbereich gemacht habe. Martin studiert ohne nach links und rechts zu blicken, mit Scheuklappen für nahezu alle theoretischen Inhalte, die er nicht unmittelbar mit seinem Ziel praktischer Jugendarbeit in Verbindung bringen kann. Seine Vorstellungen zur Praxis sind eine Mischung aus viel praktischem Werkeln, Tipps und Rezepten sowie einigen theoretischen Kenntnissen. Zur Frage, warum Martin der Vielfalt von Möglichkeiten sozialpädagogischen Handelns 48 schon im Studium ausweicht, zum Beispiel der musikalischen Erziehung, der Bildungsarbeit, den Theorien und den Methoden der Sozialforschung, kann ich hier nur einen vorläufigen Interpretationsversuch anbieten: Zum einen ist die Intention gegeben, sich selbst als eine geradlinige und zielstrebige Person und als sozialen Praktiker der Jugendarbeit zu präsentieren, zum anderen führe ich dies zurück auf die in Sequenz 5 beschriebene phlegmatisch-ängstliche Grundhaltung, unter Anwendung der in der Familie erlernten Alltagskonzepte, im Rückgriff auf die positiven und anerkannten Erfahrungen als Helfer in der Verbandsarbeit des Sportvereins, die Gefahren des potentiellen Scheiterns an einer ihm fremden und neuen Praxis zu vermeiden. An sich ist es eine legitime Zielsetzung, auf positive Erfahrungen der Jugend sein Berufsziel aufzusetzen, dies ist ja typisch für viele soziale Institutionen wie zum Beispiel die Sozialistische Jugend Deutschlands, die Falken, dass Jugendliche mit hohem Engagement und ebensolcher Identifikation die Arbeit des Verbandes leisten und dies zur Basis der Berufsbiografie wird. Nicht legitimierbar hingegen ist die Haltung der Verweigerung von Theorien, auch zur Jugendarbeit. Strukturhypothese Als Ganzes der Interpretation der objektiven Daten und der Sequenzen 1 bis 7 des narrativen Interviews mit Martin resultiert die folgende Strukturhypothese: Aus einem kleinbürgerlichen Milieu stammend ist es für Martin nicht leicht, das Abitur zu erreichen, die ökonomischen Ressourcen des Elternhauses werden ihm zur Restriktion der Studienmöglichkeiten. Die Bedürfnisse nach Sicherheit, nach einer vorgegebenen Struktur und nach Handlungsanleitung („Rezepten“) ziehen sich als roter Faden, beziehungsweise als reproduzierte Strukturen durch Schulzeit, Betreuertätigkeit im Fußballverein und die Militärzeit, um dann als Erwartungshaltung an die Fachhochschule herangetragen zu werden. Die Dichotomie zwischen Martins Vorannahmen zur Ausbildung, zur Bundeswehr und zum Fachhochschulstudium und der subjektiv erlebten Wirklichkeit wurzeln in realitätsfernen Vorstellungen und Erwartungen, der Erwartung, mit Rezepten für den konkreten Einzelfall versorgt zu werden. Die Betreuung von Kindern und Jugendlichen, vom Beginn der Pubertät bis zum Ende der Adoleszenz, wird als signifikante Erfahrung leitend für den Entwurf der Berufsbiografie. Im Sinne einer Vermeidungsstrategie gegenüber den als Verun- 49 sicherung erlebten Chancen und Risiken des Neuen hält Martin im Studium beharrlich am einmal Bewährten fest. Das einmal positiv erfahrene Feld der Kinder- und Jugendarbeit, die Anerkennung durch Trainer, Eltern und das erfahrene Selbstwertgefühl werden zum alleinigen Berufsziel, sodass Lerninhalte zu anderen Praxisfeldern, Theorien und Methoden den Stellenwert von Hürden auf dem Weg der Realisierung dieses Ziels erhalten. Von der enttäuschten Erwartung mit Rezepten für den Einzelfall und einer umfassenden und generell anwendbaren Problemlösungsstrategie versorgt zu werden, distanziert sich Martin zwar auf einer rationalen Ebene, objektiv-strukturell bleibt diese jedoch erhalten. Auch die Sinnstruktur eines deterministischen Modells linear-kausaler Problemlösungen in den Prozessen sozialpädagogischer Intervention wird reproduziert. Der studentische Habitus ist der eines auf seine praktische Neigung stolzen Handwerkers. Für Martin Lernhaltung ist charakteristisch, dass er, ausgehend von seiner praktischen Neigung und Erfahrung der Meinung ist, bis auf einige Tipps und Tricks für die Praxis bereits bestens präpariert zu sein. Die Angebote der Fachhochschule zu Theorien und Methoden werden ihm so zu Hürden auf dem Weg zum Abschluss, die Lernhaltung ist die einer formalen Bildungsaspiration. In seiner Selbstsicht ist Martin der studentische Typus eines bewährten Praktikers der sozialen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen, nach meiner Interpretation ist der pädagogische Habitus der eines Heimwerkers, mit mechanistischen Vorstellungen, wie sie vom wenig geachteten Vater beim ausgeübten Beruf des Augenoptikers zur Anwendung kommen. Zu einer Transformation der im Elternhaus erlernten Konzepte, des von der Mutter in die Familie eingeführte Helfens und der mechanistischen Sicht auf soziale Prozesse kommt es bis zur Diplomvergabe nicht. 50 Überprüfung der Strukturhypothese Sequenz 1 Also, was man auf jeden Fall an der Fachhoch- schule lernt ist, ich sach’ mal sich Informationen zu beschaffen, beziehungsweise auch ..) em, sich selbst Lösungswege zu erarbeiten.15 Auf „Also, was man auf jeden Fall an der Fachhochschule lernt“, folgt eine Selbstevaluation zurr Ausbildung an der Fachhochschule. Martin, in seiner Selbstsicht nicht nur erfahrener Sozialpraktiker, sondern auch in seinen theoretischen Kenntnissen den Kommilitonen weit voraus, bescheinigt, dass jeder zumindest die basale Fähigkeit, sich Informationen zu beschaffen erlernt. Der Aussage, „sich Informationen zu beschaffen“, als minimalem Lernerfolg, liegt das charakterisierte mechanistisch-kausale Verständnis vom Problem, der Problemlösungs- strategie, sich Informationen zu beschaffen, und der anschließenden Problemlösung zugrunde. Die Funktion des eingeschobenen „ich sach’ mal“ ist, dem Adressaten nahe zu legen, die folgende Aussage nicht auf die Goldwaage zu legen, ihre Verbindlichkeit zu relativieren und sich von der eigenen Verantwortung für den Inhalt zu entlasten. Die erzählungsimmanente Reflexion des Gesagten verdeutlicht dem Erzähler, dass „Sich Informationen beschaffen“ als Studienergebnis etwas dürftig ist und wird daher nach kurzem Nachdenken (..) um eine sozial erwünschte Antwort, um „sich selbst Lösungswege zu erarbeiten ergänzt“. Hiermit wird der Wert eigener Initiative und Anstrengung betont, als Form ist das Erarbeiten von Lösungswegen prozessorientiert. Zunächst werden auftragsgebunden und reaktiv Materialien für eine Hausarbeit etc. beschafft, um dann agierend und prozessorientiert eigene (Lösungs-) Wege zu finden. Jedoch liegt dieser Reproduktion eines Anspruchs der Fachhochschule die charakterisierte Selbstsicht, bereits über die wesentlichen Kenntnisse und Kompetenzen für die eigene Praxis, die Kinder- und Jugendarbeit zu verfügen, zugrunde. 15 die zur Überprüfung der Strukturhypothese herangezogenen Sequenzen sind dem Beginn der immanenten Nachfragen des Interviews mit Martin entnommen. Die Auswahl der beiden aufeinander folgenden Sequenzen erfolgte – ohne vorherige Interpretation- nach dem Kriterium, konkrete Aussagen zum Studium hinzu zuziehen, beziehungsweise dem Forschungsinteresse, Transformations- und Reproduktionsprozesse latenter Sinnstrukturen zu verifizieren. 51 Sequenz 2 Ich sach’ mal im Rahmen von Sitzungsbetreu- ungen und Hausarbeiten muss man sich immer auf irgend eine Art und Weise Informationen beschaffen, sei es über’s Internet(.), über Bücher, über neue Medien, aber man lernt natürlich auch den Umgang mit anderen Praxisstellen, letzt- endlich eine Problemlösungsstrategie, die man anwenden kann, wobei(.)ich sach’ mal die Kontrolle, wie man sich diese Problemlösungsstrategie aneignet,von Seiten der Fach- hochschule zu meiner Zeit noch nicht so groß war; In dieser Sequenz, wie schon in der vorhergehenden, schwingt ein „ich/man sollte gelernt haben“ mit, ohne dass Martin explizit dazu Stellung bezieht, ob er die definierten Lernziele erreicht hat, beziehungsweise ob seine Kommilitonen diese Lernziele mehrheitlich erreichen. Der Student bleibt nach dem Fachhochschulstudium mit einer Unsicherheit zurück, was er denn nun eigentlich gelernt hat. Auf der Ebene des subjektiv-latenten Sinns teilt Martin uns mit: „Eigentlich hätte ich gerne jemanden gehabt, der mir sagt, wie ich es machen soll, doch nun, ohne Kontrolle, weiß ich gar nicht, ob ich überhaupt das richtige gelernt habe.“ Er trägt das Bedürfnis nach Orientierung und Überprüfung - Messbarkeit - an die Fachhochschule heran, die Struktur des Bedürfnisses nach Struktur und Sicherheit wird reproduziert. Das charakterisierte deterministische Denkmodell liegt auch hier zugrunde, eine linear- kausale Vorstellung vom Problem über die Informationsbeschaffung zur Problemlösungsstrategie. Im Hinblick auf die in der Interpretation der zweiten Sequenz des narrativen Interviews formulierten Forschungsfrage, ob es im Verlauf des Studiums zu einer Transformation der kognitiven Strukturen eines deterministischen, familal begründeten Verständnisses von Hilfeprozessen sozialer Arbeit kommt, lässt sich nun verifizieren, dass diese Fallstruktur reproduziert wird, wie auch die des starken Bedürfnisses nach Sicherheit und einer vorgegebenen Struktur. 52 4.2 Rekonstruktion des Interviews „Claudia“ 4.2.1 Abschnitt 1, Interpretation der objektiven Daten Sequenz 1 Alter 24 Jahre Ausgehend vom Lebensalter, Claudia ist 1999 vierundzwanzigjährig, ergibt sich der folgende Ausschnitt biografischer Eckdaten: Geboren wurde sie 1975, zur Zeit der Maueröffnung 1989 war sie vierzehn Jahre alt. Sofern sie mit erworbener Fachhoch- schulreife in unmittelbarem Anschluss an einer Fachhochschule studierte, könnte sie hypothetisch ein Studium bereits als dreiundzwanzigjährige abgeschlossen haben. Wahrscheinlicher jedoch ist, dass Claudia 1993 als achtzehnjährige die allgemeine Hochschulreife erhielt, in diesem Falle bleiben bei einer zugrunde gelegten Regelstudienzeit von acht Semestern etwa eineinhalb von der Interpretation bisher nicht rekonstruierbare Jahre, möglicherweise im Anschluss an das Abitur. Diese könnten mit der Umsetzung konkreter Nahziele, wie einer Auslandsreise und den Zugangspraktika für ein pädagogisches Studium verbracht worden sein oder auch mit einer Suchbewegung zur Berufsfindung, weitergefasst unter dem Thema „wie will ich mein Leben gestalten“ gestanden haben und mit entsprechendem lebenspraktischen Experimentieren ausgefüllt gewesen sein. Spekulativ wäre eine längere Auslandsreise ebenso denkbar, wie eine berufsvorbereitende und -orientierende Maßnahme oder eine abgebrochene Lehre. Claudia könnte während des Studiums eine knapp zweijährige Babypause eingelegt oder von der Fachhochschule an die Universität gewechselt sein. Doch dies bleiben vorläufige und spekulative Hypothesen, die erst im Falle entsprechender Anhaltspunkte weiterverfolgt werden. Im Sinne einer angelegten lücken- und bruchlosen Normalbiografie wäre es für Claudia auch möglich, 1999 vierund- zwanzigjährig ein Hochschulstudium abzuschließen. Die Wiedervereinigung Deutschlands erlebte Claudia als fünfzehnjährige. Sofern sie im Osten Deutschlands geboren und aufgewachsen ist, wird dies für sie in der Phase der Adoleszenz ein wichtiges und lebensgeschichtlich bedeutsames Ereignis gewesen sein. Jugendliche aus der ehemaligen Bundesrepublik Deutschland hingegen wurden zu weiten Teilen von dieser für das Deutschland des ausgehenden zwanzigsten Jahr- hunderts zentralen gesamtgesellschaftlichen Veränderung im Vergleich wenig bewegt. Vorläufig gehe ich von der Hypothese aus, dass es sich um eine Studentin aus dem westlichen Teil Deutschlands handelt. 53 In den Jahren um 1992, zum Zeitpunkt der Adoleszenz der Ich-Erzählerin, war nach dem Scheitern eines Putsches orthodox-konservativer Kräfte das Ende des Kommu- nismus in der Sowjetunion 1991 ein weltweit zentrales Ereignis sowie mit dem Rück- tritt Gorbatschows als Präsident der UDSSR und der Gründung der Gemeinschaft Unab- hängiger Staaten (GUS) das Ende der sowjetischen Union selbst. Ebenfalls in diesen Zeitraum fällt die Teilung beziehungsweise Auflösung Jugoslawiens, im Juni 1991 der Beginn der Kampfhandlungen zwischen der jugoslawischen Bundesarmee und der slowenischen Bürgerwehr und schließlich, nach den Unabhängigkeitsstrebungen in Mazedonien, Bosnien und Herzegowina, der Beginn der schweren Kämpfe zwischen mehrheitlich muslimischen Bosniaken und Kroaten einerseits und den Serben dieser Regionen, die den Anschluss an Serbien anstrebten, auf der anderen Seite. Denkbar ist in diesem Zusammenhang eine appellative Wirkung der Kriegshandlungen auf Claudia als Bezugspunkt der Entwicklung eines weltbezogenen ethisch-moralischen Anspruchs einer weltoffenen und emotional engagierten Jugendlichen. Dies ist für unsere Inter- pretation insofern von Bedeutung, als die Wahrnehmung sozialpolitischer Gestaltungs- spielräume zur Interessensvertretung des Klientels für den Beruf des Sozialpädagogen mehr ist als nur ein Postulat und obiger biografischer Kontext in die Hypothese einer potentiell politisch interessierten und engagierten Studentin münden kann. Im Text sind hierfür bisher keine Indizien aufspürbar. Sequenz 2 Familienstand verlobt Das Verlöbnis, das wechselseitige Versprechen, miteinander die Ehe einzugehen, bedarf heute keiner besonderen Form. Der rechtlichen Status der Verlobung ist niedergelegt im Bürgerliche Gesetzbuch in den Paragraphen 1297 bis 1302. Unter Juristen ist strittig, ob die Verlobung den Status eines Vertrages hat, ein Klagerecht auf eine einmal versprochene Ehe besteht nicht. Die Verlobung wurde früher als öffentlicher und offizieller Akt vollzogen, Handschlag zwischen dem Verlobten und dem Brautvater, Ehepfand, Kranzgeld, Umarmung und Kuss besiegelten das Verlöbnis.16 War die Ver- lobung bis vor wenigen Jahrzehnten noch ein Muss, Legitimation und Voraussetzung einer Liebesbeziehung, so hat sie diesen ursprünglichen Sinn verloren. Im Kontext des als links-progressiv geltenden Milieus sozialpädagogischer Studenten ist der Status „verlobt“ fast als auffällig zu bezeichnen, das traditionelle Schema einer Familien- 16 vgl. Brockhaus Lexikon multimedial 2003 54 planung verlobt - verheiratet gilt bei vielen Paaren als überholt, allerdings erfährt die Verlobung im Zusammenhang mit Tendenzen einer werttraditionellen Rückbesinnung eine Renaissance als Statuspassage zur Ehe. Mögliche Gründe für eine Verlobung könnten ein Sicherheitsmotiv sein, eventuell verbunden mit einem Hineinreichen elterlicher Vernunft und Werte in die Lebens- planung, „verlobt euch erst einmal, solange ihr noch nicht in Lohn und Brot steht, heiraten könnt ihr dann später“. Ob neben der wertkonservative Orientierung auch eine Identifikation mit Werten der Herkunftsfamilie vorliegt, bleibt zunächst vorläufige Hypothese. Eine Interpretationsvariante zu diesem objektiven Datum war die der Verlobung als eines „ausgelaufenen Beziehungsmodells“ und „Moratoriums“, ent- sprechend der tradierten Lebensregel „drum prüfe wer sich ewig bindet“. Dem Verlöbnis ist ein Doppelcharakter zu eigen, es ist Bindungsversprechen und Bewährungsprobe zugleich. Motivation für eine Verlobung könnten heute ein Sicherheitsbedürfnis und ein eher traditioneller Planungshorizont sein, wie auch ein Amalgam aus romantischen und ökonomischen Präferenzen. Dieses Sicherheitsbedürfnis wird unter Umständen von den Eltern an Claudia herangetragen, möglicherweise wird von ihr auch ein Scheitern der Ehe antizipiert. Denkbar wäre auch ein fundamentalistisches religiöses Milieu, dass Verlobung und Ehe von seinen Mitgliedern einfordert. Sollte die vorläufige These eines religiösen Anspruchs an die eigene Lebensgestaltung sich bestätigen, wird Spiritualität ein wichtiger Aspekt der Motivation des Helfens sein. Die Verlobung und die geplante Heirat zielen auf eine Familiengründung ab, in diesem Kontext ist fraglich, welchen Stellenwert das Studium für Claudia hat, beziehungsweise welchen Entwurf sie verfolgt, diese beiden Perspektiven miteinander zu verbinden. Denkbar wäre eine geplante Teilzeittätigkeit neben Mutterschaft und Ehe, wie auch ein Studium aus einem Bildungsinteresse heraus ohne die Intention, den Beruf zum studierten Fach auch auszuüben, allerdings ist dann die Wahl des Studienfaches Sozialarbeit/Sozialpädagogik ungewöhnlich und nur im Kontext starker regionaler Bindungen nachvollziehbar. Wahrscheinlicher gegenüber dieser These ist nach meiner Auffassung die einer pragmatischen Haltung der Studentin zur Zukunft, bei der die Berufspraxis, gegebenenfalls vor dem Hintergrund eines antizipierten Scheiterns der angestrebten Ehe, eine eigene Ökonomie begründet. Mit ihrer Verlobung und dem Diplom im Lebensalter von 24 Jahren, kommt Claudia 55 gegebenenfalls früh in den Stand, zentrale Ziele ihres Lebensentwurfes verwirklicht zu sehen, ist verheiratet und als Sozialpädagogin tätig. Dies könnte zu einer Krise mit der Fragestellung führen, ob denn der Rest des Lebens nun Routine sein werde. In jedem Falle wird die Statuspassage Verlobung in einer demonstrativen Art dokumentiert, in einem identitätsverstärkenden Akt der Abgrenzung gegenüber dem links-progressiven mainstream einer sozialpädagogischer Studentenschaft. Sequenz 3 Ausbildungsstätte Fachhochschule Oldenburg/ Ostfriesland/Wilhelmshafen Die Fachhochschulen in Emden, in Wilhelmshaven und die Oldenburger FH fusionierten 2000 zur Fachhochschule Oldenburg-Ostfriesland-Wilhelmshaven. Weitere Standorte dieser zentralisierten Einrichtung sind die Seefahrtsschule in Elsfleth sowie Leer Ostfriesland, mit einem Angebot zur Koppelung von Seefahrt und Wirtschaft. Die FHOOW umfasst die Fachbereiche Architektur, Bauwesen und Geoinformationen, Ingenieurwissenschaften, Seefahrt, Sozialwesen, Technik, Wirtschaft, Wirtschafts- ingenieurwesen und Wirtschaft mit dem Studiengang Seefahrt. Somit begann Claudia ihr Studium an der Fachhochschule Ostfriesland in Emden, einer Institution mit einem Angebot von fünf Studiengängen und einer Zahl von 100 bis 150 Studenten pro Kohorte im Fachbereich Sozialwesen, schließt dies jedoch an einer für den nordwestlichen Teil Niedersachsens zentralen Einrichtung, mit einem vergleichsweise breitgefächerten Angebot an Studienmöglichkeiten ab. Hinsichtlich unserer Fragestellung heißt dies, dass für Claudia die Möglichkeit eines interessengeleiteten Studiums mit Wahlmöglichkeiten in einem großen Fächerkanon bestehen, zu diesem Zeitpunkt werden an der FHOOW neben Theorieseminaren auch Einführungen in die biografische Forschung angeboten. Zur Frage, welche Beweggründe zur Wahl des Studienstandortes Emden führten, lässt sich aufgrund der im fraglichen Zeitraum begrenzten Wahlmöglichkeiten der Aus- bildungsstätte vermuten, dass der Studienplatz an einem Standort der FHOOW möglicherweise nicht Claudias erste Wahl war und sich in ungewollt großer Entfernung zu Heimat, Freundeskreis und Partner befindet. Sofern die allgemeine Hochschulreife vorliegt, bestehen für Claudia zur Wahl zwischen Universität und Fachhochschule keine Restriktionen, die Entscheidung für eine Fachhochschule verweist auf ein unmittelbares Interesse an Praxis. Die Möglichkeit, nach dem Grundstudium an eine Universität zu wechseln, nimmt Claudia entsprechend bewusst nicht wahr, auch nicht, um auf diesem 56 Weg ihren ersten intentionalen Entwurf wieder aufzunehmen, Karriereoptionen im Anschluss an ein späteres Hochschulstudium werden nicht unmittelbar angestrebt, sind jedoch auch nicht ausgeschlossen. Im Folgenden möchte ich einige hypothetische Lesarten zu den Beweggründen für die Wahl einer Fachhochschule gegenüber einer Universität bilden. Der Fachhochschul- besuch wird, nachdem vor dem Hintergrund einer bildungsfernen Herkunftsfamilie aus einem Arbeiter- oder Bauernmilieu bereits das Abitur ein großer Schritt war, für die Studentin zu einem kontrollierten Aufstieg. Die Anschlusshypothese hierzu wäre eine bewusste Minimierung antizipierter Verhaltensunsicherheiten, wie sie mit dem Wechsel in ein akademisches Milieu einhergehen könnten. Im Anschluss an die Interpretation zur wertkonservativen Orientierung (Sequenz 2, verlobt), könnte auf eine religiöse Primärsozialisation, die Befürchtung einer Über- formung und Entwurzelung an einer Universität imaginierend, die Entscheidung für das Fachhochschulstudium folgen, zum Zweck einer teilweisen Erhaltung und Reproduktion von Identität und Person. Bei einer Vorabklärung der Differenz zwischen universitärer und Fachhochschulausbildung greift häufig jenes Deutungsmuster, dass Lehre und Theorievermittlung an einer FH konkret und berufsbezogen seien, das Studium stärker vorstrukturiert, die universitäre Lehre hingegen abstrakt sei, das Studium unübersichtlich und nur mittelbar auf eine konkrete berufliche Praxis verweise. Sequenz 4 Praxisinteresse Begleitung von Jugendlichen innerhalb des Freiwilligen Sozialen Jahres, Arbeit mit erwerbslosen Jugendlichen Dies eindeutig formulierte Interesse legt den Schluss nahe, dass Erfahrungen in diesen Feldern vorhanden sind, möglicherweise in Form von Praktika innerhalb des Studiums, wahrscheinlich hat Claudia selbst ein Freiwilliges Soziales Jahr absolviert. Dies wäre die plausibelste Erklärung für die bei einer angelegten Regelstudienzeit etwa eineinhalb- jährigen Lücke zwischen Schulbesuch und Studienbeginn (vgl. Sequenz 1), vielleicht war sie auch selbstbetroffen als arbeitslose Jugendliche. Ein Freiwilliges Soziales Jahr wird heute im Anschluss an die Schulzeit häufig gewählt, zum Probehandeln und zur Überprüfung der Passung zwischen eigener Person und Beruf, auch gerade bei sozialen, helfenden und therapeutischen Berufen. Vorläufer des FSJ sind 1954 das so genannte „Diakonische Jahr“, zu dem weibliche Jugendliche aufgerufen wurden, um den Mangel 57 an Helfern für soziale Dienste zu kompensieren sowie das „Jahr für den Nächsten“, mit dem die katholischen Bischöfe 1959 zu Vollzeiteinsätzen in pflegerischen und sozialen Einrichtungen aufforderten. Die erste gesetzliche Regelung zum FSJ trat 1964 in Kraft. Heute gilt es als Angebot für Menschen an den biografischen Übergängen zwischen Schule, Studium und Beruf im Bezugsfeld von Globalisierungsprozessen. „Wer heute jung ist, hat ein anderes Leben, eine andere Welt vor sich, als noch die Generation davor. Dieses andere Leben, diese andere Welt braucht eine andere Passung zwischen Menschen und Institutionen.“17 Die biografische Verknüpfung jener Elemente der Selbstbetroffenheit, beziehungsweise eigener Erfahrung und der Motivation zu helfen, ergibt oft eine hohe Motiviertheit sozialer Tätigkeit. Im Sinne einer skeptischen Lesartenbildung gehe ich davon aus, dass die geäußerten Interessen nicht mit einem finalen Ausschließlichkeitsanspruch vorge- tragen wurden, sondern vielmehr eine Momentaufnahme der Berufsperspektive einer Novizin sozialer Arbeit sind. Zum Zeitpunkt der Diplomarbeit, zum Studienende hin, zwei bis drei Praxisfelder für die eigene künftige Arbeit zu benennen ist nicht unge- wöhnlich, eher schon der Normalfall. Auffällig allerdings ist, dass Claudias Interesse auf das Gebiet der Jugendarbeit beschränkt bleibt. Zusammenfassung der Interpretation der objektiven Daten Die Erzählerin studiert Sozialpädagogik, 1975 geboren erlebte sie die Öffnung der Mauer in Deutschland im Alter von vierzehn Jahren. Im Zeitraum ihrer Adoleszenz finden die zentralen europäischen Umbrüche des ausgehenden Zwanzigsten Jahr- hunderts statt, die deutsche Wiedervereinigung, das Ende der UDSSR und die Gründung der GUS sowie die Kampfhandlungen in dem ehemaligen Bundesstaat Jugoslawiens. Das objektive Datum „verlobt“ verweist auf Elemente eines traditionellen Lebens- entwurfs, auf konservative und möglicherweise heteronome Werte, die eventuell zurückgehen auf ein Hineinreichen des elterlichen Wertesystems in den Lebensentwurf der Studentin. Dieses traditionell-konservative Werte- und Planungsschema, die These der Fachhochschulwahl als Entscheidung für einen kontrollierten Aufstieg sowie die fehlende Beratung der Familie zu Studienmöglichkeiten, zur Sozialpädagogik und zur 17 Detling, Winfried 2001: Die Stadt und ihre Bürger, Gütersloh, Seite 125, zit. n. Diakonische Freiwilligendienste im Spannungsfeld von gesellschaftlichem Wandel und biografischen Entwicklungen, Reihe Positionen und Konzepte aus dem Diakonischen Werk der Evangelischen Kirche in Deutschland 03/02, *.pdf Dokument, url: www.fsj-web.org 58 Umsetzung beruflicher Interessen verweisen auf eine tendenziell bildungsferne Herkunft, möglicherweise eine Zugehörigkeit zu einem Arbeiter- oder Bauernmilieu. Mit dem Verlöbnis, zugleich Bindungsversprechen und Bewährungsprüfung und dem Diplom, sind für Claudia möglicherweise zentrale Pfeiler ihres Lebensentwurfes im Alter von vierundzwanzig Jahren verwirklicht. Die Wahl einer Fachhochschule im Allgemeinen verweist auf ein unmittelbares Praxisinteresse, der Studienort Fachhoch- schule Emden im Besonderen ist möglicherweise nicht Claudias erste Wahl. Karriere- optionen wie ein Wechsel vom Grundstudium FH an die Universität werden bewusst nicht wahrgenommen, aber im Sinne einer Strategie der Nicht-Geschlossenheit von Zukunft offen gehalten. Praxis und Erfahrung sind für die Studentin hohe Werte, das berufliche Interesse, Jugendliche im FSJ zu begleiten, verweist auf eigene Erfahrung, die angestrebte Arbeit mit erwerbslosen Jugendlichen lässt auf einen gewissen Idealismus, wie auch auf eine persönliche Sinnkonstitution über den Beruf schließen. 59 4.2.2 Abschnitt II, Interpretation der autobiografischen Stegreiferzählung von Claudia Erzählstimulus: „Du schreibst zur Zeit an deiner Diplomarbeit, beschäftigst dich mit pädagogischer Professionalität. Mich interessiert besonders, wie sich deine Praxis und deine Theorie im Laufe des Studiums entwickelt haben. Hierbei interessiert mich alles, was du für wichtig hältst.“18 Sequenz 1 wie sich meine Praxis und meine Theorie ent- wickelt haben. (..) em em - am besten fang’ ich mal an, wie ich zu dem Studium gekommen bin. Zum Beginn der Erzählung ist die Wortwahl „meine Praxis und meine Theorie“ auffällig, mutmaßlich wurde die ungewöhnliche Reihenfolge aus der Eingangsfrage übernommen, möglich aber auch, dass hiermit eine Wertehierarchie von Theorie und Praxis transportiert wird, in diesem Sinn wirft die Verbindung mit dem Possessivpronomen (meine Theorie) die Frage nach der subjektiven Bedeutung jener Theorien auf, die nicht per Selektion zu Claudias eigenen geworden sind. Insofern die Praxis für Claudia bedeutsamer ist und die Theorie dieser nachgeordnet, haben wir hier eine erste und vorläufige Interpretation zum Theorie-Praxis-Verhältnis der Studentin: Theorien und Methoden sind der Praxis nachgeordnet, ohne dass hier eine Verbindung dieser beiden Säulen einer professionalisierten Praxis als grundlegendes Merkmal der Entwicklung eines pädagogischen Habitus zu erkennen wäre. Sollte diese Haltung im durch die Fachhochschule begleiteten Anerkennungsjahr bestehen bleiben, könnte dies bereits auf der formalen Ebene zu Problemen führen. Gegenüber der Erzählaufforderung, die Theorie und Praxis im Studium anspricht, eröffnet Claudia ihre Erzählung, in dem sie einführt, wann in ihrer Lebensgeschichte sie erstmals sozial tätig war, wie es zum Studium gekommen ist. Besondere Beachtung verdient die Sequenz „wie ich zu dem Studium gekommen bin“. 18 die Eingangsfrage setzt den Akzent auf die Entwicklung von Theorie und Praxis im Studium, ist insofern als Erzählaufforderung, die ein Maximum an Offenheit herstellen sollte, nicht optimal. Die Interpretation hierzu ergab unter anderem, dass die Frage in dieser Form eher überfordernd wirkt, insofern als Einstieg in die Erzählung ein ganzes Gerüst an Theoriekenntnis und Reflexion zu eigenen Erfahrungen abgefragt wird. Die Frage wurde von mir so formuliert im Kontext des Vorgesprächs zum narrativen Interview, in dem Claudia bereits in der Gesprächseröffnung von ihrer Beschäftigung mit sozialpädagogischer Professionalität für ihre Diplomarbeit erzählte sowie von verschiedenen Theorien, Methoden und Arbeitsfeldern, mit denen sie sich im Studium befasste. Die Studentin beginnt ihre Erzählung mit einem für den Aufbau ihrer Ich- Erzählung narrativ und subjektiv sinnhaften Einstieg, der biografischen Weichenstellung, „wie ist es eigentlich dazu gekommen“. 60 Entscheiden ist hierbei das Pronomen wie anstelle von warum, latent wird uns hier mitgeteilt, dass es keine eigenständige Planung war, die zur Wahl des Faches und zur Studienaufnahme führte. An diesem biografisch relevanten Übergang zwischen Schulzeit und Berufsausbildung kommt es zu einer Verwicklung, Claudia beschreitet verschlungene Pfade mit dem Resultat einer Immatrikulation im Studiengang Sozial- pädagogik. Entsprechend basiert die Wahl des Studienfaches Sozialpädagogik nicht auf einer autonomen und intentionalen Planung, die Aussage der Studentin verdeutlicht, dass andere Ereignisse, beispielsweise eine Entscheidung, die an einer sozialen Konstellation orientierte Kriterien zugrunde legt, maßgeblich an der Wahl des Studienfaches beteiligt waren. Zu diesem Zeitpunkt der Interpretation kann noch nicht eindeutig rekonstruiert werden, welche persönlichen Dispositionen, Ereignisse oder soziale Konstellationen diese Verwicklung ausmachen, denkbar wäre, dass die Nähe zum Beziehungspartner oder dem Elternhaus zum Entscheidungskriterium wurden, möglich auch, dass mangels gedachter Alternativen der Rat und Einfluss einer Verwandten, einer Freundin oder eines Familienmitgliedes zur Studienaufnahme führten. Kaum zu erwarten ist aufgrund der Wortwahl „wie ich zu dem Studium gekommen bin“ eine starke intrinsische Motiviertheit, die, gegründet auf eigene Erfahrungen als Helfende, in einem stringenten Entwurf und einem eindeutigen Berufsziel mündeten. Die wahrscheinlichste Hypothese ist m. E., dass im Rahmen einer diffusen Suchbewegung das Studium aufge- nommen wird. Sequenz 2 also der Beginn, würde ich so rechnen, wäre im Freiwilligen Sozialen Jahr, da bin ich zum ersten mal äh mit Arbeit im Sozialen Bereich in Kontakt gekommen. Die Formulierung „würde ich so rechnen“ ist Ausdruck einer gewissen Vagheit, ist interaktionell betrachtet geschlossen statt offen und unverbindlich, etwa „ja, so gesehen wäre der Beginn im Freiwilligen Sozialen Jahr.“ Inhaltlich ist der Widerspruch immanent, dass die Aussage intendiert, es gäbe auch andere biografische Ereignisse, die als Begründung ihrer sozialer Tätigkeit gelten könnten; Indizien hierfür sind im Text jedoch nicht auffindbar, faktisch fällt die Entscheidung zum Studium Sozialpädagogik im Kontext des Freiwilligen Sozialen Jahres. Durch die Erfahrungen im FSJ wird Sozialarbeit für Claudia konkret, in der Wortwahl, „da bin ich zum 61 ersten mal äh mit Arbeit im sozialen Bereich in Kontakt gekommen“, schwingt eine Bewertung zu Claudias erster sozialen Tätigkeit mit, diese hat die Intensität einer flüchtigen Begegnung. Zugleich findet eine Evaluation zur Qualität des in diesem Jahr Erlernten und Erfahrenen statt, „viel war das nicht“ lautet etwa Claudias Resümee. Diese Bewertungen basiert auf einem zentralen Thema Claudias, der Bestimmung ihres Standortes innerhalb einer Bewegung in die (Berufs-) Welt sozialer Arbeit hinein. Mit der Einführung des FSJ werden die Rahmendaten zur Biografie ergänzt, dieses schließt 1994/95 an die Schulzeit an, Claudia studiert vermutlich mit acht Semestern in der Regelstudienzeit. Sequenz 3 und das war für mich so’n Jahr der Orientierung, em nach der Schulzeit, wo ich ursprünglich vorhatte, ja mit -(...)für Kunsttherapie, Psychologie habe ich mich inter- essiert. Für Schüler der gymnasialen Oberstufe ist es nicht ungewöhnlich, im Anschluss an das Abitur ein Moratorium einzulegen. Die diffuse Bezeichnung „so’n Jahr der Orientierung“ bringt zum Ausdruck, dass es Claudia vermutlich weder begrifflich noch inhaltlich gelingt, dieses Jahr in einen für sie lebensgeschichtlich als sinnhaft erfahrenen Kontext einzuordnen. Der unvollendete Nebensatz „ja, mit...“ könnte ergänzt lauten „... Kunsttherapie und Psychologie habe ich mich beschäftigt“. Die modifizierte Formulierung, „(..) für Kunsttherapie, Psychologie habe ich mich interessiert“, relativiert den Grad der Auseinandersetzung mit Studiengang und Berufsziel. Das Interesse bleibt abstrakt und vage, mündet nicht in einer konkreten Auseinandersetzung mit Studienmöglichkeiten und Studienbedingungen, Fachkultur, beruflichen Feldern und Anforderungen. Claudias Interesse ist nicht auf ein intrinsisch motiviertes tiefergehendes Interesse gegründet, eine motivationsverstärkende positive Praxiserfahrung fehlt ihr.19 Wie anhand der Formulierung „ursprünglich...habe ich mich interessiert“ zu vermuten ist und wie wir aus den objektiven Daten wissen, wurde auf der Basis dieses ersten Interesses kein Studium realisiert, der erste Entwurf wurde nicht umgesetzt, die Studentin schließt zur Zeit der Interviewerhebung mit ihrer Diplomarbeit ein Fachhochschulstudium Sozialpädagogik ab. 19 vgl. Sequenz 1 62 Sequenz 4 und em, dann wurde ich durch Informationen vom vom Berufsberater so verwirrt und abgebracht von dem Ur- sprünglichen, Das erste Berufsziel liegt in der Sphäre des Heilens, im Fokus des Therapeutischen, somit hat die Studentin mit der künftigen Praxis sozialer Arbeit, dem Helfen als Beruf, etwa die Richtung ihrer Zielsetzung verwirklicht. Verwirrung durch den Berufsberater kann bei diffusen und realitätsfernen Vorannahmen entstanden sein durch Informationen über Zugangsvoraussetzungen für ein Psychologiestudium (numerus clausus) und für das Fachhochschulstudium Kunsttherapie entsprechend das Einreichen einer Mappe mit Arbeitsproben20 oder auch auf Grund realistischer Prognosen des Berufsberaters zu den konkreten beruflichen Möglichkeiten, als Kunsttherapeutin zu praktizieren. Die zukünftige Studentin ging weitestgehend orientierungslos in das Gespräch mit dem Berufsberater, ohne ein differenziertes Bild zu den fachlichen Unterschieden zwischen Pädagogik und Psychologie, Universitäts- und Fachhochschulstudium. Die vorläufige Hypothese einer Bildungsferne des Elternhauses, beziehungsweise einer möglichen Zugehörigkeit zum Arbeiter- und Bauernmilieu aus Sequenz 3 der Interpretation der objektiven Daten wird insofern weiter gestützt, als im vorliegenden Fall von den Eltern weder zu den Studieninteressen eines Kunsttherapie- beziehungsweise Psychologie- studiums beraten wurde, noch konnten der angehenden Studentin Tipps für das Gespräch mit dem Berufsberater mitgegeben werden oder der Inhalt des Beratungs- gesprächs relativiert und in einen Kontext gestellt werden, der Claudia ermutigt, ihre Ziele zu verwirklichen. Möglich ist, dass der Berater ihre Sachkompetenz entsprechend einstufte und ihr sinngemäß riet, „Machen Sie erst einmal das Freiwillige Soziale Jahr, da können Sie sich einen Einblick in pädagogisches und psychologisches Arbeiten verschaffen, prüfen Sie, ob Ihnen das liegt, und im Studium können Sie dieses Jahr als Praktikum anerkennen lassen.“ Claudias vage Vorstellungen zum Studium und den beruflichen Zielen halten dem informativen Gespräch mit dem Berufsberater nicht stand. Zu den Fragestellungen, die sich im Normalfall an ein erstes Interesse zur Studienwahl anschließen - wie sind die Inhalte des Studiums, wie ist die Praxis, was bedeutet das für mich - ist Claudia nicht mehr gekommen. Es bedarf einiger Unklarheit in sich selbst und wie im vorliegenden 20 exemplarisch: Für die Immatrikulation an der Fachhochschule für Kunsttherapie in Ottersberg ist neben der Fachhochschulreife das Einreichen einer Mappe mit zwanzig Werken erforderlich. 63 Fall des rein gefühlsbasierten Interesses ohne eine vertiefte Auseinandersetzung mit dem Thema, um sich durch ein rein informatives Gespräch vom Berufsberater verwirren und von den ursprünglichen Zielen abbringen zu lassen. Vermutlich erstreckt sich Claudias Verwirrung nicht nur auf dieses Bereich, so dass für die weiteren Schritte ihres Lebensweges, auch gerade für eine soziale Tätigkeit, einiges an Unklarheit bezüglich lebenspraktischer Entscheidungs- und Herangehensweise von ihr zu bearbeiten ist, besonders hinsichtlich eines rationaleren Umgangs bei der Gestaltung biografischer Optionen und vermutlich auch zu anderen zentralen Bereichen von Lebens- und Arbeitspraxis. Seuquenz 5 dass ich dann gesagt habe, ich lege ein Frei- williges Soziales Jahr ein und em, in dem Jahr hab’ ich dann das Gefühl gekriegt, ich würde gerne in dem Bereich weiter arbeiten, also im sozialen Bereich, Die Option des FSJ wird wahrgenommen als Entscheidung für ein soziales Probehandeln. Die Entscheidung zur sozialen Tätigkeit ist nicht auf eine Reflexion der Erfahrungen im FSJ gegründet, sie bezieht auch nicht einen Dialog mit Praxisanleitern mit ein, sondern das Gefühl wird zum alleinigen Entscheidungskriterium. Wie wir aus den objektiven Daten wissen, hat sich Claudia an der Fachhochschule Oldenburg- Ostfriesland-Wilhelmshaven im Studiengang Sozialarbeit/Sozialpädagogik eingeschrie- ben. Somit wechselt sie nur vom Fokus des Therapeutischen, des Heilens, zu dem des Helfens. Pädagogik umfasst neben Erziehung die Säulen Heilen, Helfen und Bilden, Begriffs- prägungen der Pädagogik mit der Präfix „heil“ finden sich bei Comenius (remedium), bei Locke (to cure, to remedy) in den Gedanken über „Erziehung“(1693), bei Rousseau in der Form (remèdieur) in „Emilè“ (1762). Locke gebraucht Heilung im Sinne eines Zurückfindens auf den richtigen Weg (a right course), ebenso Rousseau, demzufolge fehlerhaftes Verhalten des Kindes ausschließlich die Folge einer falschen Erziehung ist. „Helfen“ geht etymologisch auf das althochdeutsche helphan und das gotische hilpan zurück, ist vermutlich entstanden aus einer Labialerweiterung der indogermanischen Wurzel *kel- (dazu beitragen zu ) verbergen. Im kulturellen Kanon des Okzidents ist die biblische Geschichte des barmherzigen Samariters (Lukas 10, 29-35) ein archetypisches Sinnbild des Helfers. Im 12. und 13. Jahrhundert galt Armut und Bedürftigkeit als Folge von Schicksalsschlägen, die jeden treffen konnten, entsprechend wurde den Armen ein 64 Grundrecht zu Betteln zuerkannt und Hilfe für Bedürftige geleistet, durch das christlich motivierte Almosenwesen und die karitative Unterstützung durch Grundherrn, Klöster, Zünfte, Hospize und Spitäler. Im 14. Jahrhundert entstanden die ersten Bettel- ordnungen; das nun vom Ratsherrn vergebene Bettelzeichen entsprach einer ersten Bedürftigkeitsprüfung. Mit dem Wandel der Einstellung zur Armut, die nun als selbstverschuldet galt, der Disziplinierung durch Arbeits- und Zuchthäuser, entstanden sozialreformerische Bewegungen in Europa und Amerika wie die Settlementbewegung, mit dem leitenden Prinzip zu erziehen und zu bilden, statt zu disziplinieren. Claudia entscheidet sich bei der Wahlmöglichkeit zwischen Universität und Fachhoch- schule für letztere. Zu dieser Entscheidung kann im Sinne einer Normalitäts- unterstellung nicht vorausgesetzt werden, dass eine angehende Studentin detaillierte Kenntnisse zur Differenz der beiden Fächer in ihre Wahl einbezieht, jedoch präsupponiert werden kann eine Informiertheit über grundlegende Unterschiede zwischen Fachhochschul- und Universitätsstudium. Im Zuge der Reformen der Studienzugangsvoraussetzungen mit der Intention, Quereinsteigern den Zugang zu akademischen Karrieren zu erleichtern, ist ein Wechsel von der Fachhochschule an die Universität mit Vordiplom ins Hauptstudium möglich, gegen Ende der neunziger Jahre wurde für Fachhochschulabsolventen in Niedersachsen der direkte Zugang zum Promotionsstudium ermöglicht. Im Grundstudium informieren sich Studenten im Normalfall über diese Möglichkeiten, faktische Konsequenzen der Wahl in diesem Fall allerdings sind, dass primäre Karriereoptionen erschwert sind, intentional ist es möglicherweise eine Entscheidung für ein Probehandeln vor dem Hintergrund, sich ein Universitätsstudium oder eine spätere Ausbildung zur Kunsttherapeutin offen zu halten. Die folgende reproduzierte latente Sinnstruktur zeichnet sich ab: Auf ein gefühls- basiertes Interesse für Psychologie und Kunsttherapie folgt die rationale Information des Berufsberaters, es entsteht Verwirrung und eine neue gefühlsbasierte Sicht („in dem Jahr hab’ ich dann das Gefühl gekriegt, ich würde gerne in dem Bereich weiter arbeiten“). Hierauf erfolgt höchstwahrscheinlich erneut eine rationale Information von den Lehrenden der FHOOW, zumindest der Anspruch einer gewissen Rationalität, Informiertheit und eines Theorieinteresses. Sofern dieser Anspruch von der Studentin eingelöst wird, besteht die Möglichkeit, dass obige latente Sinnstruktur transformiert wird, Indizien hierfür allerdings sind innertextlich bisher nicht 65 auffindbar. Sequenz 6 es war damals eine Tagesstätte für em verwirrte S en ioren und für mehrfachbehinderte erwachsene Menschen, ja äh, da hab’ ich das Gefühl gekriegt, ich kann mit Menschen arbeiten, ich möchte mit Menschen arbeiten, ich möchte in dem Bereich arbeiten, Wenig zieldienlich ist die Wahl der Tagesstätte für verwirrte Senioren, die Tätigkeiten einer Praktikantin sind wahrscheinlich begrenzt auf Hilfe beim Essen, bei den Freizeitangeboten und ähnliches, dass von den Pädagogen und Psychologen dieser Einrichtung eine Einführung beispielsweise in diagnostische Verfahren und geronto- logisches Grundwissen geleistet wird, ist wenig wahrscheinlich. Das Spektrum von Möglichkeiten, sich in helfenden Kontexten zu erfahren, ist hier eng gefasst. Die dreifache sinngemäße Wiederholung und Steigerung „ich kann mit Menschen arbeiten, ich möchte mit Menschen arbeiten, ich möchte in dem Bereich arbeiten“ ist keinesfalls redundant, ihr kommt eine Funktion auf zwei Ebenen zu, auf der Ebene der Intersubjektivität ist es die einer Selbstpräsentation als Studentin, die geradlinig und zielorientiert ihren Weg macht, auf der selbstbezüglichen Ebene dient die Wiederholung als Bekräftigung des eigenen Entwurf, beschwichtigt und räumt etwaige Zweifel zur Berufswahl aus. Insofern ist es ein selbstsuggestives Element, gegenüber einer Skepsis, die durchaus ihre Berechtigung haben kann und möglicherweise durch eine zukünftige Praxis aktualisiert wird. Auffällig ist, dass neben der Entscheidung zur Sozialarbeit auch das einzige bisher erfahrene Arbeitsfeld für die künftige Berufspraxis gewählt wird („...ich möchte in dem Bereich arbeiten“). Auch hier wird das Gefühl zur eigenen Erfahrung und Beobachtung zum Entscheidungskriterium, das Bild zur Sozialpädagogik bleibt zunächst vage und unklar; Claudia hält fest an dem, was sie hat, Einblicke in den Alltag einer Tagesstätte für verwirrte Senioren sowie die gefühls- basierte Vorstellung, eben diese Tätigkeit zur künftigen Berufspraxis zu machen. Das vermutlich bildungsferne Milieu der Herkunftsfamilie wirkt sich hier zum Nachteil der Studentin aus, ein Verwandter mit Kenntnissen pädagogischer Berufe hätte Claudia beraten können zu Arbeitsmöglichkeiten entsprechend ihren Neigungen und Interessen und auch die schon existentielle Frage „was ist nun Sozialarbeit“ wäre von Claudia vermutlich nicht in dieser Form als Suche nach einem Fundamentalsystem für ihre zukünftige Praxis gestellt worden. 66 Sequenz 7 aber ich hab’ dann im Laufe meines Grund- studiums dann gemerkt, dass sich mir eine Bandbreite von A rb eitsfeldern eröffnet und hab’ dann mich mich mich um- orientiert, em zum - ja grundsätzlich erst’ mal mehr Offen- heit, Das im FSJ entstandene Bild zur Sozialarbeit war eng, schon eindimensional, es blieb allein auf die erlebte Tätigkeit mit Geistig- und Mehrfachbehinderten Erwachsenen und verwirrten Senioren bezogen. Die im Vergleich zu den vorherigen Entscheidungs- parametern eher rationale Erkenntnis, dass es eine Fülle anderer Arbeitsmöglichkeiten für Sozialpädagogen gibt, könnte eine emotional befreiende Wirkung haben, sie führt zu einem Einstellungswechsel gegenüber dem nun erkannten Spektrum von Möglichkeiten. Claudia präsentiert sich als ein nun offenerer Mensch, Offenheit in Bezug auf künftige Optionen zeichnet sich als ein zentrales Motiv ihres Planungsschemas ab, als spekulative Hypothese könnte diese angestrebte Nichtgeschlossenheit von Zukunft Ausdruck einer personal nicht geschlossenen Gestalt im Sinne Fritz Perls sein. Eine gewisse Lernoffenheit entsteht, ein noch näher zu bestimmender Bildungsprozess formiert sich um zwei zentralen Themen, ein Lerninteresse gegenüber der Fragestellung potentieller Arbeitsfelder, m. E. verbunden mit der Frage nach dem jeweils angemessenen sozial- pädagogischen Wissen und Handeln sowie die umfassende Frage „Was ist Sozialarbeit“ bzw. „Was bedeutet Sozialarbeit für mich?“ Dem Orientierungsverlauf von der Studentin mit Scheuklappen, die mit verwirrten Senioren arbeiten will, zur Wahrnehmung anderer Arbeitsoptionen liegt m. E zugrunde, dass Claudia zunächst nicht genau weiß, was sie will. Ihre Idee, Kunsttherapeutin oder Psychologin zu werden bleibt vage, vom Beratungsgespräch verwirrt, entschließt sie sich zum FSJ. Zur Vermeidung weiterer Verwirrung begrenzt sie künstlich ihre Möglichkeiten, sie legt sich fest auf die Arbeit mit verwirrten Senioren, nachdem sie erfahren hat, dass sie mit dieser Arbeit zurecht kommt. Im Grundstudium gelingt der Schritt, auch andere Optionen wahrzunehmen und sich diesen gegenüber zu öffnen, ohne hierdurch in Diffusität oder Verwirrung abzugleiten, es gelingt auch, einen der Ansprüche an eine Studentin der Sozialpädagogik, den, sich mit der Komplexität der Praxis dieses Faches auseinander zusetzen, einzulösen. Sequenz 8 Ja, jetzt bin ich eigentlich schon bei meinem Grundstudium äh, da hab' ich erstmal im ersten Semester sehr viel Orientierung gesucht, da war ich in Veranstal- 67 tungen von systemischer Beratung zum Beispiel, da hatte ich das Gefühl, ich werde zum Familientherapeuten ausgebildet, beziehungsweise eben nicht ausgebildet, sondern ich müsste äh noch eine ein – mich weiterqualifizieren und würde nur so 'ne Grundausbildung erhalten für in meinem Sozial- arbeit/Sozialpädagogik Studium... Überrascht von der Eigendynamik ihrer Erzählung schließt Claudia eine Selbst- evaluation zum Studienbeginn an. Latent trägt sie ein Bedürfnis an ihre Fachhochschule heran, sie erwartet berufsorientierende Veranstaltungen, Hilfe zur Klärung der späteren Praxisanforderungen, eine Explikation des sozialpädagogischen Habitus. Die didak- tischen Zielsetzungen der Veranstaltung zur systemischen Familientherapie, wie die, eine Deutungskompetenz für die Familienhilfe zu bilden, bleibt von der Studentin uner- schlossen. Als exemplarisch für eine - im vorliegenden Fall verfehlte - intrinsische Motiviertheit kann das folgende Postulat einer Haltung zur Wissenschaft gelten, das Walter Benjamin in seiner Schrift „Das Leben der Studenten“ erhebt. „Das studentische Leben an der Idee der Wissenschaft zu messen, bedeutet keineswegs Panlogismus, Intellektualismus -wie man zu fürchten geneigt ist-, sondern das ist rechtskräftige Kritik, da zuallermeist die Wissenschaft als der eherne Wall der Studenten gegenüber „fremde“ Ansprüche aufgeführt wird. Also, es handelt sich um eine innere Einheit, nicht um Kritik von außen. Hier ist die Antwort gegeben mit dem Hinweis, dass für die allermeisten Studenten die Wissenschaft Berufsschule ist. Weil „Wissenschaft mit dem Leben nichts zu tun hat“, darum muss sie ausschließlich das Leben dessen gestalten, der ihr folgt. Zu den unschuldig verlorenen Reservaten von ihr gehört die Erwartung, sie müsse X und Y zum Beruf verhelfen. Der Beruf folgt so wenig aus der Wissenschaft, dass sie ihn sogar ausschließen kann (Benjamin, 1977, S. 10).“ Claudias Bedürfnis verweist, wie von Walter Benjamin in obigem Zitat ausgeführt, auf eine Sicht zum Studium und zur Theorie als einer Berufsschule. Bei einer Berufsausbildung wie der zum Physiotherapeuten oder zum Elektroniker werden die Komplexität des Berufsbildes und die Anforderungen beruflicher Felder innerhalb einer mit dem Grundstudium vergleichbaren Zeit geklärt, die Schüler werden mit Tipps für die Praxis versehen, dies entspricht etwa Claudias Erwartung an eine Einführung in die Fachkultur der Sozialpädagogik. Das Bedürfnis geht einher mit der gefühlsbasierten Stellungnahme zur eigenen Lebenspraxis und dem Sicherheitsbedürfnis, denn ihr Anspruch an die Fachhochschule soll zum Gelingen von Studium und Berufspraxis 68 beitragen. Ihrer so charakterisierten Suche nach Orientierung liegt das Motiv zugrunde, sich zunächst eine Sicherheit im gewählten Feld zu erarbeiten, die Diffusität und einhergehende Unsicherheit gegenüber der Sozialpädagogik durch systematische Kennt- nisse der zentralen Inhalte und Regeln von Studium und Praxis abzuarbeiten. Im Kontext der Fragen, die Claudia im Studium klären möchte21, wird das Angebot einer systemischen Sichtweise und der Systemtheorie nach utilitaristischen Gesichtspunkten und dem Kriterium einer unmittelbar praktischen Umsetzbarkeit als wenig hilfreich empfunden. Die Motivation gegenüber dem Angebot sich therapeutische Kenntnisse zu erwerben bleibt formal, Claudia, die zunächst Psychologie studieren wollte, entwickelt kein intrinsisches Interesse, vielmehr wird therapeutische Arbeit den Psychologen zuge- schlagen und der therapeutische Fokus der Pädagogik bleibt unentdeckt. Allerdings schwingt hier auch eine emotionale Stellungnahme mit wie, „entweder ich werde ganz Therapeutin, oder gar nicht.“ Sequenz 9 und das hat mich nicht zufrieden gestellt und das hat mich äh ja, das hat dazu geführt, dass ich mich im zweiten Semester dann auf 'ne Veranstaltung von (anonymisiert) äh, Sozialarbeitswissenschaft gestürzt habe, so das Bedürf- nis, was soll eigentlich Sozialarbeit/Sozialpädagogik be- deuten. Im Studienprozess tritt das Bedürfnis nach einem übergeordneten Verständnis des Faches auf, wird vergeblich an die Veranstaltungen herangetragen und in der Folge entsteht Unzufriedenheit, Frustration. Der erste Satz dieser Sequenz „und das hat mich nicht zufrieden gestellt und das hat mich äh ja,“ könnte ergänzt lauten „und das hat mich frustriert“ (wütend gemacht, verärgert). Die Motivation, die zur Wahl der Veranstaltung zur Sozialarbeitswissenschaft führt, ist ein Klärungsversuch entsprechend ihrer Frustration und ihrem Interesse einer Verbindung von Person und Fach. Das Interesse einer Klärung der Bedeutung von Sozialpädagogik im zweiten Studiensemester im Allgemeinen wäre an sich angemessen und würde auf eine motivierte Studentin verweisen. Im vorliegenden Fall jedoch spitzt sich im zweiten Semester eine bereits vorher angelegte Krise der Studentin (vgl. Sequenz 4, objektive Daten) zur Entscheidungskrise zu. Das von Claudia als „was soll eigentlich Sozialarbeit/Sozialpädagogik bedeuten“ ausformulierte Hauptthema meint latent, auf der Ebene des Selbstbezugs, was bedeutet mein zukünftiger Beruf für 21 vgl. Sequenz 7 69 mich? Für den notwendigen Klärungsprozess wäre ein Besuch der Studienberatung angemessen, doch Claudia möchte diesen über eine Veranstaltung zur Sozialarbeits- wissenschaft herbeiführen. Diese bietet mit sozialwissenschaftlicher Metatheorie zur Sozialpädagogik die Möglichkeit eines Blicks durchs Schlüsselloch auf die eigene Praxis, bietet selbstbezügliches Wissen an. Das Interesse einer Klärung der Bedeutung von Sozialpädagogik im zweiten Studiensemester ist angemessen und verweist auf eine motivierte Studentin. Nicht angemessen wäre im zweiten Studiensemesters die Erwartung, über den Besuch einiger Seminare eine umfassende Übersicht über die vielfältigen Themen, Felder, Theorien und Methoden der Sozialpädagogik zu erhalten. Mutmaßlich wird nach dem erfolglosen Klärungsversuch in anderen Veranstaltungen, wie der systemischen Familienberatung, auch die Einführung in die Sozialarbeitwissenschaft nicht hinreichend zum gewünsch- ten Verständnis beitragen. Nach meiner Interpretation ist Claudias Suche gerichtet auf ihr Verständnis eines sozialpädagogischen Habitus, als eines, wie in Sequenz 6 rekonstruiert, zugleich schnell erlernbaren und leicht überschaubaren Fundamental- systems und Handwerkszeugs, wobei in einem utilitaristischen Sinne, das Gefühl zur eigenen künftigen Praxis zum Auswahlkriterium für das Interesse am Studienangebot wird. Das transformatorische Potential dieser Krise kann Claudia nicht entfalten, die Grundhaltung bleibt weitgehend unverändert. Tendenziell sind Selbstpräsentation und Selbstsicht der Studentin durch ein gewisses Überfliegertum gekennzeichnet, doch hier greift sie zu hoch. Sie beschäftigt sich zu einem Zeitpunkt mit Sozialarbeitswissen- schaft, zu dem ein Besuch der Studienberatung angemessen wäre, sie möchte im zweiten Studiensemester, nach dem Besuch einer Veranstaltung zur Familientherapie bereits zur Therapeutin ausgebildet sein, die Einführung in die Fachkultur, in die Weite und Komplexität des Faches gilt ihr als unsolide. Ihr Professionsbild ist das einer hochspezialisierten Expertin, das sie im Sinne eines falsch verstandenen Überflieger- tums bereits vom Studienbeginn an verfolgt. Insofern reproduziert sich dieses Strukturelement, wie auch die beiden anderen zentralen latenten Sinnstrukturen. Das überwertige Sicherheitsbedürfnis und die fast aus- schließlich gefühlsbasiert geführte Auseinandersetzung mit zentralen Lebensfragen, in diesem Falle dem Studium, gehen mit ein in das Ensemble, das Claudia zu ihrer Suche bzw. Fragestellung motiviert. 70 Strukturhypothese Auf das gefühlsbasierte Interesse für Psychologie und Kunsttherapie folgt die rationale Information des Berufsberaters, es entsteht Verwirrung und eine neue gefühlsbasierte Sicht („...da hab’ ich das Gefühl gekriegt, ich kann mit Menschen arbeiten,...“). Hierauf erfolgen neue rationale Informationen von den Lehrenden der FHOOW, der Anspruch einer gewissen Rationalität, von Informiertheit und eines Theorieinteresses. Die Struktur gefühlsbasierter Entschei- dungen (auch) zur eigenen Lebenspraxis wird reproduziert, Entscheidungen nach Gefühlskriterien werden zur paradigmatischen Strategie für die Selbstorganisation der Studentin. Strukturlogisch verbindet sich die personal nicht geschlossene Gestalt mit dem Studium als einem Moratorium, dem Sicherheitsbedürfnis als Motiv, wie am Beispiel der Verlobung, mit dem Bestreben, sich Optionen wie kunsttherapeutisches Arbeiten und ein Psychologiestudium offen zu halten. Das Streben nach Sicherheit wird in dieser Arbeit als eine anthropologische Grundkonstante aufgefasst. Ein interpretativ expliziertes Sicherheitsbedürfnis meint hier immer ein überwertiges Sicherheitsbe- dürfnis gegenüber den Unsicherheiten und Risiken, die objektiver Bestandteil unseres Lebens in seiner soziokulturellen, historischen und ökonomischen Bedingtheit sind. Aus dem Praxisinteresse an den verschiedenen sozialarbeiterischen Feldern heraus entsteht ein Bildungsprozess, die Studentin entwickelt Fragestellungen, die sie in der Auseinandersetzung mit pädagogischen Theorien lösen möchte. In einem fundamenta- listischen Sinne spürt sie der Frage der Charakteristika der Profession nach, mit ihrem leitenden Thema, „was ist nun Sozialarbeit“, sucht sie latent nach einem Fundamental- system pädagogischen Handelns sowie nach den theoretischen und praktischen Anforderungen einzelner Arbeitsgebiete. Hinsichtlich der Bildung eines pädagogischen Habitus im Studium lassen sich die folgenden Aussagen treffen: Eine rationale Deutungskompetenz wird nicht heraus- gebildet, am Beispiel der Entscheidungen zum eigenen Lebensplan wird deutlich, dass das Gefühl dominantes, wenn nicht ausschließliches Kriterium bleibt. Bis in die Abschlussphase des Studiums hinein bleibt die Frage „was ist denn nun eigentlich Sozialarbeit - und was bedeutet das für mich?“ für Claudia ein zentrales Thema. Bei einem Fachhochschulstudium müssten diese beiden Aspekte beim Studienabschluss 71 weitestgehend geklärt sein, zur Beantwortung der Fragestellung „was ist nun Sozialarbeit?“ bieten die Veranstaltungen des Grundstudiums mit Vorlesungen zur Geschichte der Sozialarbeit, der Lehre praxisnaher Methoden in verschiedenen Arbeitsfeldern sowie Theorie und Methodenseminaren ausreichend Informationsmög- lichkeiten. Zum Verhältnis von Transformation und Reproduktion von Fallstrukturen schreibt Oevermann, dass Transformationen der übergreifende Fall sind und Reproduktionen der Grenzfall, diese allerdings im Sinne einer routinisierten Praxis empirisch häufiger anzutreffen sind.22 „Strukturen, die sich reproduzieren, sind in der Wissenschaft von der sinnstrukturierten - und das heißt auch: historischen - Welt in der Regel das Ergebnis von Bildungs- prozessen, die in sich wiederum der Prototyp von Strukturtransformationen sind (Oevermann 2000, S. 73).“ Zentrale Elemente der Struktur wie das Sicherheitsbedürfnis und die gefühlsbasierte Stellungnahmen werden reproduziert, die Motivation, sich mit Theorie zu beschäftigen entspricht der von Walter Benjamin in obigem Zitat beschriebenen studentischen Sicht vom Studium als einer Berufsschule, so bleibt die Auseinandersetzung mit Theorien bezogen auf Claudias utilitaristische Fragestellungen und ihre Rahmung einer unmittel- bar praktischen Verwertung. Hier kommt jenes Professionsbild einer hochspezialisierten Expertin zum Tragen, jener teleologische Anspruch der Studentin, im zweiten Semester, wenn eine Wissensbasis zur Weite des Feldes sozialpädagogischer Praxen gelegt werden soll, bereits Therapeutin sein zu wollen sowie jener einer Klärung ihrer individuellen Verbindung von Person und Sozialpädagogik durch die Lehrenden. Das transformatorische Potential einer latenten Krise, die im zweiten Semester als Entscheidungskrise manifest wird, bleibt ungenutzt, da nicht-adäquate Strategien, wie Sozialarbeitswissenschaft statt Studienberatung, an die Krise angelegt werden. Die hier rekonstruierte Reproduktion zentraler Einzelfallstrukturen verdient besondere Beach- tung, insofern bei allen hier vorliegenden Einzelfällen mit der Studienzeit jener biografische Ausschnitt untersucht wird, bei dem die Vorannahme von Transforma- tionen innerhalb des Ensembles interpretatorisch erschlossener Strukturen, als Manifestationen eines Bildungsprozesses innerhalb eines Moratoriums und der 22 vgl. Oevermann 2000, S.73 72 Rahmung einer Möglichkeit zum Probehandeln, legitim ist. Überprüfung der Strukturhypothese: Sequenz 1023 und ich wollte nicht zu 'ner Minijuristin ausgebildet werden oder ah ja, zu ‘ner Therapeutin, die eigentlich keine ist und da hab' ich dann angefangen mich mit Theorien und Aussagen zum Thema Sozialarbeitswissen- schaft zu beschäftigen. „Nun habe ich mich entschlossen Sozialpädagogin zu werden und diese Professoren wollen eine Minijuristin aus mir machen“ - dies etwa könnten Claudias Gedanken in ihrem ersten Studienabschnitt gewesen sein. Das rekonstruierte Professionsbild der spezialisierten Expertin bleibt gegenüber dem Angebot einer Einführung in die Komplexität des Faches bestehen. Im Zuge der Entscheidungskrise kommt es, aufgrund der rekonstruierten Struktur unangemessen angelegter Strategien, nicht zu einem transformatorischen Prozess. Zentrales Thema der Sozialpädagogik ist für die Studentin, im Sinne der rekonstruierten Sicht als einer Schule des Berufs, die Frage der künftigen eigenen Praxis- „was ist da zu tun?“ Allerdings ist die überwiegend gefühlsbasierte Sicht der sozialen Praxis nicht realitätsangemessen, denn Arbeitsfelder, in denen dem therapeutischen und dem rechtlichen Fokus sozialer Praxis keine Relevanz zukommt, bleiben die Ausnahme. Insofern gelingt es Claudia nicht, mit ihrer Auswahl der Studieninhalte die Zielsetzung einer geradlinigen Berufsvorbereitung zu verwirklichen. Die Suche nach den zentralen Inhalten der Sozialpädagogik wird zugleich Orientierung für die künftige Praxis, die Haltung einer Ablehnung aller Inhalte, die sich nicht unmittelbar als genuin sozialpädagogisch erschließen lassen, wie die rechtlichen und therapeutischen Aspekte, könnte genährt werden durch eine Veranstaltung zur Sozial- arbeitswissenschaft, die Thesen zur Professionalisierung wie die einer eigenständigen pädagogischen Wissenschaft ohne einen Rückgriff auf soziologische Methoden postuliert und eine Einsozialisation in die Praxis, die therapeutische Aspekte aus- klammert und ausschließlich an entsprechende Fachdienste delegiert. So bleibt fraglich, ob Claudia in ihrer künftigen Praxis bereit ist, sich auf das Erlernen der gesetzlichen Grundlagen ihrer Beratung, Förderung, Hilfe im Einzelfall usf. einzulassen. Die Grundhaltung zur Sozialpädagogik bleibt gefühlsbasiert, die teleologische Lernhaltung und das Professionsbild der hochspezialisierten Expertin stehen einer Lernoffenheit 23 die zur Überprüfung der Strukturhypothese verwandte Sequenz schließt unmittelbar an Sequenz 9 an 73 gegenüber der Komplexität des Faches im Wege, und mit dem Gefühl als Selektions- bzw. Reduktionskriterium bleiben wesentliche Foki wie der therapeutische und die zur effektiven Beratung erforderliche Rechtskompetenz ausgeklammert. Insgesamt ist für Claudia mit den beschriebenen Strategien und Kompetenzen die Möglichkeit eines Scheiterns an der Berufseinmündung angelegt. 74 4.3 Rekonstruktion des Interviews „Michaela“ 4.3.1 Abschnitt 1, Interpretation der objektiven Daten24 Sequenz 1 Michaela Meyer, geboren am 22.04.1983 in Saarbrücken Zum Zeitpunkt der Interviewerhebung, im Juni 2005, ist Michaela 22 Jahre jung, sie wurde vermutlich 1989 eingeschult und besuchte ab 1993 eine weiterführende Schule. Sollte Michaela sich für eine Lehre im Anschluss an Haupt- oder Realschule ent- scheiden, könnte sie ihre Berufsausbildung 1997/1998 abschließen. Beim Besuch eines Allgemeinbildenden Gymnasiums, wie auch im Falle des Erwerbs der Fachhochschul- reife über eine Fachoberschule, wäre eine Studienaufnahme im Jahr 2001 mit einem Abschluss im Jahr 2005 denkbar. Zum jetzigen Zeitpunkt können eine Vielzahl hypothetischer Lesarten zum biografischen Verlauf im Anschluss an die Schulzeit gebildet werden, ein längerer Auslandsaufenthalt nach dem Abitur wäre eine ebenso denkbare Variante, wie auch, bedingt durch Schwierigkeiten eine Stelle zu finden, die Wahl einer frühen Selbständigkeit nach einer zwei- bis dreijährigen Berufsausbildung; für wenig wahrscheinlich erachte ich die klassische Doppelrolle als Hausfrau und Mutter. Die Adoleszenz liegt in den Jahren ab 1998, den gesellschaftspolitischen Kontext dieser Zeit markieren mit dem Regierungswechsel vom 27. Oktober 1998 das Ende der über sechzehnjährigen Kanzlerschaft Helmut Kohls, die Beteiligung Deutsch- lands am Nato-Einsatz im Kosovo unter Bundeskanzler Gerhard Schröder und der mit den Energieversorgungsunternehmen im Jahr 2000 vereinbarte langfristige Ausstieg aus der Atomenergie. Kennzeichnend für die Rezeption des ökonomischen Klimas dieser Zeit sind individuelle und kollektive Sorgen und Befürchtungen ob der kontinuierlich steigenden Zahl von Arbeitslosigkeit Betroffener sowie die Auseinandersetzung mit den Folgen der Globalisierung und in der Folge vermehrte Anstrengungen zur Bewältigung gestiegener berufsbiografischer Anforderungen. Diese Inhalte sind mit verantwortlich für Deutungsmuster, die bei den in den achtziger Jahren Geborenen dominieren, Jugend- forscher bescheinigen der heranwachsenden Generation dieser Zeit eine geradlinige, materiell orientierte Lebensplanung. Die Stadt Saarbrücken entwickelte sich im 11. Jahrhundert unterhalb einer Burg, erhielt 1321 das Stadtrecht und war ab 1381 Hauptstadt der Grafschaft Nassau-Saarbrücken. 24 die objektiven Daten wurden im Anschluss an das Interview mittels eines standardisierten Fragebogens in schriftlicher Form erhoben 75 Seit 1947 ist Saarbrücken die Hauptstadt des Saarlandes, auf dessen besondere Geschichte im Zwanzigsten Jahrhundert ich an einer späteren Stelle eingehen werde. Mit knapp 185000 Einwohnern ist Saarbrücken Sitz des Saarländischen Rundfunks, des Max-Planck-Instituts für Informatik, eines Fraunhofer-Instituts für Prüfverfahren und anderer wissenschaftlicher Institute; neben der Universität bestehen eine Hochschule für Bildende Künste und eine Hochschule für Musik und Theater. Für Michaela sind vor Ort eine Vielzahl von Bildungsmöglichkeiten und kulturellen Angeboten gegeben, von historischem Interesse könnten mittelalterlichen Kirchen wie die um 600 gegründete dreischiffige frühgotische Stiftskirche Sankt Arnual, das Schloss und mehrere Museen sein. Sequenz 2 Wohnort Illingen Michaelas Wohnort Illingen liegt im Illtal im Saarland, etwa 20 Kilometer von Saarbrücken entfernt. Mit knapp 6000 Einwohnern ist Illingen ein kleines Zentrum für diese ländliche Region, hier besuchen die Schüler aus den umgebenden Dörfern die Schule, hier bestehen in einem begrenzten Umfang Ausbildungs- und Arbeitsmöglich- keiten. Wenig wahrscheinlich ist, dass jemand aus Gründen der Berufsausbildung oder -aufnahme nach Illingen zieht, vermutlich ist die Erzählerin dort aufgewachsen. Die Teilnahme einer adoloszenten Schülerin am Zeitgeschehen im Illtal ist eine medien- vermittelte, mit ihrem Wohnort im Saarland lebt Michaela in einem Gebiet, in dem die deutsche Geschichte in besonderer Weise ihre Spuren hinterließ. Das Saargebiet ent- stand durch den Versailler Vertrag von 1919, konstruiert aus südlichen Teilen der ehemaligen preußischen Rheinprovinz und westlichen Teilen der bayerischen Pfalz, als Folge von Annexionsbestrebungen Frankreichs mit dem Ziel, Saarkohle und Saar- industrie für sich zu gewinnen. Auf Grund des Widerstandes von England und Amerika wurde das Saargebiet 1920 auf 15 Jahre einer Völkerbundregierung unterstellt, ging 1935 nach einer Volksabstimmung an das Deutsche Reich zurück und war dann bis 1940 mit der Pfalz als Gau Saarpfalz vereinigt. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wahrte Frankreich seine ökonomischen Interessen mit einer Zollunion und französischer Verwaltung der Kohlegruben. Nachdem 1955 per Volksabstimmung das zwischen Bonn und Paris ausgehandelten Saarstatuts abgelehnt war, ging das Saarland mit Abschluss des deutsch-französischen Saarvertrages vom 27. Oktober 1956 zum 1. Januar 1957 als Bundesland an die Bundesrepublik Deutschland. Dieses wechselhafte Geschick des 76 Saarlandes war für frühere Generationen der Bewohner auch bezüglich identitäts- bildender Prozesse von größerer Bedeutung, für die Generation der in den achtziger Jahren Geborenen allerdings ist die Geschichte des Saarlandes nur noch im Sinne eines regional bezogenen historischen Interesses von Bedeutung und bekommt bestenfalls noch im Sinne eines sekundären Selbstbezuges eine gewisse Relevanz bei einer Beschäftigung mit der eigenen Familiengeschichte. Sequenz 3 Familienstand ledig, keine Kinder Dies verweist zunächst auf die Notwendigkeit, Sorge für die eigenen Existenz zu tragen. Im Falle eines Studiums der Ich-Erzählerin entspräche dieses objektive Datum einer Normalitätsunterstellung für eine zweiundzwanzigjährige Studentin. Möglich wäre, dass Michaela im Anschluss an die Schulzeit keinen Ausbildungsplatz fand und nun seit sechs Jahren ihr Leben zwischen Aushilfsjobs, Arbeits- und Sozialamt verbringen muss, vermutlich schloss die Erzählerin jedoch eine Ausbildung an ihre Schulzeit an und könnte heute, sofern sie nicht studiert, im Berufsleben stehen. Als vorläufige Hypothese gehe ich davon aus, dass die aktuelle Lebenssituation der zweiundzwanzigjährigen Michaela mit abgeschlossener Berufsausbildung, Hoch- oder Fachhochschulausbildung, ledig und kinderlos, nahezu dem Wunschprofil potentieller Arbeitgeber entspricht. Für ihre zukünftige Arbeit ist Michaela räumlich ungebunden, ob sie Kinder- und Heiratswünsche bewusst hinter einer geplanten Karriere zurückstellt, bleibt vorläufig spekulativ. Ein weiterer Interpretationsbedarf zu diesem objektiven Datum ist m. E. beim jetzigen Stand der Interpretation nicht gegeben. Sequenz 4 Schulbesuch von 1989 bis 1993 Realschule, von 1999 bis 2001 Fachoberschule Als Zusatzinformation wird den Interpretanden mitgeteilt, dass die Erzählerin studiert und zur Zeit der Interviewerhebung 2005 ein Fachhochschulstudium Sozialarbeit/ Sozialpädagogik abschließt. Die von Michaela im Anschluss an die Realschule besuchte Fachoberschule war mit einiger Wahrscheinlichkeit eine Fachoberschule für Soziales; ein frühes Interesse an einer sozialen Tätigkeit mündet bereits in der Adoleszenz mit sechzehn Jahren in einer ersten Weichenstellung für einen sozialen Beruf. Fachober- schulen für Soziales bestehen im Saarland in Saarbrücken sowie im Umland von Illingen, Michaela pendelte für ihren Schulbesuch täglich zwischen Wohn- und Schulort. Die uns nun bekannten objektiven Daten verweisen auf eine bruchlose Biografie, auch 77 das Studium wurde vermutlich mit acht Semestern in der Regelstudienzeit absolviert. Ein geradliniger biografischer Verlauf, von der Entscheidung für eine soziale Tätigkeit mit 16 Jahren, bis zum Diplom zur Sozialarbeiterin/Sozialpädagogin im Alter von 22 Jahren, zeichnet sich ab. Michaelas Adoleszenz ging ohne größere biografisch relevante Krisen vorüber, sie schließt ihr Studium nahezu nahtlos an die Schulzeit an, auch ein Moratorium zur Berufsfindung scheint nicht notwendig gewesen zu sein. Das Studium wird unmittelbar nach einer abgeschlossenen Erzieherausbildung ohne Berufspraxis begonnen, eine kontrollierte Karriere „in the long run“ wird dem sofortigen Berufs- einstieg vorgezogen. Zugleich sind es mutmaßlich in der Erzieherausbildung entstandene Interessen an Theorie und Bildung, die zum Studium motivieren, vielleicht nahm in den Jahren der Erzieherausbildung das Selbstvertrauen zu, möglich auch, dass Michaela in der Auseinandersetzung mit elterlichen Vorgaben und Werten, im Prozess der Ablösung ihren Planungshorizont erweiterte. Wird sie nun ebenso geradlinig ihren Weg in der Berufswelt gehen, sind im Studium neue Präferenzen entstanden, Transformationen latenter Sinnstrukturen vom genuinen Helfen-Wollen zu einer professionalisierten Berufsauffassung, eine Verschiebung der Interessen beispielsweise zu kreativen und wissenschaftlichen Bedürfnissen, die in die Wahl des künftigen Praxisfeldes eingehen? Sequenz 5 Vater, geboren am 29.05.1953 in Illingen, Beruf Lehrer, Wohnort Illingen, Wohnortswechsel / Die Herkunftsfamilie ist möglicherweise schon seit mehreren Generationen in Illingen ansässig, mit dem Lehrerberuf des Vaters ist Michaela in einem pädagogischen Milieu aufgewachsen, die Berufswahl markiert intrafamiliär einen Wechsel vom Bilden zum Helfen. Michaelas Aufstützen auf das kulturelle Kapital des Elternhauses könnte das Ausbleiben eines Moratoriums zur Berufsfindung erklären. Mit dem Lehrerberuf des Vaters bestehen für die Studentin keine existentiellen Hürden für ein Studium, die Eltern gewähren nicht nur Bildung, mutmaßlich wird ein Bildungsanspruch an das Kind bzw. die Kinder herangetragen. Aufgrund der lokalen Gegebenheiten wäre denkbar, dass Eltern und Professoren, als gemeinsame Mitglieder einer Initiative oder eines Vereins, miteinander bekannt sind. Als Zusatzinformation wird eingeführt, dass Michaela von ihrem Wohnsitz im Elternhaus aus studiert. Für die Erzählerin wird so das Studium zum Heimspiel, in einem regionalen und zugleich familialen Sinne, möglicher- weise übernimmt der Vater die Funktion eines zusätzlichen Betreuers des Studiums. 78 Hinzu kommt die vergleichsweise kleine Zahl Studierender an der KHSA, die Kontakte in einer Intensität innerhalb der Studentenschaft und zu Professoren gewährleistet, wie sie an einer größeren Universität nicht denkbar wären. Die Gesamtheit der bisher bekannten Daten, Studium nahe am elterlichen Wohnort, pädagogisches Milieu des Elternhauses, bisher bruchlose Biografie, abgeschlossene Erzieherausbildung und kleine Ausbildungsstätte, legen die Hypothese einer positiven Struktur im Studium nahe. Der Zeitraum der Pubertät des Vaters fällt mit der Blütezeit der Außerparlamentarischen Opposition zusammen, der Vater war vierzehn Jahre alt, als am 2. Juni 1967 der Student Benno Ohnesorgs durch eine Polizeikugel während einer Protestdemonstration gegen den Besuch des iranischen Schahs Reza Pahlevi starb und sich in der Folge, vor allem in den deutschen Universitätsstädten, die Form der bis dahin friedlichen Proteste wandelte. In der beginnenden Adoleszenz erlebte der Fünfzehnjährige medienvermittelt, wie Rudi Dutschke 1968 durch ein Attentat schwer verletzt und Martin Luther King ermordet wurde. Dieses Zeitgeschehen könnte die Studien- und Berufswahl des Vaters beeinflusst haben, seine Studienwahl eines pädagogischen Faches liegt im Mainstream kollektiver Interessensbildung der Achtundsechziger-Generation. Mit einer dem Bildungsbürgertum angehörenden Herkunftsfamilie besteht für Michaela die Möglichkeit einer Beratung zu Studienwahl und -inhalten, die fachliche Nähe des von der Tochter gewählten Studien- gangs Sozialarbeit/Sozialpädagogik zum Beruf des Vaters lässt einerseits vermuten, dass sie Hilfestellungen von zu Hause erhalten wird, aber auch, dass Michaela Kenntnisse pädagogischer Kultur und Verhaltens aus dem Elternhaus mitbringt und bereits in Kindheit und Adoleszenz eine Aufnahme von Elementen pädagogischer Kultur erfolgte. Diese Sachverhalte vermitteln ein Gefühl der Sicherheit für die angestrebte Tätigkeit und bilden zusammen mit diesem wahrscheinlich ein zentrales Motiv für die im Alter von sechzehn Jahren getroffene Entscheidung zur sozialen Arbeit. Sequenz 6 Mutter, geboren am 24.03.1955 in Illingen,Beruf Erzieherin,Wohnort Illingen, Wohnortwechsel / Die in den fünfziger Jahren Geborenen lebten in einen Milieu, in dem die Familien über wenig materielle Ressourcen verfügten, der Ost-Westkonflikt, beziehungsweise der Konflikt zu den jeweiligen Ideologien, war ein zentrales öffentliches Thema dieser Zeit, exemplarisch hierfür steht der Volksaufstand von 1957 in Ungarn. Ein Feld, auf dem dieser Konflikt als Konkurrenz um technische und strategische Überlegenheit ausge- 79 tragen wurde, war die Raumfahrt. In der Folge des Sputnikschocks, als 1957 die erste Raumsonde durch die Sowjetunion gestartet werden konnte, wurden über Medien kollektive Ängste eines Verlustes dieser Überlegenheit geschürt, amerikanischer Raum- fahrts- und Forschungsprogramme, insbesondere zur Vernetzung von Computern, wurden intensiviert. Ein erstes tägliches Fernsehprogramm in der Bundesrepublik Deutschland sendete ab 1952 der Nordwest Deutschen Rundfunk, ab 1966/67 war mit der Einführung des PAL-Farbfernsehsystem der Empfang in Farbe möglich. Die Mutter erhielt ihre Erzieherausbildung möglicherweise noch an der damaligen Fachoberschule in Saarbrücken, die 1971 per Reform zur Katholischen Hochschule für Soziale Arbeit wurde. Insofern reproduziert Michaela die biografietypische Struktur einer sozialen Ausbildung in der Nähe des Wohnortes. Diese Struktur weist zu einen darauf hin, dass Michaela bisher keine eigene Pfade jenseits der Ausformung familialen Kapitals, beziehungsweise familial gelegter Anlagen geht, hypothetisch könnte der Aspekt einer selbstverwirklichungsorientierten Erprobung, die eigene Bedürfnisse und Talente zu Tage fördern kann, bei Michaela vernachlässigt sein, andererseits wird sie mit ihrem Hintergrund Potentiale und Kompetenzen in Studium und Beruf einbringen, die von Kommilitonen, deren Eltern einem anderen soziokulturellen Milieu angehören, erst erarbeitet werden müssen. Zwischen den Polen der aus einer bunten Biografie hervorgehenden Vielfalt und des aus der kontinuierlichen Beschäftigung mit einem Fachgebiet enstehenden Expertentums, tendiert die Studentin nach dem bisherigen Informationsstand eindeutig zum letzteren. Sequenz 7 ein Bruder, geboren am 04.06.1985 Saarbrücken Michaelas Herkunftsfamilie entspricht mit zwei Kindern im Abstand von zwei Jahren der klassischen Zwei-Kind-Familie, die Eltern gehören somit einer Generation an, die als erste nach dem Zweiten Weltkrieg in der Folge des so genannten Wirtschafts- wunders ohne materielle Not, allerdings in der Regel auch ohne größeren Wohlstand aufwuchsen. Mit 33 und 30 Jahren gehen die Eltern zur Zeit der Geburt ihres Sohnes auf ihren mittleren Lebensabschnitt zu, zumindest die Mutter ist vermutlich seit einigen Jahren in ihrem Beruf als Erzieherin tätig, der Zeitpunkt, zu dem der der Vater seine Tätigkeit als Lehrer begann, ist nicht eindeutig zu bestimmen, gerade in den späten siebziger und den achtziger Jahren war die Lehrerarbeitslosigkeit so hoch, dass einige 80 ausgebildete Lehrer, wenn überhaupt, erst fünfzehn Jahre nach Studienabschluss eine Stelle erhielten. Insgesamt gehe ich von einer zum Bildungsbürgertum tendierenden und im Leben stehenden Familie aus; für die Generation der Eltern gilt, dass an diese per naturwüchsiger Sozialisation das Paradigma einer Normalbiografie weitergegeben wurde. Bildung ist für die pädagogische Familie ein Wert, der Kindern gewährt wird. Die Bevölkerung im Saarland ist überwiegend katholisch, eventuell wird über die Verbindung von katholischer Religion, Soziallehre und pädagogischer Grundhaltung im Elternhaus eine spezifische Ethik an die Tochter weitergegeben. Sequenz 8 Studium von 2001 bis 2005 an der Katholischen Hochschule für Soziale Arbeit SB Nun lässt sich die Hypothese aus Sequenz 1 verifizieren, dass die Studentin zum Zeitpunkt der Datenerhebung ihr Studium der Sozialarbeit an der KHSA im Alter von 22 Jahren mit acht Semestern in der Regelstudienzeit abschließt. Mit dem Lehrerberuf des Vaters und der Erziehertätigkeit der Mutter scheint es, als ob Michaela einen familialen Auftrag oder eine Berufung weiterträgt. Sie stellt sich mit der Berufswahl sozialer Arbeit in der Mitte zwischen ihrem Vater, dem Lehrer und ihrer Mutter, der Erzieherin auf. Diese Positionierung wirft die Frage auf, ob für die Tochter ein Tabu besteht, mit einem starken Vater beruflich gleichzuziehen oder diesen gar zu überflügeln. Insofern könnte die Entscheidung für das Studium Teil einer latenten Aus- einandersetzung mit intrafamilial gesetzten Begrenzungen markieren. Die Berufswahl in den Fußspuren ihrer Eltern charakterisiert insgesamt auch Michaelas Verhältnis zu diesen. Mutmaßlich sind die Elternbeziehungen wenig ambivalent, eher harmonisch; möglich ist, dass Michaela ihr Studium vom Elternhaus aus führt, fachlich begleitet von ihrer Familie. Die Entscheidung, Sozialpädagogin zu werden, könnte darauf basieren, dass in der Familie eine Ethik des Helfens gelebt wird, dass diese Erfahrungen im Verbund mit den von den Eltern weitergegebenen fachlichen Kenntnissen zur Sozialarbeit motivieren. Die Katholische Hochschule für Soziale Arbeit Saarbrücken wurde 1964 gegründet. Zunächst als Höhere Fachschule für Sozialarbeit betrieben, ist die KHSA seit 1971 staatlich anerkannte Fachhochschule für Sozialarbeit/Sozialpädagogik in Trägerschaft des Bistums Trier. Für August 2005 wird die Zahl der Studierenden im Internetauftritt der KHSA mit 275 Personen beziffert, pro Jahr werden 65 Studienplätze angeboten. 81 Die Regelstudienzeit umfasst 8 Semester, hierbei sind zwei Praxissemester inbegriffen. Die Wahl der Ausbildungsstätte ist wahrscheinlich mit der Nähe zum elterlichen Wohnort motiviert, wobei, entsprechend des Wissens- und Deutungshintergrundes der pädagogischen Herkunftsfamilie, diese Informationen zu Ausbildungsinhalten und -qualitäten von Hoch- und Fachhochschulen bereitstellen wird. Michaela verbringt vermutlich ihre Studienzeit in einer doppelt geschützten Atmosphäre, getragen von einer positiven Struktur an der Fachhochschule im Schutze des Elternhauses im ländlichen Raum von Illingen. Sequenz 9 Praktika Sozialdienst der Justiz, Schulsozial- arbeit, Kindergarten Die Wahl der Praktika wird in Kenntnis um Felder sozialer Praxis vorgenommen; mit den beiden Praxisfeldern Schulsozialarbeit, Sozialdienst der Justiz und der Tätigkeit im Kindergarten wird ein breiter Ausschnitt des Spektrums potentieller pädagogischer Felder gestreift; ausgespart bleiben mit Sucht- und Odachlosenhilfe, klinischer Sozialarbeit und Hilfeangeboten bei psychosozialen Erkrankungen einige Tätigkeits- gebiete, die in hohem Maße von Praktikanten als erste Orientierung auf potentielle Arbeitsfelder hin frequentiert werden. Zugrunde liegen hier bereits evaluierte Vorstellungen zur Ausgestaltung der eigenen Praxis des Helfens, Wissen um die Vielfalt potentieller Tätigkeiten und der Anspruch, sich nun Einblicke in verschiedene Tätigkeitsfelder zu verschaffen; die Wahl weist auf Präferenzen der künftigen Praxis hin. Der Sozialdienst der Justiz ist eine Dienststelle am Landgericht Saarbrücken, mit Außenstellen in Saarlouis und Neuenkirchen. Traditionelles Aufgabengebiet des Sozial- dienstes der Justiz ist die Bewährungshilfe, die rechtliche Grundlage für deren Tätigkeit liefert § 56 STGB, Freiheitsstrafen bis zu zwei Jahren können zur Bewährung ausgesetzt werden, das zuständige Gericht unterstellt in diesem Fall die betreffende Person in der Regel für die Dauer von zwei bis fünf Jahren der „Aufsicht und Leitung eines Bewährungshelfers", für das Jugendstrafrecht ist in den §§ 21-26a JGG eine Straf- aussetzung zur Bewährung vorgesehen. Die Aufgaben des Bewährungshelfers sind paradigmatisch für eine sozialpädagogische Tätigkeit zwischen den Polen Hilfe und Kontrolle, so soll der Bewährungshelfer auf einer Basis des Vertrauens helfen und betreuen und ist zugleich dem Gericht gegenüber berichtspflichtig, besonders zu Verstößen gegen Bewährungsauflagen. Weitere Arbeitsbereiche des Sozialdienstes der 82 Justiz sind die Führungsaufsicht, der Täter-Opfer-Ausgleich sowie Angebote für Haftentlassenene und Hilfe für Zeugen. Die Schulsozialarbeit25 ist historisch ein junges Arbeitsfeld der Sozialpädagogik, sie ist allgemein eine Form der Kooperation zwischen Jugendhilfe und Schule. Ihre Hauptauf- gabe ist die pädagogische Hilfe für schwierige und gefährdete Schüler, als zentraler Grundsatz soll hier der Vorrang der Prävention und der frühzeitigen Hilfe umgesetzt werden. Faktisch entstehen Projekte einer Kooperation von Jugendhilfe und Schule regional vielfach reaktiv auf akute und krisenhafte Problemlagen wie Drogenmiss- brauch, hohe Aggressivität und Gewaltbereitschaft. Entsprechend des Paragraphen 9 KJHG besteht für die Jugendhilfe kein eigenständiger Erziehungsauftrag, vielmehr sind die Eltern bei ihrem Erziehungsauftrag zu unterstützen. Paragraph 11 des KJHG sieht Kinder- und Jugendarbeit am Ort und im Umfeld der Schule vor, für die Schul- sozialarbeit umfasst diese gesetzliche Regelung die Arbeitsfelder Jugendberatung, die kulturelle, technische und naturkundliche Bildung, Erholungsangebote, Früh- und Nachmittagsangebote sowie Stadtteilarbeit. Die schulbezogene Jugendsozialarbeit nach Paragraph 13 KJHG sieht Hilfen für benachteiligte und gefährdete Kinder vor, Beratung bei Problemen in Elternhaus und Schule und die Beratung der Eltern und Lehrer. Als drittes zentrales Aufgabenfeld umfasst die Schulsozialarbeit Jugendberufshilfe und Berufsvorbereitung, Orientierungshilfen, Bewerbungs- und Vermittlungshilfen. In der Praxis werden mehrheitlich spezifische Hilfeangebote zu den jeweiligen regionalen Problemlagen angeboten, so dass die Tätigkeitsbereiche im Praktikum sich möglicher- weise auf Kooperation mit Eltern, eventuell freizeitpädagogische Angebote für die Schüler sowie Hilfe bei Lern- und Entwicklungsstörungen erstrecken. Sequenz 10 Studienschwerpunkt „Ästhetische Aneignungs- prozesse marginalisierter Menschen im urbanen Raum“ Für das Hauptstudium ist an der KHSA die Wahl eines Studienschwerpunktes bindend, dieser umfasst mit insgesamt fünf Semesterwochenstunden je eine Vorlesung, ein Theorie-Praxis-Seminar und ein Fallseminar. Die Studierenden der KHSA wählen ihren Studienschwerpunkt im Lernfeld Zielgruppenspezifische Arbeit. Für das Sommer- semester 2005, den Zeitraum der Datenerhebung, werden folgende Schwerpunktthemen angeboten: 25 vgl. www.schulsozialarbeit.de, Wörterbuch Soziale Arbeit (1988), S. 462 83 • „Klinische Sozialarbeit“ mit Menschen in gesundheitlichen Problem- und Krisenlagen der Moderne • Sozialraumorientierte Sozialarbeit mit Familien, Kindern und Jugendlichen • Zielgruppen im Kontext von Schule und sozialer Arbeit • Ästhetische Aneignungsprozesse marginalisierter bzw. von Marginalität bedrohter Menschen im urbanen Raum (oder: „Mensch und Raum“ im Prozess der dritten Moderne- Fallrekonstruktion zur Struktur der Herausforderung durch die „Ver- flüssigung des Sozialen“) Mit der gewählten Veranstaltung entscheidet sich Michaela nach meinem Verständnis für den Schwerpunkt, der zur wissenschaftlich fundierten und fallrekonstruktiven Einführung in ein Praxisfeld eine zeitdiagnostische -soziologische und philosophische- Annäherung an biografische Verläufe bietet. Zu der in Sequenz 4 aufgeworfenen Frage, ob im Studium über eine sozialpädagogische Grund- und Berufsausbildung hinaus- reichende intellektuelle, wissenschaftliche und kreative Interessen entstanden sind, kann nun vorläufig festgehalten werden, dass die Wahl des Studienschwerpunktes ein Hinweis für Bildungsinteressen und -prozesse im Studium ist und wahrscheinlich eine Transformation vom Helfen-Wollen zum Verstehen sozialer Lebenswelten markiert. Sequenz 11 Theoretische Schwerpunkte: Oevermann, Adorno, Mead,Schütze, Garz, Haupert, Kraimer Zunächst stellt sich hier die Frage, ob Michaela mit der Angabe dieser sieben Wissenschaftler als ihrer theoretischen Schwerpunkte nicht etwas zu hoch gegriffen hat. Die Intention der Ich-Erzählerin ist sicherlich nicht, uns mitzuteilen, dass sie sich vertiefte Kenntnisse der Werke und Theorien von Adorno über Mead bis Oevermann und Kraimer angeeignet hat. Vielmehr dokumentieren die Angaben zur Frage nach theoretischen Schwerpunkten, dass Michaela gut in die Theorie hineingefunden hat. Auf Grund der Curricula der Katholischen Fachhochschule für Soziale Arbeit Saarbrücken, wie auch der anderer Fachhochschulen, besteht die Möglichkeit einer vertieften Ausein- andersetzung mit Theorie im Vergleich zur universitären Ausbildung nur in begrenzten Umfang. Eine mehrsemestrige Veranstaltung beispielsweise zu Adornos Negativer Dialektik wäre an einer Fachhochschule nicht möglich, der zeitliche Rahmen für ein solches Themengebiet liegt hier eher bei zwei bis vier Semesterwochenstunden. Insofern wird an der KHSA neben der Schwerpunktbildung eine Übersicht zu sozial- wissenschaftlichen Theorien geboten. Legt man eine Normalitätsunterstellung an das Fachhochschulstudium an, so dient das erste Semester der Orientierung, im folgenden 84 Semester werden Grundlagenseminare und eventuell Einführungen in Methoden und Wissenschaftslehre besucht, dieses zweite Semester dient noch der Einführung in die Fachkultur. So bleibt bei einer Studienzeit von acht Semestern einschließlich Diplom- arbeit ein Abschnitt von maximal sechs Semestern, in denen ein fachspezifisches, wissenschaftliches Verständnis gebildet ist, auf dessen Basis ein gezieltes Eigenstudium erst aufsetzt; eine zu kurze Zeit, um sich neben dem sonstigen Studienbetrieb die Werke dieser sieben Autoren anzueignen. Diese stehen in einem sinnlogischen Zusammenhang, so kann Oevermanns Methodologie auch als Einlösung einiger Postulate Adornos an die Sozialwissenschaften verstanden werden, der symbolische Interaktionismus (Mead) begründet narrative Ansätze, Schütze ist maßgeblich an der Entwicklung des narrativen Interviews beteiligt, die Professoren Garz, Haupert und Kraimer lehren, forschen und veröffentlichen unter anderem zur objektiven Hermeneutik, zur Fallrekonstruktion und zu qualitativen Methoden. Insofern ist es Michaela im Studium gelungen, sich nicht nur ein fragmentarisches Wissen pädagogischer, psychologischer, soziologischer und philosophischer Theorien anzueignen, sie hat sich darüber hinaus eine Linie vertiefter Kenntnisse der pädagogischen Professionstheorie, des symbolischen Interaktionismus und qualitativer Methoden erarbeitet. Sequenz 12 Methodische Kenntnisse: Fallrekonstruktion der sozialen Arbeit, Narratives Interview Die angegebene Methodenkenntnis zur Fallrekonstruktion der sozialen Arbeit beziehen sich auf die „Hausmethode“ der Katholischen Hochschule für Soziale Arbeit Saar- brücken, entwickelt und gelehrt von den beiden dort tätigen Professoren Haupert und Kraimer. Dieses Verfahren dient der Rekonstruktion der Strukturlogik von für die soziale Arbeit relevantem Ausdrucksmaterial. Hierbei kommt oftmals eine Kombination des narrativen Interviews als Erhebungsmethode und des Analyseverfahrens der objektiven Hermeneutik zur Anwendung. Zur Geltungsbegründung der Fallrekon- struktion verweist Klaus Kraimer, analog zu Oevermanns Axiom, dass alle Erschei- nungsformen sozialer Praxis durch Sequenziertheit konstituiert sind, auf die metho- dische Nähe zur fallförmigen Struktur sozialer Praxis: „Die fallförmige Strukturiertheit der sozialen Arbeit provoziert gleichsam eine fall- rekonstruktive Theoriebildung; die auf diese Weise gewonnenen Erkenntnisse können in das Soziale (das Allgemeine) und in das subjektiv Gültige (das Besondere) gleicher- 85 maßen Einsicht verschaffen. Fallrekonstruktionen werden in theoriebildender Absicht auf zentrale Probleme der sozialen Arbeit gerichtet (soziale Auffälligkeit, soziale Probleme, soziale Intervention) . (Kraimer 2000, S. 37).“ Kraimer skizziert die Entstehungsschritte einer Einzelfallstudie zur Fallrekonstruktion wie folgt:26 1 Abgrenzung des Gegenstandsbereichs: Was ist der Fall? 2 Welches Ausdrucksmaterial ist relevant? Wie kann der Fall erhoben werden? 3 Interpretation der objektiven Daten und der ersten Sequenz; 4 Formulierung einer ersten Kernaussage: Fallstrukturhypothese; 5 Sequentielle Materialrekonstruktion zur Überprüfung der Fallstrukturhypothese; 6 Hinzunehmen eines maximal kontrastierenden Falles; 7 Fallkontrastierung aus einer relevanten Fallreihe; 8 Typen- bzw. Theoriebildung; Die Angaben der Sequenz 11 zu theoretischen Schwerpunkten werfen unter anderem die Frage auf, ob Michaela ihre Theorie- und Wissenschaftskompetenz adäquat einordnen kann, beziehungsweise ob sie diese überbetont. In Bezug auf die Methoden- kenntnisse sind die Angaben nach meiner Auffassung stimmig, denn Michaela hat an der KHSA sicherlich einen Überblick über qualitativ-empirische Methoden erhalten, kennt Theorien und Methoden wie die Grounded Theory oder das Biographical, sie verweist hier jedoch ausschließlich auf Kenntnisse zu den Methoden, die Gegenstand besuchter Seminare, des Fallseminars und der Forschungswerkstatt waren und mit denen sie vermutlich auch in ihrer Diplomarbeit gearbeitet hat. Zusammenfassung zur Interpretation der objektiven Daten In einem pädagogischen Milieu aufgewachsen, kommen die Studienbedingungen für die zweiundzwanzigjährige Studentin einem Heimspiel gleich. Die Mutter erhielt ihre Ausbildung vermutlich an eben der Fachoberschule für Soziales, aus der später die Katholische Hochschule für Soziale Arbeit hervorging. Studiert wird vom Elternhaus 26 vgl. Kraimer 2000, S. 37 86 aus, auf einer mentalen, weniger auf der inhaltlichen Ebene, könnten die Eltern das Studium coachen. Auffällig ist die Wahl des Faches Sozialpädagogik im Kontext der elterlichen Berufe, Michaelas Aufstellung zwischen dem Lehrerberuf des Vaters und der Erziehertätigkeit der Mutter kann in einem familialen Tabu, mit dem Vater gleich- zuziehen oder diesen zu überflügeln, begründet sein. So wäre die Entscheidung für das Studium nach der Erzieherausbildung eine emanzipatorische Bewegung gegenüber einem familialen Tabu. Die räumliche Nähe zur Ausbildungsstätte und deren vergleichs- weise geringe Teilnehmerzahl verweisen im Verbund mit den Kenntnissen aus Erzieher- ausbildung und dem Elternhaus auf eine positive Struktur im Studium. Während Michaela bei der Angabe zu ihren theoretischen Schwerpunkten mit einer Reihe von sieben namhaften Wissenschaftlern etwas zu hoch greift, ist die Selbstsicht zu Methodenkenntnissen realitätsnah, erwähnt werden die Methoden, mit denen sie über einen längeren Zeitraum gearbeitet hat, die Gegenstand mehrerer besuchter Veran- staltungen und ihrer Abschlussarbeit waren. Die Wahl des Studienschwerpunktes „Ästhetische Aneignungsprozesse marginalisierter Menschen im urbanen Raum“ könnte ein Indiz für eine gesteigerte Bildungsmotivation sein und einen Trans- formationsprozess zu einem disziplinübergreifenden Interesse, soziale Lebenswelten zu verstehen, markieren. Die in der Adoleszenz getroffene Entscheidung für den sozialen Beruf könnte auf frühe Selbsterfahrungen in helfenden Kontexten, der Bindung an die Herkunftsfamilie und einem Aufstützen auf deren kulturellen Kapital basieren. Ihr Wohnsitz im Elternhaus und die an ihre Eltern angelehnte Berufswahl verweisen auf eine positive und wenig ambivalente Elternbindung, die Biografie verläuft bruchlos, ohne Moratorien zur Entscheidungsfindung. Der nun zweiundzwanzigjährigen Fach- hochschulabsolventin stehen viele Wege offen, ungebunden und kinderlos ist ihr Bewerbungsprofil formal ideal. Festzuhalten bleibt, dass Michaela sich vertiefte Einblicke in den symbolischen Interaktionismus, in soziologische Professionstheorien und die Methoden der objektiven Hermeneutik sowie der Fallrekonstruktion der sozialen Arbeit aneignen konnte. Den angegebenen Methodenkenntnissen des narrativen Interviews und der Fallrekonstruktion der sozialen Arbeit geht mutmaßlich eine vertiefte Einsozialisation in ein hermeneutisches Fallverstehen durch Forschungswerkstatt und Fallseminar sowie eigene Erhebungen und Rekonstruktionen für die Diplomarbeit voraus. 87 4.3.2 Abschnitt 2, Interpretation der autobiografischen Stegreiferzählung von Michaela Erzählstimulus: Roland: Du schließt in Kürze dein Studium an der Katholischen Hochschule für Soziale Arbeit in Saarbrücken ab. Ich möchte dich bitten, etwas von dir und dem Studium zu erzählen, zum Beispiel: Wie hast du das Studium erlebt, was ist besonders wichtig? Hierbei interessiert mich alles, was du erzählen möchtest.27 Sequenz 1 Michaela: Gut. Hm. Okay, dann fang' ich viel- leicht mal 'mit an em, - also ich war schon immer jemand, der sich für den sozialen Bereich interessiert hat. Mit dem Adjektiv „gut“ wird die durch die Eingangsfrage angebotene Rahmung der Interviewsituation akzeptiert, „gut“ ist zugleich Ausdruck der Haltung der Studentin zum Interview, einer aktiven und offensiven Herangehensweise, Michaela fühlt sich der Interviewsituation gewachsen und steigt optimistisch ein. Die zur emotionalen und kognitiven Verarbeitung der Situation und zur Reflexion der Erzählabsichten benötigte Zeit wird mit der Füllung „Hm.Okay“ eingeleitet. Hieran schließt sich ein Stochern in möglichen Inhalten an, „dann fang' ich vielleicht 'mal an em“, bis schließlich die gewollt starke Eröffnung „also ich war schon immer jemand, der sich für den sozialen Bereich interessiert hat“, präsentiert wird. Hiermit ist das Thema des Erzählflusses gesetzt, aus der Perspektive der Erzählerin ist das Fundament gelegt, auf dem das sinnstrukturierte Gebilde der Narration aufruhen soll. In einer anderen Lesart kann diese Selbstoffenbarung im Sinne Schulz von Thuns mit dem subjektiven Sinngehalt einer biografischen Kontinuität des Interesses am Sozialen, „ich hab' mich schon immer für den Sozialen Bereich interessiert“ fortgeschrieben werden, „... deshalb ist es nur natürlich, dass ich hier nun mit dem Status einer Sozialpädagogin in spe stehe“. Und weiter: „ich habe aufgrund dieser langjährigen 27 die Eingangsfrage fordert mit der Formulierung „ich möchte dich bitten, etwas von dir und dem Studium zu erzählen“ keine umfassende und geschlossene biografische Erzählung ein. Im Hinblick auf die interpretatorische Praxis, bei der Eingangs- und Folgesequenzen herangezogen werden sowie ausgesuchte Textstellen zur Überprüfung der Fallstrukturhypothese, schien diese Formulierung zunächst hinreichend. Die Erzählung der Studentin fällt für ein narratives Interview relativ kurz aus, ohne dass innertextlich Indizien für gezielte Auslassungen beispielsweise zu problematischen Erzählpassagen zu finden sind. Eine Formulierung wie „ich möchte dich bitten, möglichst umfassend von dir und deinem Studium zu erzählen, zum Beispiel: Wie hast du das Studium erlebt, was ist besonders wichtig? Hierbei interessiert mich alles, was du erzählen möchtest.“ könnte eine längere Stegreiferzählung initiieren, bei der die Zugzwänge des Erzählens, die Impulse, die Gestalten der Erzählung zu schließen, besser greifen. 88 Beschäftigung einen bestimmten Wissens- und Kompetenzstand.“ Greift man hier noch einmal auf das Kommunikationsquadrat von Schulz von Thun zurück, wäre die Seite des Appells an den Empfänger, diese biografische Legitimation, einschließlich der zu deduzierenden Kompetenzen, zu bestätigen. Allerdings wird dieses erste und zentrale Thema der Erzählung durch die objektive Daten untermauert: Seit ihrer Adoleszenz ist Michaela mit Ausbildungen in sozialen Feldern befasst und vermutlich gab es auch in ihrer Kindheit Phasen, in denen sie sich für die sozialen Berufe ihrer Eltern interessierte. Mit dieser Erzählungseröffnung teilt Michaela uns auf der Inhaltsebene eine Kontinuität ihrer Beschäftigung mit Kontexten des Sozialen mit, die Verbindung ihrer Person mit der Kultur des Sozialen, die wir auch als Habitus bezeichnen, ist demnach natürlich gewachsen und hat biografische Tradition. Eine subjektiv-latente Sinngebung dieser Erzählungseröffnung ist, Selbstsicherheit in Bezug auf die Statuspassage und die Berufswahl zu dokumentieren und für die Erzählsituation zu festigen, um Zweifeln beziehungsweise Selbstzweifeln ob der Passung zwischen Person und Beruf keinen Nährboden geben. Sequenz 2 Das hat sich also schon früh heraus kristallisiert, angefangen mit Realschule, Fachoberschule, immer Praktikum im sozialen Bereich und hab' mich dann nach der FOS halt entschlossen, hier anzufangen zu studieren. Die erste zentrale Aussage, das Hauptthema des Interviews, wird mit Daten unterfüttert und mit der numerischen Auflistung der Schul- und Ausbildungsstationen verstärkt. In ihrer Selbstsicht beginnt Michaela das Studium erfahrungsgesättigt, ausgestattet mit praktischen Erfahrungen und Theoriekenntnissen. Sie ordnet die Entscheidung zur sozialen Tätigkeit der Realschulzeit zu, die Studienaufnahme an der Fachhochschule wird so zur logischen Fortsetzung des roten Fadens ihrer Biografie, die Entscheidung zum Studium wurde ebenso lakonisch getroffen, wie sie hier kommentiert wird „... und hab' mich dann...halt entschlossen, hier anzufangen zu studieren.“ Für den biografischen Anschluss an die Erzieherausbildung stehen die Optionen Bildung und Praxis zur Auswahl, gewählt wird das Studium. Die Berufswahl in ihrer Gesamtheit ist nach regionalen Präferenzen getroffen, entschieden wird nicht nur, Sozialpädagogik zu studieren, sondern vor allem, an der KHSA in Saarbrücken, nahe bei Illingen. Insofern war die Studienentscheidung eine Entscheidung für das in Sequenz 5 der objektiven Daten rekonstruierte Heimspiel in den Fußspuren der Eltern. 89 Als eine latente Sinnstruktur zeichnet sich damit eine regionale Gebundenheit ab, die Studentin möchte ihre Zukunft gestalten an vertrauten Orten und Räumen, fraglich bleibt zunächst, ob auch mit Handlungsmustern, die sich bereits bei den Eltern bewährt haben. Falls sich diese Sinnstruktur weiter reproduziert, wird Michaela ihre Arbeitsstelle im Umland von Illingen/Saarbrücken wählen. Der studentische Habitus umfasst neben den an der KHSA gelernten Theorien und rekonstruktiven Methoden eine früh begonnene Enkulturation in pädagogische Sinnwelten im Milieu der Eltern, beinhaltet auch deren Tipps und vorgelebten Erfahrungen sowie eventuell eine in der katholischen Religionszugehörigkeit fundierte sozialethische Grundhaltung. Die hypothetische Lesart einer tendenziell distanzierten und geschlossenen Haltung zu den Studieninhalten, genährt durch die Meinung, das Wesentliche des künftigen Berufes bereits aus dem Elternhaus, den Praktika und der Erzieherausbildung mitzubringen, kann bisher weder verifiziert, noch ausgeschlossen werden und muss im Folgenden innertextlich überprüft werden, vorläufig gehe ich von einer interessierten Studentin mit der erforderlichen Lernoffenheit und der Bereitschaft, sich auf die Inhalte einzulassen, aus. Sequenz 3 Em zu Beginn - ich wusste halt ja, in welchen Bereichen man in der sozia sozialen Arbeit halt arbeiten kann und hatte auch, was weiß' ich, n' bisschen Psychologie und Soziologie auf der Fachoberschule gehabt In Michaelas Vorannahmen zum Studium setzt das Studium linear auf die Erzieheraus- bildung auf, sie erwartet eine Weiterführung psychologischer und soziologischer Theorienlehre und fühlt sich mit den Kenntnissen der vorherigen Ausbildung und den verschiedenen Arbeitsfeldern bestens präpariert. Ihr Hintergrund vermittelt ihr vorab ein Sicherheitsgefühl, sie ist der Meinung, mit einer hinreichenden Übersicht über die für sie zum Zeitpunkt des Studienbeginns relevanten Fragen zur künftigen Praxis und mit hinlänglichen Grundkenntnissen der Studieninhalte, den soziologischen und psycho- logischen Theorien, ihre Ausbildung zu beginnen. Die von Michaela geäußerten Erwartungen implizieren ein zum Studienbeginn entworfenes Bild benötigter Kompe- tenzen für das sozialpädagogische Studium: Man muss die Arbeitsfelder kennen, braucht psychologische und soziologische Kenntnisse - und dann halt noch das Diplom und Praxis. Stellt man die Frage, wie der Einstieg ins Studium erlebt wurde, so war der Studienbeginn für die Ich-Erzählerin vermutlich nicht unproblematisch. Der Inhalt meint zusammengefasst etwa „ich dachte, ich wüsste im Wesentlichen, was da im Studium auf 90 mich zukommt, aber dann war es doch ganz anders“. Hierzu können einige hypothetische Erklärungsansätze entworfen werden, denkbar wäre, dass das Studien- angebot als unübersichtlich erlebt wurde, dass es bei der Einführung in die Methodenlehre zu Verständnisschwierigkeiten kam, diese für die Studentin Fragen aufwarfen wie, „was hat das mit meiner künftigen Arbeit zu tun?“, aber auch, dass der Studienanfang schlicht in Form von Verwirrung beziehungsweise Unübersichtlichkeit erlebt wurde. Hinsichtlich der als Heimspiel charakterisierten Studiensituation wird der Übergang vom schulischen Lernen zu einer selbststrukturierten Gestaltung des Studiums kein zentrales Lernproblem gewesen sein. Sofern man allerdings, wie in diesem Fall, mit der Erwartung einer Fortsetzung der Erzieherausbildung auf höherem Niveau ins Studium geht, sind für abstraktere Vorlesungen philosophischen oder soziologischen Inhalts, zur Wissenschafts- und Methodenlehre Transformationen der Lernhaltung erforderlich. Michaelas Vorannahmen eines Fachhochschulstudiums als Fortsetzung der Erzieherausbildung auf höherem Niveau werden zwangsläufig im Kontakt mit der Realität widerlegt. Inwieweit das für das Studium erforderliche transformatorische Potential entfaltet wird, bleibt gerade vor dem Hintergrund der hypothetischen Sinnstruktur des Rückgreifens auf Bewährtes und Vertrautes, der geringen Offenheit gegenüber Neuem (Sequenz 2), abzuwarten. Allerdings wird nun das Neue per Studieninhalten an die Studentin herangetragen, die Entscheidung hierfür hat insofern eine andere Qualität, als die Wahl eines neuen Berufs- oder Wohnorts. Hypothetisch wäre es dennoch möglich, ein Studium zu führen, bei dem mit der Erzieherausbildung vergleichbare Inhalte oder die Ausrichtung auf ein Praxisfeld dominieren, wie im Falle der ersten Interpretation zum Studenten Martin. Sequenz 4 und em war dann ganz erstaunt, als ich an der Hochschule war und dann auch Vorlesungen mit Professor (Anonymisiert) und (Anonymisiert) hatte, wo es dann um diese Methodik ging, Wissenschaftsdisziplin Die Auffassung, Studien- und Praxisfelder weitestgehend zu kennen, wird in den ersten Semestern widerlegt, in ihrer Darstellung wählt Michaela für die erlebte Des- illusionierung eine neutrale und wertfreie Formulierung, subjektiv wird die erlebte Enttäuschung eine Krise größeren Ausmaßes gewesen sein. Im Folgenden, wenn Michaela von „...diese(r) Methodik, Wissenschaftsdisziplin“ spricht, wobei Wissenschaftsdiziplin mutmaßlich eine Einführung in wissenschaftliche 91 Arbeitsmethoden bezeichnet soll, schwingen eine Distanz und eine Ambivalenz zum Inhalt mit, aus der hervorgeht, dass der Einstieg in neuen Themen, speziell die Methodenlehre, der Studentin einige Schwierigkeiten bereitete; im Studienbeginn ist eine Krise angelegt. Entgegen ihren Vorannahmen kann die Studentin nun das Studium nicht mit einer Reproduktion der in der Schule erworbenen Lern- und Arbeitstechniken durchführen, der Einstieg wird somit arbeitsintensiv, nur mit einer gesteigerten Leistung können die neuen Anforderungen eingelöst werden. Allgemein besteht die Möglichkeit einer Krise in der Verarbeitungsform des Sachverhalts, mit neuen Arbeitsinhalten und -formen konfrontiert zu sein, in einer hypothetischen Lesart handelt sich hier um jenen für Studienanfänger häufigen Typus von Krise, bei dem Entwicklungspotentiale freige- setzt werden. Oevermann verdeutlicht in seiner Schrift „Professionalisierungsbedürftig- keit und Professionalisiertheit pädagogischen Handeln“28, dass Zukunftsoffenheit für eine Lebenspraxis konstitutiv ist und diese zukunftsoffene Lebenspraxis, als Quelle von Krisenkonstellationen und der Erzeugung des Neuen, die Grundlage von Bildungs- prozessen und des Fallibilismus ist. Diese Krise wird zur Möglichkeit und kann in Verbindung mit einer stützenden Struktur zu Bildungsprozessen, zur Transformation latenter Sinnstrukturen und zu einem gelingenden Identitätslernen führen. Die Haltung Michaelas zu Theorie und Methoden ist zunächst ambivalent, zur Frage, inwieweit diese Einstellung im Studienverlauf transformiert wird, kann zu diesem Zeitpunkt keine abschließende Aussage formuliert werden. Sequenz 5 und eh ja, war erst mal auch total geschockt [Lachen], weil em wir dann auch Adorno gelesen haben em äh, ja die Klassiker halt einfach und ich äh also da schon geschluckt hab', auch schwer, Für Michaela wird die Lektüre Adornos im ersten oder zweiten Semester zum Schock, unabhängig von der Auswahl des gelesenen Werkes. Ihr Lachen und die gewählte lockere Formulierung „..äh, ja, die Klassiker halt einfach“ sollen den Abstand verdeutlichen, den sie hierzu ihrer Meinung nach heute hat. M. E. sind Texte Adornos wie die „Minima Moralia“, Adornos „Stichworte“, sogar Modelle wie die „Meditationen zur Metaphysik“ im Grundstudium durchaus lesbar. Insofern verdeutlicht Michaelas Reaktion zunächst ihre Ferne zu einem lektürebasierten Studium, dieses entspricht wiederum weder ihren Erfahrungen, noch dem vorab entworfenen Bild 28 Oevermann, 2000b, S. 17 ff. 92 des Studiums. Das Elternhaus vermittelte ihr Erzählungen aus dem Berufsalltag, die „großen Erzählungen“ der sozialwissenschaftlichen Sinnwelten sind ihr fern. Im Weiteren ist es eine über den aktuellen Inhalt hinausweisende Abwehr des Neuen, aus der als eine sich reproduzierende Sinnstruktur Michaelas Meinung über sich selbst hervorgeht, etwa „so etwas Anspruchsvolles, das kann ich nicht“. Die panikartige Reaktion entsteht aus der subjektiven Ansicht, überfordert zu sein, das eigene Scheitern wird bereits in den ersten Vorlesungen antizipiert. Vermutlich wirkt hier eine doppelt irrige Bewertung, die anspruchsvollen Theorien werden höher gehängt als nötig, und Michaela kann mehr, als sie von sich selbst glaubt. Ich vermute, dass Michaela in das Studium hineinfinden wird, dass sie erfolgreich studieren und Spaß an Theorien und Methoden haben wird; auf das Studium und die Haltung zur Bildung bezogen, wird jenes transformatorische Potential des Neuen, des Erlernens neuer Sichtweisen und Strategien, greifen. Dadurch bekommt das erfolgreiche Studieren eine therapeutische Dimension, mit einer positiven Wirkung auf Selbstwert und -bild. Eine wichtige Frage, die sich im Anschluss an diese Hypothese für die Rekonstruktion der Fallstruktur stellt ist, ob diese Transformationsprozesse im Studium eine dauerhaft Wandlung des studentischen Habitus hin zur einer professionalisierten Haltung für die künftige Praxis markieren oder zur Makulatur werden gegenüber der Frustration an einem Studienangebot, das unvereinbar bleibt mit der Erwartung, ihre Erzieherausbildung mit psychologischen und soziologischen Theoriefragmenten als marginalen Überhang einer sonst theorielosen Praxis fortzusetzen. Wird es zu einer dauerhaften Wirkung der neu erworbenen (Lern-) Strukturen auf das Selbstbild und die Haltung zu Neuem kommen, oder bricht diese „Beschaffenheit der Seele, die durch Übung erworben wird“29 in den Anforderungen und Routinen der Sozialarbeit weg zugunsten dessen, was qua Studienstruktur der KHSA gerade überwunden werden soll, einer reflexions-, ethik- und vor allem theorielosen Praxis? Sequenz 6 weil ich erstens in diesen ersten Semestern überhaupt keinen Bezug gefunden hab' erstmal, weil ich immer nur soziale Arbeit - ja so - ich hatte denn Alltags- blick halt sehr drauf, so helfen, also der Beruf an sich. In den ersten Semestern ist eine Studienkrise angelegt, es gelingt nicht, einen Zusam- menhang zwischen den angebotenen Inhalten und einer imaginierten künftigen Praxis 29 vgl. Fehlhaber/Garz 1999, S. 294 93 herzustellen. Die Elemente der Fallstruktur, die in der vorausgehenden Sequenz deutlich wurden, der krisenhafte Studienbeginn und die zunächst begrenzte Offenheit gegenüber Neuem werden reproduziert. Interessant ist die mitgelieferte Begründung im spontan formulierten Nebensatz „weil ich immer nur soziale Arbeit..., so helfen, also der Beruf an sich“, diese ist Ausdruck einer Fixierung auf eine Vorstellung sozialer Praxis, die keine Passung zu den Methoden- und Theorie- angeboten zulässt. Michaelas Motivation für ihre künftige Praxis ist zunächst zu helfen, etwas zu tun, praktisch zu arbeiten. Zum Teil basierend auf Einflüssen der Eltern, deren Erzählungen und deren vorgelebter pädagogischer Alltag Einfluss auf das Praxisbild genommen haben werden, beginnt sie ihre Ausbildung mit dem so charakterisierten Entwurf „des Berufs an sich“. Die gewählte Formulierung könnte bedeuten, dass die ursprünglichen Berufsvorstellungen zumindest teilweise weiterbestehen und weist in jedem Falle auf eine strikte Trennung von Beruf und Theorie hin. Der „Alltagsblick auf den Beruf an sich“ ist eine Umschreibung für jene kollektive Sicht auf soziale Arbeit, der zufolge ein wissenschaftliches Studium nicht erforderlich ist und psychologische und soziologische Wissensbestände den Praktikern eher gewisse Mitsprachemöglichkeiten gegenüber Vertretern anderer Professionen verschaffen, als dass sie praxisrelevant wären. In dieser ersten Studienphase trennt Michaela zwischen theoretischem, methodischen Wissen und der Sozialarbeit als dem „Beruf an sich“, jenem von Theorien, Methoden und Ethik enthobenen genuinen Helfen-Wollen, das für die Vorannahmen zum Studien- beginn signifikant war. Bereits der Kontext dieser Sequenz, die Intention, eine offene Beschreibung des Studienprozesses zu geben, verdeutlicht, dass in der Selbstsicht dieses erste Modell verworfen und mutmaßlich durch rekonstruktive und professionstheo- retische Kenntnisse ersetzt wurde. Im Sinne Oevermanns Postulats der Betrachtung von Lebenspraxis als im Normalfall krisenhaft, sind nun die Möglichkeiten einer Transformation, Reproduktion oder Regression der divergierenden Modelle zur künftigen Praxis gegeben. Das im Studium erworbene elaborierte Modell könnte im Übergang in eine theorielose Praxis ebenso in Vergessenheit geraten, wie im Bemühen, Praxis und Fall zu verstehen, eine erneute Hinwendung zu theoretischen Modellen und rekonstruktiven Methoden möglich wäre. 94 Sequenz 7 Hab' em erstmal 'ne Zeit gebraucht, bis ich dieses Theoretische da halt auch verknüpfen konnte. Und em ja, hab' dann em am Anfang em erstmal versucht das so alles aufzunehmen, was so gekommen ist, und im Hauptstudium hat sich dann für mich erstmal auch äh gezeigt, so das Interesse, mich zu spezialisieren auf bestimmte Sachen. „Hab' em erstmal 'ne Zeit gebraucht, bis ich dieses Theore- tische da halt auch verknüpfen konnte“: Zum Hauptstudium hin gelingt es der Studentin, eine Beziehung zwischen Theorieangeboten und der sozial- pädagogischen Praxis herzustellen. In dieser Sequenz wird deutlich, dass die Praxisorientierung des „Berufs an sich“ modifiziert wird, der Sinngehalt einer Theorie allerdings ist noch in in ihrer unmittelbar praktischen Anwendung begründet. Die Haltung der Studentin zum Studienbeginn, etwa „ich nehm' jetzt erst mal mit, was so kommt“, wie auch der im folgenden beschriebene Prozess, sind exemplarisch für viele Studierende. Im Kontext der Erzieherausbildung und des pädagogischen Milieus des Elternhauses allerdings ist der krisenhafte Studienbeginn ungewöhnlich, auch die höher gesteckten Anforderungen in der Theorie sollten für Michaela bei ihrem Hintergrund keine Überraschung sein. Aus den zunächst als zusammenhanglos erlebten Theorie- fragmenten wird ein Praxisbezug entwickelt und ein erstes Strukturbild der Fachkultur geformt, Zuordnungen und Ableitungen gelingen, in der studentischen Arbeit beginnt die Ausformung eines studentischen Habitus. „...und im Hauptstudium hat sich dann für mich erstmal auch äh gezeigt, so das Inter- esse, mich zu spezialisieren auf bestimmte Sachen.“ Hier wird ein Gedankengang nicht zu Ende geführt, der Satz könnte beispielsweise lauten „... und im Hauptstudium hat sich erstmal auch gezeigt, dass ich mit der Theorie doch ganz gut zurecht komme.“ Doch diese Ebene der Verarbeitung des Studienprozesses im Erzählfluss wird umschifft, die Erzählerin schöpft nun aus dem im Studium neu erworbenen narrativen Kapital und führt spontan den Inhalt der interessengeleiteten Spezialisierung ein. Die Beschreibung des weiteren Studienprozesses bleibt vage, die Studienmotivation wandelt sich, vom dem zunächst minimalistischen Anspruch aufzu- nehmen, was geht, hin zu einem interessengeleiteten Studium, in diesem Prozess wird auch jenes Bild eines theorielosen Helfen-Wollens überformt. 95 Sequenz 8 Und em, fand's dann halt auch spannend, em dieses Wissenschaftliche, was wir em und Methodische, was wir da in den Vorlesungen gehört hatten, auch in diesen Explorationen em auch anwenden zu können. Nach wie vor schwingt eine ambivalente Haltung der Person zu Wissenschaft und Methoden mit sowie eine Bewertung, etwa „die Theorien und Methoden zu hören, das ist das eine, diese in der Praxis anzuwenden, das zählt.“ Es ist nun nicht mehr das Bild „des Berufs an sich“, das Michaela motiviert, vielmehr das Bedürfnis, die Inhalte der Methodenangebote anzuwenden, für die Studentin bekommen die theoretischen Inhalte erst mit der eigenen praktischen Anwendung einen Sinn. Die Explorationen, auf die sich Michaela hier bezieht, sind qua Studienordnung der KHSA als eigenes Lernfeld zur explorativen Erkundung der Interventions- und Organisationsformen sozialer Arbeit vorgesehen. Nach den Erzählungen der Eltern, der Erzieherausbildung und circa fünf bis sechs Semestern Vorlesungen, will Michaela nun endlich die erlernten Inhalte an der Praxis erproben. Die Lesart einer Studentin, die nach wie vor praktisch arbeiten, helfen will und der die Theorien zur Hürde auf dem Weg werden, greift hier nicht, Michaela berichtet stimmig, dass sie die Anwendung der Methoden spannend fand. Zentrales Ziel dieses Studienteils ist das Verstehen des Einzelfalls und der Organisationsstrukturen, insofern liegt ein vorläufiger Wandel der objektiver Motiviertheit im Studium hin zu einer theorie- beziehungsweise methodengestützten Praxis vor. Nach meiner Auffassung greift hier das didaktische Lernziel der Methodenausbildung an der KHSA, mit einer pragmatischen Haltung geht Michaela vom Verstehen des Einzelfalls beziehungsweise Explorationsfeldes aus, bevor sie Theorie und Interventionsverfahren an den Fall anlegt. Strukturhypothese Michalea trifft bereits in der Adoleszenz die Entscheidung zu einer Erzieherausbildung, dieses frühe Interesse an Sozialem wird genährt durch den pädagogischen Hintergrund der Eltern. Das Strukturbild, das von Michaela entsteht, beinhaltet eine Kontinuität sozialen Interesses, die Studienaufnahme wird zur Fortführung des roten Fadens ihrer Biografie. Bei der Wahl zwischen Bildung (Fachhochschulstudium) und Praxis (Erziehertätigkeit), entscheidet Michaela sich für das Studium Sozialarbeit/Sozial- pädagogik und stellt sich hiermit zwischen dem Lehrerberuf des Vaters und der Erziehertätigkeit der Mutter auf. Die Studienwahl ist auch eine Entscheidung für ein Heimspiel im scheinbar vertrauten pädagogischen Milieu und in der gewohnten 96 Umgebung des Elternhaus, eventuell ist sie zusätzlich durch den Wunsch nach Nähe zum Partner motiviert. Folgt man Michaelas Vorannahmen, so wartet im Studium vor allem Vertrautes auf sie, ihre Kenntnisse der Praxisfelder, soziologischer und psychologischer Theorien, vermitteln vorab ein Gefühl der Sicherheit. Ein Motiv der Vorannahmen ist die Hoffnung, mit einer Reproduktion von Lern- und Arbeitsroutinen auf einem leichten Weg zum Diplom durchzustarten, die Enttäuschung mündet in einer Krise des Neuen, die zum Katalysator eines Lern- und Entwicklungsprozesses wird. Eine positive Struktur an der Fachhochschule und im sozialen Milieu stützen die Studentin in dieser Situation. In den Schoß gefallen ist Michaela Meier das Studium nicht, mehrfach ist sie zunächst „geschockt“ von den Inhalten, hat sich bei Vorlesungen zu Adorno möglicherweise gedacht, „warum hab' ich keine Stelle als Erzieherin angenommen“, stellt sich jedoch den Studienanforderungen, hat im weiteren Erfolgs- erlebnisse und entwickelt eine Beziehung zur Theorie. Entsprechend werden auch die Methodenangebote an Katholischen Hochschule für Soziale Arbeit Saarbrücken zunächst zur Überraschung, der Einstieg in die Methodenlehre bereitet Schwierigkeiten. Das Krisenhafte des Studienbeginns liegt, im Sinne von Charles Sanders Peirce, mitbe- gründet auf der Ebene der Drittheit von Realität, der Beziehung zwischen der Interpre- tantin und der Wirklichkeit, konkret in den Vorannahmen zum Studium und der einher- gehenden Haltung gegenüber der Studienrealität. Der krisenhafte Beginn wird im Hauptstudium durchbrochen, Michaela beginnt positiv motiviert eine interessengeleitete Auseinandersetzung mit Theorien und Methoden und erhält hierfür Anerkennung. Sie führt ihr Studium nicht als ein Vermeidungsstudium im Verharren auf bekanntem und daher sicheren Terrain, vielmehr entwickelt sie im Hauptstudium ein wissenschaftliches Interesse mit anspruchsvollen theoretischen Schwerpunkten, beschäftigt sich mit Professionstheorien sowie den Methoden der objektiven Hermeneutik und der Fallre- konstruktion der sozialen Arbeit. Die Versöhnung mit den Studieninhalten basiert auch auf deren selbständiger und praktischer Anwendung. Michaelas Lerninteressen im Hauptstudium verweisen auf eine Transformation der Lernhaltung hin zu einem Interesse, soziale Wirklichkeit zu verstehen, ihr Interesse eigener Methodenkompetenz und -anwendung kennzeichnet einen Wandel der objektiven Motiviertheit im Studium, hin zu einer theorie- beziehungsweise methodengestützten Praxis. Als Typus ist Michaela keine ausgeprägte Narzistin, im Gegenteil bleibt sie mit ihrem Selbstbild hinter 97 ihren objektiven Möglichkeiten zurück. Nach einem selektiven Theoriestudium wendet sie sich qualitativ-empirischen Methoden zu und ist als objektive Hermeneutin nun vorrangig an einem strukturanalytischen und rekonstruktionslogischen Verstehen des Einzelfalls interessiert. Der studentische Habitus beinhaltet die im pädagogischen Milieu der Herkunftsfamilie vermittelten Kompetenzen, jene grundlegenden Werke der Pädagogik und Entwicklungspsychologie, die in den ersten Semestern als Pflichtlektüre angeboten werden, unter anderem Theorien der Frankfurter Schule und des symbolischen Interaktionismus sowie Kenntnisse soziologischer Theorien pädago- gischer Professionalität und ein strukturanalytisch-rekonstruktives Fallverstehen. Insofern kommt sie dem im Begriff des Habitus implizierten Postulat, die Mehrzahl der typischen Gedanken, Wahrnehmungen und Handlungen einer Fachkultur erzeugen zu können, sehr nahe. Überprüfung der Strukturhypothese Sequenz 9 Also zu sehen, dass es wirklich äh net nur Methodik ist, die dann halt äh erklärt wird, sondern, dass man da selbst das ausprobieren kann. Wir haben's dann- also wir haben vier em vier Explorationsgebiete, es geht drum em em Organisationen zu untersuchen, Zielgruppen, em Sozialräume Als zweiundzwanzigjährige Studentin, mit nunmehr insgesamt sechzehn Schul- und Ausbildungsjahren, möchte Michaela nun endlich praktisch tätig werden und sich selbst praktisch tätig erfahren. Die Formulierung „also zu sehen, dass es wirklich net nur Methodik ist, die dann halt erklärt wird...“, transportiert die in einigen besuchten Seminaren aufgebaute Frustration, dass Lehrinhalte ohne eine Verbindung zur Empirie abstrakt bleiben. In diesem Sinne wird das Bedürfnis nach einer stärkeren Verbindung von Lehre und Praxis und das einer Überprüfbarkeit des eigenen Lernens, nicht nur über Referate und Tests, sondern auch hinsichtlich persönlicher und praxisrelevanter Kompetenzen, an die Fachhhochschule herangetragen. Im ersten Satz dieser Sequenz, „also zu sehen, dass es wirklich äh net nur Methodik ist, die dann halt äh erklärt wird, sondern, dass man da selbst das ausprobieren kann“, setzt sich jene im Studienprozess erarbeitete Struktur einer Motivierheit fort, die im Sinne des Curriculums der Fachhhochschule einen theoretisch und interpretativ gestützen Praxiszugang anstrebt. 98 4.4 Rekonstruktion des Interviews „Ulrich“ 4.4.1 Abschnitt 1, Interpretation der objektiven Daten Sequenz 1 Ulrich, geboren am 18.06.1980 in Saarbrücken Ulrich ist zur Zeit der Datenerhebung im Dezember 2005 fünfundzwanzig Jahre alt, aufgewachsen im Saarland, in Saarbrücken oder Umgebung, schließt er, 1980 geboren, je nach Schultyp, seine Schulzeit zwischen 1996 und 2000 ab. Im Anschluss, nach Wehrpflicht oder Zivildienst, beginnt er eine Lehre oder ein Studium. Entsprechend fortgeschrieben, könnte Ulrich im Jahr 2005 fünfundzwanzigjährig vor dem Abschluss eines Studiums oder seit circa fünf Jahren im Erwerbsleben stehen. Im Sinne einer Normalitätsunterstellung befindet Ulrich sich im Jahr 1986 in der Adoleszenz, sofern er an den Einflüssen eines Milieus der Jugendkulturen partizipierte, könnten durch Einflüsse von Musikrichtungen wie Gothic Rock und politische Gruppierungen wie die der Autonomen erste Impulse für die Auseinandersetzung mit gesellschaftlich und sozialisatorisch vermittelten Regeln, Werten und Normen entstanden sein, die möglich- erweise die Basis eines bunten biografischen Entwurfs bilden. Ein Ereignis von allge- meinem gesellschaftlichen Interesse während der Adoleszenz des Erzählers war das 1996 verabschiedete Exportverbot für britisches Rindfleisch aufgrund der BSE- Erkrankung von Rindern, der bovine spongiforme Enzephalopathie. Auslöser dieser 1986 in England erstmals beschriebenen Infektionserkrankung, bei der auf dem Über- tragungsweg über die Nahrungskette beim Menschen eine neue und tödlich verlaufende Variante der Creutzfeld-Jakob-Krankheit ausgelöst wird, ist das Verfüttern von konta- minierten Tiermehl. Der Konflikt zwischen Tschetschenien und Russland begleitete Ulrich als medienvermitteltes Ereignis während seiner Pubertät, nachdem Tsche- tschenien sich zum unabhängigen Staat erklärt hatte, entsandte Russland 1994 Truppen in das Gebiet. In den nächsten vier Jahren bis zum Waffenstillstand von 1996, dem Zeitpunkt der Adoleszenz, fielen diesem Konflikt etwa 80000 Menschen zum Opfer. Mit dem im August 1996 verkündeten Waffenstillstand zogen sich die russischen Truppen zurück, die zentrale Frage des Konflikts, die der Unabhängigkeit Tschetscheniens, wurde sowohl bei dem Vertrag zum Waffenstillstand, als auch beim 1997 geschlossenen Friedensvertrag ausgeklammert. In den Jahren der Postadolseszenz war es vor allem die Globalisierung und deren kritische Rezeption, die Menschen bewegte und vereinte, im Spektrum alternativ-linker Zusammenschlüsse formierte sich 1998, ausgehend von der 99 französischen Protestbewegung gegen Arbeitslosigkeit, das Bündnis Attac, „Association pour une Taxation des Transactions financières pour l'Aide aux Citoyens“, übersetzt „Verein für eine Besteuerung von Finanztransaktionen zum Wohle der Bürger“. Im Zuge der Kritik an neoliberalen Kräften und an Praktiken multinationaler Konzerne, ist Attac engagiert für eine demokratische Kontrolle der Finanzmärkte, für die Sicherung der Sozialsysteme und der öffentlichen Vorsorge, bearbeitet werden neben anderen auch ökologische Themen. Sensibilisiert durch geschichtlichen und sozialkundlichen Unterricht sowie Diskussionen innerhalb von Peergroups, könnte Ulrich als Jugendlicher im Prozess einer ethisch-moralischen Aneignung der Welt, wie er sie vorfindet, in Saarbrücken Anschluss an eine Gruppe gefunden haben, für die im Sinne Attacs eine Kritik und Bearbeitung der bestehenden Verhältnissen zentrales Anliegen ist. Sequenz 2 Familienstand ledig, keine Kinder, keine Geschwister Zunächst sind verschiedene Modelle von Lebenspraxis, Gestaltung der sozialen- und der Wohnsituation denkbar. Als Einzelkind aufgewachsen, könnten im Zuge einer über- behütenden Erziehung eine ausgeprägte Ichbezogenheit, mangelnde empathische Fähigkeiten und Lerndefizite hinsichtlich Anpassungs- und Konkurrenzsituationen entstanden sein. Reaktiv hat Ulrich sich eventuell eingerichtet in ein Wohnen „all inclusive“ bei den Eltern, in vertrauten und gewachsenen Strukturen lebend, geht er im Anschluss an eine Lehre einem handwerklichen Beruf nach. Möglicherweise lebt er ohne eine formal geschlossene Ehe mit einer Partnerin, ein Kinderwunsch könnte aus pragmatisch-ökonomischen Motiven zurückgestellt worden sein. Am wahrschein- lichsten ist meines Erachtens, dass Ulrich, in räumlicher Distanz zu den Eltern in Saarbrücken lebend, eine Vielzahl sozialer Kontakte in einem progressiven, politischen und studentischen Milieu unterhält. Aufgewachsen in einer Zeit gesellschaftlicher Prozesse der Entsolidarisierung und der Vereinzelung, in der neoliberalistische Ideolo- gien und Leitsätze wie „jeder ist für sich selbst verantwortlich“ als Botschaften des Zeitgeistes transportiert werden, wäre denkbar, dass in der Adoleszenz eine Such- bewegung nach praktizierten Werten von Gerechtigkeit und Kooperation sowie Entwürfe eines solidarischen Miteinanders Ulrichs Streben nach Autonomie begleiten. 100 Sequenz 3 Wohnort Saarbrücken, Wohnortswechsel von Bexbach nach Saarbrücken 1219 erstmals urkundlich erwähnt, entwickelt sich Bexbach nach Eisen- und Kohle- funden vom Bauern- zum Arbeiterdorf. Der Ausbau der großen Bergbaureviere in Deutschland, Saar, Ruhr und Oberschlesien begann etwa ab 1850, für den Transport stand ab 1849 die Bahnlinie Bexbach - Ludwigshafen bereit. Die beiden letzten Gruben, Bexbach und Frankenholz, wurden 1959 geschlossen, der Abbau eingestellt. Der Wohnsitz der Familie Sommer befindet sich in einer kleinen Stadt mit circa 19000 Einwohnern, fünfundzwanzig Kilometer nordöstlich von Saarbrüchen im Kreis Saar- Pfalz gelegen. Ulrich wächst in einem kleinstädtischen Milieu mit begrenzten Freizeit- angeboten für Jugendliche auf und orientiert sich früh nach Saarbrücken, das soziale Umfeld, das er dort aufbaut, ist ein Motiv für den Wohnortwechsel. Mit dem Umzug in die nächst gelegene größere Stadt Saarbrücken wird eine räumliche Trennung zum Elternhaus hergestellt, das mutmaßliche Hauptmotiv ist die Nähe zur Ausbildungs- oder Arbeitsstätte, weitere Beweggründe könnten das Interesse an einem größeren kulturellen Angebot und an gesteigerten Kontaktmöglichkeiten sein. Auf Grund der zentralistischen Infrastruktur des Saarlandes bleibt der von Ulrich gewählte Wohnortwechsel nach Saarbrücken bei dieser Motivlage ohne Alternativen. Eine gewisse Bodenständigkeit haftet dieser Entscheidung an, Ulrich bewegt sich in sozialen Strukturen und Räumen, die er noch nicht verlassen möchte. Sequenz 4 Vater geboren am 18.08.1938, aufgewachsen in Marpingen, Wohnort Bexbach seit 1980,Beruf Gastronom im Ruhestand Der Vater wächst in ländlichen Strukturen auf, er wechselt in dem selben Jahr in die nahe Kleinstadt, in dem auch sein Sohn Ulrich geboren wird. Mutmaßlich fielen die Familiengründung und die Geburt des Sohnes zusammen, eventuell war eine ungeplante Schwangerschaft der Auslöser dafür, dass aus einer locker geführten Partnerschaft mit getrennten Wohnungen und gemeinsam verbrachten Wochenenden die institution- alisierte Familie Sommer hervorging. Zum Zeitpunkt der Familiengründung und der Geburt des Sohnes war der Vater bereits zweiundvierzig Jahre alt. Insofern wird die Lesart wahrscheinlich, dass die kumulierenden Ereignisse im Jahr 1980 aus den Anstrengungen des Vaters hervorgingen, mit Kind, Heirat, Wohnortwechsel und der gemeinsam betriebenen Gastwirtschaft nun endlich die tragenden Säulen eines 101 Normalitätsentwurfs in der eigenen Lebenspraxis zu verankern. Die Bezeichnung Gastronom geht zurück auf eine Wortschöpfung französisch-griechischen Ursprungs, Gastronom bezeichnet zugleich den Anbieter der so genannten feinen Küche, als auch die Tätigkeit im Gaststättengewerbe, den Wirt. Ulrich wächst als Einzelkind in der Kleinstadt Bexbach auf, von den Eltern wird eine Gastwirtschaft, eventuell mit angeschlossenem Restaurantbetrieb geführt, deren Erwerb um den Zeitpunkt der Geburt des Sohnes die Familiengründung möglicherweise durch die Aufnahme eines größeren Kredites belastete. Die ersten Erfahrungen des jungen Ulrich mit Erwachsenen könnten jene mit den bereits morgens alkoholisierten Besucher der Gaststätte gewesen sein, die ihm vermittelten, dass der Zustand des Rausches ein Aspekt von Normalität ist und eine latente Bereitschaft zu suchtfördernden Verhaltensdispositionen anlegten. Marpingen und die Nachbarorte Alsweiler, Berschweiler und Urexweiler sind seit 1974 zu einer Einheitsgemeinde im Landkreis St. Wendel zusammengefasst. Die Marien- erscheinung im Härtelwald bei Marpingen von 1876 verschaffte dem kleinen Ort den Ruf eines „deutsches Lourdes“, im Juli 1876 wurde das Dorf von der preußischen Armee besetzt und eine Pilgerschar von über 1500 Personen auseinander getrieben. Über einhundertzwanzig Jahre später, im Jahr 1999, werden mehrere weitere Marien- erscheinungen angegeben, die wiederum zu einem Besucher- bzw. Pilgerstom von einigen zehntausend Menschen führten, allein im Zuge der Marienerscheinung vom Oktober 1999 umfasste der Besucherstrom 35000 Personen. Die katholische Kirche ist mit der Prüfung der Echtheit der Erscheinungen befasst, einstweilen soll per Anordnung des Gerichts das Gelände, auf dem von einem Förderverein die Wallfahrtsstätte im Härtelwald betrieben wird, an die Gemeinde zurückgegeben werden. Sequenz 5 Mutter, geboren am 14.04.1952, in / Wohnort Bexbach seit 1980,Beruf Gastronomin Der Schrägstrich / kennzeichnet die fehlende Angabe zum Geburtsort der Mutter und ist insofern auffällig, als vermutlich nicht aus fehlender Kenntnis, sondern aus anderen Motiven die Angabe unterblieb. Im Sinne der Lesart, dass auch die Mutter eine gebürtige Saarländerin ist, lassen sich nicht ohne weiteres objektive Beweggründe für diese Unterlassung finden, subjektiv ist diese Angabe unter Umständen als zu persönlich empfunden worden. Zum Zeitpunkt der Geburt Ulrichs kumulieren die Ereignisse der jungen Familie Sommer. Beide Eltern ziehen nach Bexbach, möglicherweise führt eine 102 ungewollte Schwangerschaft zu einer existentiellen Krise des Paares und zu einer nicht geplanten Familiengründung. Hypothetisch könnte eine Schwangerschaft ohne Ehe- schließung zu Konflikten mit den Eltern und zur sozialen Ächtung bei Teilen der Bewohner des kleinen Marpingen führen und so zum Motiv des Wohnortwechsels werden. Auffällig ist der Altersunterschied des Paares von knapp 14 Jahren. Auch die Mutter ist im Alter von 28 Jahren aus der Perspektive der in ländlichen Gemeinden üblichen Normalitätsunterstellungen spät dran mit der Umsetzung ihrer Familien- planung. Vermutlich kommt es von Seiten der Eltern der achtundzwanzigjährigen werdenden Mutter zu Einwänden gegen die Partnerschaft mit dem vierzehn Jahre älteren Kneipier, begründet mit dessen Lebensalter; wir wissen nicht, welches Image Ulrichs Vater vor Ort anhaftet, dieses könnte zusätzlich eine ablehnde Haltung der Eltern gegen die Verbindung provozieren. Mutmaßlich übernehmen Ulrichs Eltern zu diesem Datum oder in den folgenden Jahren eine Gaststätte mit Restaurantbetrieb in Bexbach. Ein Motiv des Umzugs nach Bexbach könnte sein, dass der vierzehn Jahre ältere Ehemann mit Berufserfahrung als Wirt anlässlich von Schwangerschaft und Familiengründung gemeinsam mit Ulrichs Mutter nach einem eigenen Betrieb suchte und diesen in Bexbach fand, einhergehend mit dem potentiellen Konflikt zum Elternhaus der Mutter und einem möglicherweise beschädigten Image vor Ort war der Wohnortwechsel in der Region aus der Sicht des Paares die ideale Problemlösung. Ulrichs Geburt kommt eine herausragende Stellung für das Geschick der Familie Sommer zu. Durch das gemeinsame Arbeits- und Familienleben ist für den Alltag des Ehepaares Sommer eine über den ganzen Tag währende Gemeinschaft charakteristisch, diese bringt, bei fehlenden Ausweichmöglichkeiten, ein gesteigertes Konfliktpotential mit sich. Ulrich wächst ohne Geschwister in einem bildungsfernen familiären Milieu auf, den Eltern bleibt bei einer selbständig betriebenen Gaststätte wenig Zeit, die sie gemeinsam mit ihrem Kind verbringen können, er ist mutmaßlich früh auf sich allein gestellt und die Lesart einer überbehütenden Erziehung wird wenig wahrscheinlich. Sequenz 6 Schulbesuch von 1986 – 1996 Grundschule, Gesamtschule Im Anschluss an die Grundschule besucht Ulrich die Gesamtschule in Bexbach, verlässt diese im Alter von sechzehn Jahren mit dem Mittleren Bildungsabschluss. Die Daten zur Schulzeit sind unauffällig, Ulrich erreicht den Abschluss der elften Klasse ohne eine 103 Jahrgangsstufe zu wiederholen. Weder von Seiten des Elternhauses, noch vom Lehr- körper wird er motiviert, sich auf das Abitur vorzubereiten, das von der Bexbacher Gesamtschule bereitgestellte Angebot der Vorbereitung und des Wechsels in die gymnasiale Oberstufe wird nicht an ihn herangetragen und entsprechend auch nicht wahrgenommen. Als Zusatzinformation wird eingeführt, dass Ulrich an der Katholischen Hochschule für Soziale Arbeit in Saarbrücken studiert und zur Zeit der Datenerhebung im Dezember 2005 einige Monate vor dem Anschluss des Studiums steht. Ulrich erlangte die Hochschulreife auf dem zweiten Bildungsweg, nachdem er mit dem Mittleren Bildungsabschluss im Alter von sechzehn Jahren eine Ausbildung in einem Lehrberuf wie Tischler, Gärtner etc. begann. Eine Lesart zur Ausbildungs- biografie des Erzählers wäre, dass der von Studierenden des Faches Sozialpädagogik an Fachhochschulen häufig gewählte Weg von der Real- und Fachoberschule über eine Erziehertätigkeit dem Studium vorausging, so wäre unter Umständen aus einer sozialen Praxis heraus die Entscheidung für ein Studium als Medium einer künftigen professionalisierten Praxis getroffen worden. Fraglich ist, für welche Form des Wohnens in Saarbrücken Ulrich sich entschied, für das Toleranz und kooperatives Handeln fördernde Zusammenleben in einer WG, mit einem vergleichsweise hohen Ablenkungsfaktor gegenüber dem Studium, für ein Studentenwohnheim, das Kontakt- und Rückzugsmöglichkeiten bietet, für das Zusammenleben mit einer Partnerin, oder das Modell der Singlewohnung mit begrenztem, auf den studentischen Geldbeutel zuge- schnittenen Wohnraum. Sequenz 7 Lehre von 1996 – 1999, Hotelfachmann Die erste Ausbildung zielt ab auf einen Berufsweg in den Fußspuren der Eltern, sie sollte Ulrich Einblicke und Kompetenzen für die Mitarbeit und spätere Übernahme der elterlichen Gastronomieeinrichtung vermitteln, eventuell war eine Erweiterung zum Hotelbetrieb in diesem ersten intrafamilialen Lebensentwurf von Ulrich als mögliches Fernziel gesetzt. Für Ulrichs Erzählung greift die Interpretation der Herkunft aus einem nicht-akademischen Elternhaus, die eine Begründung liefert, sowohl für die Wahl des Studiengangs, eines handlungsorientiertes Faches, als auch des Studienortes, bevorzugt wurde nicht eine renommierte Universität, sondern die Fachhochschule vor Ort. Die Universität des Saarlandes mit Sitz in Saarbrücken wäre mit dem dort angebotenen Studiengang Erziehungswissenschaften eine Alternative zum Fachhhochschulstudium an 104 der Katholischen Hochschule für Soziale Arbeit, allerdings wäre hierfür ein zweijähriger Schulbesuch bis zur allgemeinen Hochschulzugangsberechtigung erforder-lich. Wir wissen nun, dass der Entscheidung für das Fachhochschulstudium Sozial-pädagogik eine intentional mit dem elterlichen Betrieb gekoppelte Ausbildung zum Hotelfachmann vorausging, damit wird ein Aufstiegsmotiv wenig wahrscheinlich, Gründe könnten vielmehr die Auseinandersetzung mit dem Vater, eine entwicklungs-bezogene Selbstsicht und der Wunsch, den eigenen Horizont zu erweitern oder auch ein Rückgang der Umsätze in der elterlichen Gastronomie sein. Zwar ist der Wechsel vom Hotelfachmann zum Sozialpädagogen zunächst scheinbar ein radikaler Interessens- wandel, im Kontext der Hypothese einer sozialtherapeutischen Betreuung der Gäste im elterlichen Betrieb, einer naturwüchsigen Form der Lebensberatung zu Partnerschafts- problemen, Erziehungsfragen, zur Lebensgestaltung etc., sind möglicherweise in der Primärsozialisation latente Muster des Helfens oder auch Antimodelle bei Ulrich angelegt worden. Sequenz 8 Zivildienst von 1999 – 2000 Der erste historisch erfasste Kriegsdienstverweigerer, der heiliggesprochene Maximilian von Teveste, der aus religiösen Motiven den Dienst in der römischen Armee ablehnte, wurde 295 n. Chr. hingerichtet. Diese Praxis der Bestrafung setzte sich in Deutschland fort bis vor knapp sechzig Jahren. Die Desertation blieb über Ären die einzige Möglichkeit, sich dem Zivildienst zu entziehen, als erstes Land führte Dänemark 1917, gefolgt von Finnland, Holland und Norwegen, den Wehrersatzdienst ein. Seit 1949 garantiert Artikel 4 des Grundgesetzes [Glaubens- und Bekenntnisfreiheit] Abs. (3) das Recht auf Kriegsdienstverweigerung: "Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden. Das Nähere regelt ein Bundesgesetz." Die damals als Ersatzdienst bezeichnete Alternative zum Wehrdienst wurde im Jahre 1956 geschaffen, am 10. April 1961 traten die ersten 340 anerkannten Kriegsdienst- verweigerer, nachdem sie im Prozess der peinlichen Gewissensbefragung ihre Aner- kennung erhalten hatten, den Dienst ohne Waffe an. Im medialen und bürgerlichen Mainstream wurden sie vielfach als "Drückeberger" und "Vaterlandsverräter" bezeich- net. Der langwierige Prozess einer Zunahme an Akzeptanz des Zivildienstes erhielt erste Impulse, als zur Regierungszeit Willy Brands 1973 der Ersatzdienst in Zivildienst umbenannt wurde, zehn Jahre später fiel das mündliche Anhörungsverfahren weg. Im 105 Zuge des Wandels gesellschaftlicher Werte, von Liberalisierungsprozesse, die zurück- gehen auf die Friedensbewegung und die von der 68er-Generation initiierte Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit, stiegen Akzeptanz und Inanspruchnahme der Alternative zum Wehrdienst. Im Jahr 2004 stehen 131.000 Wehrdienstleistenden 100.000 Zivildienstleistende gegenüber, von diesen sind 80 % in sozialen Einrichtungen tätig. Der biografische Abschnitt des Zivildienstes fällt altersangemessen zusammen mit einem Moratorium, in dem unter anderem der Entwurf des künftigen Erwachsenen-lebens erneut bearbeitet wird. Legt man die bisher bekannten Daten zugrunde, so ist Ulrich vermutlich im Zivildienst erstmals mit sozialen Tätigkeiten in Berührung gekommen, eine weitere neue Erfahrung dieses Abschnitts ist die einer längerfristigen räumlichen Distanz zum Elternhaus. Nun wird jenes Autonomiepotential freigesetzt, das zu neuen Sichtweisen und einer Abkehr von diesem ersten, im familialen Kontext entwickelten berufsbiografischen Entwurf führt und im neuen Berufsziel sozial-pädagogischer Arbeit mündet. Gerade im Hinblick auf die familiäre Verstrickung des ersten Entwurfs ist diese Veränderung des Planungshorizontes verständlich, interpretationsbedürftig wäre allerdings, wenn sich mit der nächsten lebensweltlichen Erfahrung die beruflichen Ziele erneut ändern sollten. Hypothetisch könnte die Vorannahme einer sinnvermittelnden Praxis, die über eigene existentielle und materielle Ansprüche hinaus auf eine ethische Dimension von Lebenspraxis abzielt, zur Studienaufnahme motivieren. Insofern diese zunächst weniger auf Karriere oder ein Bildungsideal, als vielmehr auf den künftigen Beruf ausgerichtet ist, wählt Ulrich den kürzeren Weg über die Fachhochschule. Der im Zivildienst entwickelten leitenden Praxisvorstellung folgend, qualifiziert er sich mit dem einjährigen Besuch der Fachoberschule für das Studium an der KHSA. Beratung und Vorabinformationen, die von der Familie nicht gegeben werden, holt Ulrich im Bekanntenkreis und eventuell bei einer Studienberatung ein. Sequenz 9 Studium 2001 – 2006 Studium der sozialen Arbeit Zwischen dem Ende des Zivildienstes im Jahr 2000 und dem Studienbeginn liegt die in den objektiven Daten nicht erwähnte Zeit, in der Ulrich auf einer Fachoberschule die Zugangsberechtigung für sein Fachhochschulstudium erwarb. Für den Besuch der Fachoberschule sind zwei Modelle möglich, mit Realschulabschluss und einer mindestens zweijährigen Ausbildung kann die Fachhochschulreife einphasig, über den 106 direkten Einstieg in das zwölfte Schuljahr erworben werden, im anderen Falle schließt der zweijährige Besuch nach dem Realschulabschluss an die Klasse zehn an. Mit dem Mittleren Bildungsabschluss und der Ausbildung zum Hotelfachmann nimmt Ulrich die Möglichkeit des Einstiegs in die Klasse zwölf wahr. Die biografischen Angaben fügen sich so zu einem bruchlosen Verlauf bis zur Datenerhebung, auf den Schulbesuch bis zum Realschulabschluss folgt der Zivildienst, im Anschluss erwirbt Ulrich mit einem einjährigen Schulbesuch die Berechtigung zum Fachhochschulstudium und immatri- kuliert sich an der Katholischen Hochschule für Soziale Arbeit Saarbrücken. Als Regelstudienzeit gibt die Prüfungsordnung mindestens acht Semester an, diese Zeit darf um maximal sechs Monate verlängert werden, diese Möglichkeit wird im vorliegenden Fall in Anspruch genommen. Diese sechsmonatige Verlängerung könnte zustande kommen durch einen einsemestrigen Auslandsaufenthalt, zum Beispiel an einer französischen Universität oder durch Schwierigkeiten zum Studienbeginn. Möglicher- weise erhält Ulrich nicht den vollen BAFÖG-Satz, keine oder nur eine geringe Unterstützung von den Eltern und arbeitet parallel zum Studium, um dieses zu finanzieren. Ebenso könnte er, hochmotiviert und interessengeleitet studierend, nicht auf einen schnellstmöglichen Studienabschluss und anschließende Berufsaufnahme abzielen, sondern dieses Extrasemester als Verlängerung seines Moratoriums nutzen. Im Hauptstudium sind im fünften und sechsten Semester zwei dem Lernfeld Berufliche Praxis sozialer Arbeit zugeordnete Praxissemester vorgesehen, die Studentinnen und Studenten erhalten zugleich mit dem Diplom die staatliche Anerkennung (§16 Studienordnung vom 1.10.1990) vom Minister für Frauen, Arbeit, Gesundheit und Soziales. Ulrich schließt Studium und Staatliche Anerkennung sechsundzwanzigjährig ab, familiär ungebunden sollte die Statuspassage in den sozialen Beruf (Ulrike Nagel) bei einer zielgerichteten Handhabung unproblematisch zur Berufseinmündung führen. Sequenz 10 Praktika in Jugendzentren Der Begriff der Jugend kennzeichnet zum einen den spezifischen Lebensabschnitt zwischen Kindheit und Erwachsenenalter, zum anderen die entsprechende soziale Gruppe im historischen und soziokulturellen Kontext. Vorformen von Jugend in der Antike und im Mittelalter unterschieden sich von der Gruppe der Jugendlichen, wie wir sie heute kennen, durch eine vollständige Inkorporation in die jeweilige Gesellschaft mit der Übernahme von Aufgaben wie Verteidigung und Verantwortung für Feste und 107 Brauchtum. Die Freisetzung der Jugend vom Zwang zur Mitarbeit in der Produktion schuf die äußeren Bedingungen für den Prozess von der sich Ausgang des 18. Jahrhunderts formierenden Jugendbewegung bis hin zum heutigen, gesellschaftlich immer weiter ausgestalteten Moratorium mit bestimmten Entwicklungs- und Lernaufgaben. (Kreft/Mielenz 1988, S. 288 f.) Im weiteren Sinn werden die von den Kommunen getragenen Einrichtungen der Jugendsozialarbeit mit Angeboten der Freizeitgestaltung für Kinder und Jugendliche als Jugendzentren bezeichnet, im engeren Sinne kennzeichnet der Begriff autonome Jugendzentren, von Jugendlichen selbst betriebene unabhängige Freizeiteinrichtungen. Dieser Einrichtungstypus entstand in der Folge der antiautoritären Protestbewegung als Reaktion auf das Fehlen nichtkommerzieller Angebote, beziehungsweise erkannter Defizite kommunaler und verbandlicher Freizeiteinrichtungen. Für die selbstverwalteten Jugendzentren gilt der Anspruch einer Formgebung des Betriebes durch die Benutzer, der Nutzung ohne Mitglieds- und Aktivitätszwang, der selbstbestimmten Freizeit- gestaltung und selbstorganisierter Lernprozesse mit gesellschaftspolitischen Inhalten. (Kreft/Mielenz 1988, S. 336) Für die Praktika wurden ausschließlich Jugendzentren gewählt, vermutlich bringt Ulrich Vorerfahrungen zumindest als regelmäßiger Besucher von Jugendzentren mit in das Studium und ist, wie schon Martin (Interpretation 1), festgelegt auf eine Tätigkeit in diesem Gebiet. Hypothetisch könnte diese berufliche Perspektive die Inhalte des Studiums dahingehend dominieren, dass alle bestehenden Wahlmöglichkeiten bis hin zum Thema der Diplomarbeit zugunsten der Jugendarbeit ausgeschöpft werden. Hiermit soll die Lesart geglückter Transformations- und Bildungsprozesse im Studium nicht verworfen werden, vielmehr lassen sich meines Erachtens beim jetzigen Stand der Interpretation hierzu noch keine Lesarten über die Reichweite des Spekulativen hinaus formulieren. Mit der Fokussierung des Praxisfeldes Jugendarbeit wählt Ulrich ein zentrales Thema, zu dem er mit einem Alter von einundzwanzig Jahren zur Zeit der Immatrikulation auch einen selbstbezüglichen Zugang hat, diese Komponente des Selbstbezüglichen auf der Ebene der Inhalte eröffnet ihm einen Zugang zur beruflichen Selbstreflexion als einem basalen Baustein des Projekts sozialpädagogischer Professionalisierung. Im Kontext des radikalen Wandels beruflicher Interessen, des inhaltlich Selbstbezüglichen und des Gewinns an Autonomie, den die Entscheidung für dieses Studium ermöglichte, ist mit einer intrinsischen 108 Motivation wahrscheinlich eine über das materiale Interesse hinausreichende Hingabe an die Sache, an Theorien und Jugendarbeit gegeben. Sequenz 11 Studienschwerpunkt ästhetische Aneignungspro- zesse marginalisierter Jugendlicher im urbanen Raum30 Dem Hauptstudium sind die zwei Lernfelder „Berufliche Praxis Sozialer Arbeit“ und „Zielgruppenspezifische Soziale Arbeit“ zugeordnet, das fünfte und das sechste Semes- ter sind Praxissemester. Laut Studienordnung ist im Hauptstudium ein dem Feld „Zielgruppenspezifische Soziale Arbeit“ zugeordneter Studienschwerpunkt zu wählen. Die Struktur dieses Veranstaltungsblocks umfasst eine Vorlesung, ein Theorie-Praxis- Seminar und ein Fallseminar.31 Der Studienschwerpunkt trägt den Untertitel „'Mensch und Raum' im Prozess der dritten Moderne - Fallrekonstruktionen zur Struktur der Herausforderung durch die 'Verflüssigung des Sozialen'.“ Ausgehend vom Postulat der „empirischen Strukturerschließung menschlicher Lebenspraxis“ (Kraimer) wird eine fallrekonstruktiv orientierte Forschungspraxis eingeübt. Über die Strukturgenerali- sierungen und die Kontrastierung einer relevanten Fallreihe erfolgt die Einbettung in höher aggregierte Fallstrukturen und eine Typen- bzw. Theoriebildung.32 Der gewählte Studienschwerpunkt kommt in einem doppelten Sinne zur optimalen Passung mit Ulrichs Interessen, zum einen gilt seine theoretische Aufmerksamkeit der analytisch- kritischen Diagnose, darüber hinaus wird diese wird in Bezug gesetzt zum favorisierten Praxisfeld, der Jugendarbeit. So wird das Studium subjektiv als nicht-widersprüchliche Einheit praktischer, methodischer und theoretischer Interessen erlebt, einhergehend mit einer positiven Struktur an der FH und der regionalen Struktur des Heimspiels, sind Ulrich optimale Studienbedingungen und motivationsverstärkende Inhalte gegeben. 30 vgl. Interpretation III, objektive Daten, Sequenz 10 31 im Fallseminar werden konkrete Probleme/Fragestellungen aus der Praxis der sozialen Arbeit im Kontext der Sozialarbeitstheorie und der Interventions- und Organisationslehre interdisziplinär bearbeitet. Studienordnung der KHSA vom 1.10.1991, § 9.6, S. 5 32 vgl. Kraimer 2000, S.23-49 109 Sequenz 12 Theoretische Schwerpunkte Anomietheorie, Kritische Theorie Methodische Kenntnisse Fallrekonstruktion Anomie33 bezeichnet allgemein einen Zustand mangelnder sozialer Ordnung, im ausgeh- enden 16. und im 17. Jahrhundert wurde unter Anomie das Überschreiten religiöser Gesetze verstanden. Dem französische Philosoph Jean Marie Guyau (1854-1888) gilt das Fehlen apodiktischer und universeller Regeln als moralische Anomie, diese sei charakteristisch für die Ethik eines Zeitalters gesteigerten Wissens und Rationalität des Menschen. Emile Durkheim34 verwandte den Begriff der Anomie in seiner Studie über die sozialpathologischen Auswirkungen der Arbeitsteilung im Frühkapitalismus. Der Prozess fortschreitende Spezialisierung und Arbeitsteiligkeit mündet Durkheim zufolge in einen sozialen Zustand, in dem für alle gültige Regeln und Übereinkünfte aufgehoben sind, einem Zustand der Anomie. Durkheims Theorie der Anomie dient ihm als Erklärungsmodell für den signifikanten Anstieg der Suizidrate in einer Zeit durch Arbeitsteilung ermöglichter wirtschaftlicher Prosperität. Robert King Merton, der unter anderem das Begriffspaar Self-Destroying- und Self-Fulfilling-Prophecy einführte, untersuchte Dysfunktionionalität (1938) und differenzierte hierbei den Regelbegriff weiter aus, als Zustand sozialer Anomie galt nun eine „Dissoziation“ von Zielen und Mitteln. Der Begriff der Kritischen Theorie wurde 1937 von Max Horkheimer in der Schrift „Traditionelle und Kritische Theorie“ eingeführt. Dreiunddreißig Jahre später, wenige Wochen nach Adornos Tod, zog Horkheimer Bilanz über das nunmehr fast fünfzig- jährige Bestehen des Instituts für Sozialforschung und formulierte erneut das Grund- thema der Kritischen Theorie: „Es mangelt der Wissenschaft an Selbstreflexion, die gesellschaftlichen Gründe zu kennen, die sie nach der einen Seite etwa auf den Mond treiben, und nicht zum Wohl der Menschen. Um wahr zu sein, müsste die Wissenschaft kritisch zu sich selbst sich verhalten und auch zu der Gesellschaft, die sie produziert (Horkheimer 1981, S. 163).“ In diesem Sinne bezieht Adorno sich für die Aphorismensammlung „Minima Moralia“ explizit auf das Hegelsche Diktum des Geistes: 33 Hillmann 1994, S. 28ff., S. 547f. 34 Durkheim, Emile 1893, De la division du travail, Paris 110 „Das Leben des Geiste gewinnt seine Wahrheit nur, indem er in der absoluten Zerrissenheit sich selbst findet. Diese Macht ist er nicht als das positive, welches von dem Negativen wegsieht, wie wenn wir von etwas sagen, dies ist nichts oder falsch, und nun, damit fertig davon weg zu irgend etwas anderem übergehen, sondern er ist diese Macht nur, indem er dem Negativen ins Angesicht schaut, bei ihm verweilt (Hegel zit. n. Adorno 1991, S. 9).“ Horkheimer beschließt den Vortrag „Kritische Theorie gestern und heute“ 1970 in einem lebensweltlichen Sinne im Gedenken an seinen verstorbenen Weggefährten: „Worin besteht aber der Optimismus, den ich mit Adorno, meinem verstorbenen Freund teile? Darin, dass man versuchen muss, trotz alledem das zu tun und durchzusetzen, was man für das Wahre und Gute hält. Und so war unser Grundsatz: theoretischer Pessimist zu sein und praktischer Optimist (Horkheimer 1981, S. 175).“ Die Hypothese eines Studenten, der auf eine künftige Praxis der Jugendarbeit fixiert mit Scheuklappen jedweder Theorie anderen Inhalts aus dem Weg geht (Sequenz 10), kann nun aufgegeben werden, Ulrich ist, so denke ich, die Strukturlogik bekannt, in der Oevermanns Methode auf der Kritischen Theorie aufruht. Das Ensemble theoretisch- methodischer Kenntnisse, im Verbund mit jener spezifischen Sensibilität, die im gewählten Feld der offenen Jugendarbeit und auch in der Tätigkeit für Behinderte beim familienentlastenden Dienst gefordert ist, bilden eine Bündelung von theoretischen und persönlichen Kompetenzen, die als habituelle Formation über das basale Wissen sozialpädagogischen Handelns hinausweist. Sequenz 13 Nebentätigkeiten, Jobs Jugendzentren Hamburg und Neunkirchen, FED35 der Lebenshilfe Bereits während des Studiums erwirbt Ulrich vergleichsweise reichhaltige, auf Jugend- arbeit ausgerichtete Erfahrungen. Als Honorarkraft ist er über die Semesterferien in einem Hamburger Jugendzentrum tätig. Er kennt nun die Saarbrücker Jugendarbeit, die in Neunkirchen und Hamburg sowie die vernetzten Strukturen der Jugendhilfe im Saarland. Sein Praxisinteresse ist empirisch unterfüttert und ergibt zusammen mit den gewählten theoretischen Schwerpunkten, Kritischer Theorie, Anomietheorie und qualitativer Sozialforschung ein wohlgeformtes, sinnstrukturiertes Gebilde. 35 FED = Familien entlastender Dienst 111 FED der Lebenshilfe Der familienentlastende Dienst wurde eingerichtet für Familien mit einem geistig- oder mehrfach behinderten Kind. Die abrufbaren Dienstleitungen umfassen in der Regel stunden- und tageweise Betreuung und Förderung, darüber hinaus werden Angebote für einen längeren Zeitraum bereitgestellt. Konzeptionell sollen diese Angebote, auch in einem präventiven Sinn, Überforderung und Überbelastung von Familien auffangen helfen und so einer vorzeitigen Heimunterbringung entgegenwirken. Für Ulrich erhält diese Tätigkeit die Qualität eines Nebenjobs während des Studiums, auf diese Erfahrung wird nicht weiter Bezug genommen, sie bleibt für Ulrichs konzeptionelle Entwürfe der künftigen Praxis ohne Bedeutung. Dennoch ist diese Nebentätigkeit mit ihrem breit- gefächerten, zwischen Sozial- und Sonderpädagogik gelagerten Anforderungsprofil, bestens geeignet als Übungsfeld zur Aneignung eines professionellen Habitus. In diesem Sinne wird Ulrich hier ein beträchtliches Stück Arbeit an der eigenen Professionalisierung geleistet haben. Sequenz 14 Praxisinteressen 1. Weiterführendes Studium 2. offene Jugendarbeit 3. Forschung Für Ulrich, wie für viele Studierende des Faches Sozialpädagogik gilt, dass die Ausrichtung auf ein spezifisches Praxisfeld, in diesem Falle die Jugendarbeit, sich als ein roter Faden durch die Studienzeit zieht. In der Kinder- und Jugendhilfe wird unter dem Stichwort sozialraumorientierter Jugendarbeit das Prinzip eines nicht fall-, noch primär präventionsbezogenen Angebotes umgesetzt, Jugendlichen Räume zur Erkundung und Aneignung der Welt in einem nicht-repressiven und weitestgehend nicht durch Regeln, Ge- und Verbote vorstrukturierten Feld anzubieten. Hierzu wurden in den Bundesländern offene Einrichtungen geschaffen, exemplarisch für die Handlungsziele und leitenden Prinzipien der Praktiker ist im Konzept für die offene Jugendarbeit im Jugendzentrum KORA in Hamburg/Lohbrügge formuliert: „Unter offener Jugendarbeit verstehen wir zunächst, dass Jugendlichen Räume zur Verfügung gestellt werden, die sie freiwillig besuchen können, in denen sie sich mit Gleichaltrigen treffen, wo sie "in Ruhe" gelassen werden, aber wo die Mitarbeiter auch dazu anregen einen kommunikativen Raum zu entwickeln.“ „Mit unseren Angeboten wollen wir positive Erfahrungen vermitteln, die den Jugendlichen die Vorteile des 112 Agierens in der Gruppe und die gemeinsame Umsetzung der eigenen Interessen ermöglicht.“36 Im Saarland sind Zentren offener Jugendarbeit in einem Verbund zusammen- geschlossen, Ulrich konnte sich in seiner mehrjährigen Tätigkeit vertiefte Einblicke in dieses Tätigkeitsfeld und die Organisationsstrukturen verschaffen. Die aufgeführte Prioritätenliste biografischer Anschlüsse zeigt, dass die ursprüngliche intrinsische, aus lebensweltlichen Erfahrungen entsprungene Motiviertheit zur Jugendarbeit nachrangig geworden ist, gegenüber seinem Bildungs- und Forschungsinteresse. Als konkretes Nahziel, nach dem in einigen Monaten erreichten Abschluss, strebt Ulrich ein Universitätsstudium an, möglicherweise soll dieses über eine Tätigkeit in der offenen Jugendarbeit finanziert werden. Im Zuge der Bildungsprozesse im Studium und der sich eröffnenden Horizonte beginnt Ulrich mit biografischen Anschlussmöglichkeiten zu jonglieren, er wird zum Spieler im Raum regelgeleiteter Optionen. Die Frage nach den Praxisinteressen wird Ulrich in einer Zeit gestellt, in der für ihn das Studierende nahe ist und die Frage des Anschlusses konkret. Im Hinblick auf das Ziel einer Tätigkeit in der Forschung, das zunächst auf einer Wunschebene besteht, ist wahrscheinlich, dass Ulrich als weiterführendes Studium eine Immatrikulation in einem sozialwissenschaftlichen oder soziologischen Studiengang plant. Im Studienprozess verschieben sich die Interessen, war zunächst das Praxisziel der offenen Jugendarbeit für die Selbst- organisation des Studiums leitend und dominant, ist dies nun nachrangig geworden gegenüber einem Bildungsbedürfnis, gekoppelt mit dem Fernziel einer Praxis des Forschens. Ulrichs weitere Studienmotivation ist erfolgsorientiert, sie setzt auf ein gelungenes Studium und dort generierte Lerninteressen auf; sie ist vermutlich darauf gerichtet, den im Fachhochschulstudium entstandenen Faden in spezifischen Feldern wie der Kritischen Theorie und qualitativen Methoden wieder aufzunehmen und zu vertiefen. Ulrich schreibt zur Zeit der Datenerhebung seine Diplomarbeit, er schließt das Studium sechsundzwanzigjährig ab. Sollte er, wie geplant, ein Universitätsstudium der Sozialwissenschaften oder Soziologie anschließen, wird es nach weiteren fünf Jahren im Alter von etwa einunddreißig Jahren zum Berufseinstieg kommen. 36 Auszug aus: Konzept für die Offene Jugendarbeit im Jugendzentrum KORA (Hamburg/Lohbrügge) 113 Zusammenfassung der Interpretation der objektiven Daten: Aufgewachsen in der Kleinstadt Bexbach, zieht Ulrich nach Schulzeit, Lehre und Zivildienst nach Saarbrücken. Die Bildungsbiografie mündet zunächst im Mittleren Bildungsabschluss, Ulrich erteilt der institutionalisierten Bildung eine vorläufige Absage und beginnt die Ausbildung zum Hotelfachmann. Im Elternhaus sind Bildungswerte vermutlich nachrangig und werden entsprechend weniger gefördert, Ulrich wurde weder von dort, noch von der Schule zum Besuch der gymnasialen Oberstufe ermutigt. Entwürfe, wie sie bei einem Gymnasiasten in diesem Lebensabschnitt zu finden sind, etwa, ich studiere Jura, Chemie, werde Deutschlehrer oder Journalist, sind im fremd. Ulrich bewegt sich, mutmaßlich bereits in den letzten Jahren des Besuch der Gesamtschule in Bexbach, in verschiedenen Milieus der Jugendkulturen, kommt im Weiteren mit der antifa, mit antifaschistischen Denkmodellen, mit Kapitalismus- und Globalisierungskritik sowie der offenen Jugendarbeit in Kontakt. Aus diesen „wilden Bildungsprozessen“ (Schütze) erwächst, in Verbindung mit den Erfahrungen des Zivildienstes, ein neues Berufsziel. Der erste intrafamilale Berufsentwurf wird in der Auseinandersetzung mit dem Vater zugunsten der Perspektive einer sozialpädagogischen Tätigkeit aufgegeben. Im Kontext des radikalen Wandels beruflicher Interessen vom Wirt zum Sozialpädagogen ist wahrscheinlich eine über das materiale hinausreichende tiefe Hingabe an die Sache, an Theorien und Jugendarbeit gegeben. Die Wahl des Fachhochschulstudiums Sozialarbeit/Sozialpädagogik gegenüber einem Universitäts- studium ist Ausdruck einer zunächst ambivalenten und distanzierten Haltung gegenüber Bildung und wird im Blick auf die künftige Praxis getroffen. Die räumliche Distanz zum Elternhaus während des Zivildienstes hilft bei der Lösung vom familialen Auftrag. Hierbei ist die Auseinandersetzung mit dem Vater vermutlich ein zentrales Thema, innerhalb eines dem Alter entsprechenden Moratoriums löst Ulrich sich vom ersten, auf Beruf und Gastronomie der Eltern aufgestützten berufsbiografischen Entwurf. Mit sozialen Hilfsdiensten befasst, werden ihm dort die anspruchsvolleren Tätigkeiten der Sozialpädagogen vor Ort zum Modell, an dem er seine neue Perspektive ausrichtet. Analog entwickelt Ulrich aus den Erfahrungen im Studium, das ihm unter anderem fallrekonstruktive Kompetenzen vermittelt und die Einsozialisation in qualitative Forschungsmethoden bereitstellt, ein neues Modell. Im Studium entstehen neue Prioritäten, die anspruchsvollen Tätigkeiten der Lehrenden und Forschenden werden 114 zum neuen Fernziel einer Tätigkeit in der Forschung; dieses ist zunächst auf der Ebene des Wunsches manifest. Eine positive, entwicklungsbezogene Selbstsicht und eine optimistische Haltung zur Zukunft, in Verbindung mit einer kritischen Theorie, sind die treibende Kraft dieses Prozesses der Zielfindung. Ulrichs Ziel, auf dieser Linie weiterzuschreiten und diese mit einem Aufbaustudium in eine forscherische Praxis zu überführen, könnte an den realexistierenden Möglichkeiten scheitern, so dass ein höheres Maß an Flexibilität und Offenheit gegenüber anderen Praxisfeldern gefordert wäre. Sofern Ulrich diese Gangart beibehält, wird er vermutlich einen bunten und vielseitigen Bildungs- und Berufsweg beschreiten. 115 4.4.2 Abschnitt 2, Interpretation der autobiografischen Stegreif- erzählung von Ulrich Erzählstimulus: Du schließt in Kürze dein Studium an der Hochschule für Soziale Arbeit in Saarbrücken ab. Ich möchte Dich bitten zu erzählen, wie es zu dem Studium gekommen ist, wie du es erlebt hast; was war wichtig, was war nicht wichtig, auch hinsichtlich deiner beruflichen Zukunft? Hierbei interessiert mich alles, was Du erzählen möchtest. Sequenz 1 Ulrich: Hm hm, Gut. Also, wie ich zu diesem Studium gekommen bin, kann ich zunächst 'mal sagen, dass dafür wohl der Zivildienst ausschlaggebend war, den ich in einer Tagesförderstätte für Schwerbehinderte abgeleistet habe. „Hm Hm, gut. Also wie ich zu diesem Studium gekommen bin, kann ich zunächst 'mal sagen, dass dafür wohl der Zivil- dienst ausschlaggebend war,...“ Ulrich nimmt die Eingangsfrage als vorläufige Rahmung seiner Erzählung und strukturiert den Erzählungsbeginn, als ob er nun die angesprochenen Inhalte der Reihe nach abarbeiten wollte. Der Student ist demnach nicht mit der Intention, eine vorab entworfene Selbstdarstellung zu präsen- tieren in die Interviewsituation gegangen, vielmehr wird die Erzählung reaktiv, mit einem hohen Maß an Offenheit begonnen. Als erster persönlicher Inhalt, „dass dafür wohl der Zivildienst ausschlaggebend war,“ wird eine Selbstdeutung in vorsichtiger Weise und mit vorläufigem Charakter eingeführt. Der Begriff des Ausschlaggebens bezieht sich auf die Bewegung des Pendels einer Uhr oder Magnetnadel und wird allegorisch für das Motiv der Entscheidung gebraucht. Die Formulierung ist bewusst vage gehalten und relativiert den Sachverhalt, dass die zentralen Erfahrungen mit sozialer Arbeit im Zeitraum des Zivildiensts liegen, eventuell gab es zuvor über den Besuch eines Jugendzentrums erste Sinneseindrücke sozialarbeiterischen Handelns. Intentional möchte Ulrich Distanz zum Erzählfluss wahren und möglicherweise die Sichtweise einer biografischen Determiniertheit vermeiden. Tagesförderstätten für Schwerbehinderte bieten ein ergänzendes, nachschulisches Förderangebot für erwachsene Schwerstbehinderte, für die in Werkstätten kein ange- messenes Betreuungs- bzw. Beschäftigungsangebot bereitgestellt werden kann. Das Spektrum der Erkrankungen umfasst unter anderem körperliche Behinderungen, 116 Schädel-Hirn-Verletzungen und Mehrfachbehinderungen, neben der medizinisch- therapeutischen Versorgung wird von Sozialpädagogen und Erziehern angeleitete Arbeit in Kleingruppen angeboten. Zivildienstleistende werden hier gerne für Fahrdienste zwischen Wohnheim, Familie und Tagesförderstätte eingesetzt, unterstützen beim An- kleiden, bei der Hygiene, bei den Mahlzeiten. Vermutlich konnte Ulrich unterstützend bei speziellen Trainingsprogrammen wie Radfahren oder Schwimmen mitwirken, darüber hinaus Krankheitsbilder, Restriktionen und Möglichkeiten des Einzelfalls kennen lernen. Sequenz 2 Hm .. und . em, der Umgang mit den Menschen dort, dass was ich auch da schon gesehen habe von den Sozialarbeitern in der Einrichtung, em, hat mich schon beeindruckt, hat äh mich auch veranlasst em, hier zu gucken, was kommt da für mich vielleicht auch als Studium in Betracht. Schilderungen von Zivildienstleistenden und Praktikanten zur Qualität der Sozial- pädagogen und ihrer Anleiter sind mehrheitlich Ausdruck einer kritisch-skeptizistischen Grundhaltung. In dieser Sequenz führt, der Selbstevaluation des Erzählers zufolge, die teilnehmende Beobachtung am beruflichen Handeln der Sozialarbeiter im Zivildienst, die Wahrnehmung deren sozialer Kompetenzen, der den Behinderten entgegengebrachte Empathie und Wertschätzung, im Verbund mit den eigenen positiven Erfahrungen, zum Entwurf der neuen Berufsperspektive. Das sozialarbeiterische Handeln der Pädagogen in der Tagesförderstätte wird Ulrich zum Modell, an dem er nicht nur den Zivildienst, sondern seinen neuen Berufsentwurf ausrichtet. Ulrich stellt fest, dass soziale Arbeit, entsprechend des im Zivildienst entworfenen Praxisbilds, zu einer guten Passung mit der eigenen Person kommen könnte. Die Entscheidung für das Fachhochschulstudium basiert auf jenem Praxisbild, dass im Zivildienst entsteht. Zur Bildung besteht zunächst eine ambivalente, vermutlich interessierte und distanzierte Haltung. Mit der leitenden Funktion dieses Bildes und dem Fokus auf der künftigen Praxis, fällt Ulrich die Entscheidung gegen einen Besuch des Studiengangs Erziehungswissenschaften an der Universität des Saarlandes und für ein Studium an der Fachhochschule. Im Zivildienst mit sozialen Hilfsdiensten betraut, werden die anspruchsvolleren Tätigkeiten der Sozialpädagogen zum Modell der angestrebten künftigen Berufspraxis. Ein analoger Prozess ist bereits in den objektiven Daten (Sequenz 14, Praxisinteressen) dokumentiert, dort wandelt sich im Zuge der Theorieangebote, der Vermittlung fallrekonstruktiver 117 Kompetenzen und der Einführung in qualitative Sozialforschungsmethoden die beruf- liche Perspektive, die Tätigkeit der Lehrenden und Forschenden wird zum Modell, an dem das Fernziel einer Tätigkeit in der Forschung verankert wird. Insofern reproduziert sich hier eine Sinnstruktur, ausgehend vom Grundmotiv des Suchens nach einer optimalen Passung zwischen den eigenen sich wandelnden Bedürfnissen und den beruflichen Möglichkeiten, nun auch Karriereoptionen, hält Ulrich die Bälle biogra- fischer Anschlussmöglichkeiten in der Luft, die aus seiner Sicht und seinen lebenswelt- lichen Beobachtungen diese Bedürfnisse repräsentieren. Sequenz 3 Also man muss vielleicht vorwegschicken, dass ich vor 'm Zivildienst 'ne Berufsausbildung gemacht hatte, also bin halt nicht direkt vom Abitur dann halt zum Zivil- dienst und dann 'n Studium anfangen, sondern musste dann praktisch nach dem Zivildienst em zunächst 'mal die Fach- hochschulreife machen em, um dann mit dem Studium beginnen zu können. Die objektiven Daten wurden im Anschluss an das Interview erhoben, Ulrich führt insofern neue und biografisch relevante Informationen ein. Inhaltlich und auf der Ebene der Selbstoffenbarung möchte der Student uns etwa mitteilen: „So einfach wie bei anderen Studenten, einschreiben und hingehen, so war das bei mir nicht. Ich musste als Vorleistung erst ein Jahr die Schulbank drücken, den Platz, an dem ich heute stehe, kurz vor der Diplomarbeit, den habe ich mir schwer erarbeitet.“ Ulrich legitimiert seine Studienwahl in einem Akt der Abgrenzung gegenüber den Kommilitonen, er hat sich nicht nach dem Zivildienst probehalber im Studiengang Sozialpädagogik immatrikuliert, sondern sich dieses Privileg mit einem einjährigen Schulbesuch erarbeitet. Wie schon bei den Angaben in den objektiven Daten zum Wohnort der Mutter wiederholt sich die Struktur, einige Inhalte nicht zu konkretisieren, der Student spricht nicht von seiner Ausbildung zum Hotelfachmann, sondern allgemein von „'ne(r) Berufs- ausbildung“. Mit dieser Strategie der Nicht-Konkretisierung umschifft Ulrich jene Passagen, die auf sein Kind- beziehungsweise intrafamiliales Ich verweisen, wie hier die Ausbildung in den Fußspuren der Eltern. Insofern ist die Abgrenzung zum Elternhaus, das Gehen des eigenen Weges sowie die Erweiterung einer in der Jugend angelegten autonomen Identitätsstruktur um die studentische und sozialpädagogische Identität in 118 diesem Lebensabschnitt ein wichtiges Motiv, signifikant für das Moratorium ist ein hohes Maß an Offenheit gegenüber Neuem. Diese Offenheit könnte, soweit Ulrichs existentielle Situation und mögliche Präferenzen außerhalb der Fachhochschule dies zulassen, in Verbindung mit der autonomen Entscheidung für Sozialarbeit, dem Motivationszuwachs ob des relativen Grades an Freiheit im Studium gegenüber der ersten Ausbildung und der Fachoberschule sowie der Passung eigener Interessen und Bedürfnisse mit den Studieninhalten, in ein Studium mit tiefer Hingabe an die Sache münden. Sequenz 4 Ja, und ich hab' mich dann dazu entschieden, äh (')Sozialarbeit (')hier (')in (')Saarbrücken zu (')stu- dieren. Em, hab' hier auch schon ein, zwei Leute gekannt, die das auch machten, die . von denen ich dann ein bisschen was erzählt bekam em, was hier so studientechnisch halt abgeht, Durch das Anheben der Stimme wird „(') Sozialarbeit (') hier (') in (') Saarbrücken“ erzählerisch als eine Einheit präsentiert, nicht Sozialarbeit, noch Saarbrücken sind für sich genommen subjektiv sinnhaft, erst in der Verbindung dieser beiden Elemente entsteht die Sinnstrukturiertheit von Ulrichs Lebenspraxis. Die Wahl der Ausbildungsstätte wird weder nach den Kriterien einer Karriereplanung, noch nach den fachlichen Gesichtspunkten des Vergleichs verschiedener pädagogischer Studiengangskonzeptionen getroffen, vielmehr geht die Wahl des Ortes als zentrales Kriterium in die Entscheidung ein. Saarbrücken bietet neben einer gewissen Distanz zum Elternhaus vertraute Strukturen, bestehende soziale Kontakte, auch im studentischen Milieu, können ausgebaut werden. Über Kontakte in einem progressiven und studentischen Milieu verschafft sich Ulrich erste Vorinformationen. Die Sozial- räume des Studenten vor und während des Studiums bilden ein Kontinuum, ein Strukturelement der Kontinuität ist die probatorische Praxis offener Jugendarbeit. Der positive Studienverlauf von der Unsicherheit zum Studienbeginn bis zu einer anerkannten Position bei Kommilitonen und Lehrenden wird heruntergespielt. 119 Sequenz 5 in was für 'ne Richtung das tendiert, ob das eher praxisorientiert ist oder ob das sehr theorielastig ist und es wurde dann halt halt immer so äh betont ja, das es halt sehr (')anspruchsvoll ist, hat dann bei mir immer so 'nen gewissen gewissen Respekt oder auch so 'n bisschen Angst [ausgelassenes Wort]. Die gewählten Formulierungen heben das Studium auf das Plateau eines hohen Anspruchs. Entsprechend der bisherigen Distanz zum akademischen Milieu und der bildungsfernen Herkunftsfamilie beginnt Ulrich das Studium mit der Skepsis, ob er den Studienanforderungen gerecht werden kann. Ängste, die in der Ungewissheit der Form der Studienanforderungen begründet liegen und sekundärer Ängste, in dieser unbekannten studentischen Praxis nicht bestehen zu können, werden offen ange- sprochen. Sequenz 6 bevor ich hier her kam und äh, muss aber sagen, jetzt, so im Nachhinein, em . das ich das Studium eigent- lich so...ganz gut 'rumgekriegt hab'. Also ich hab' wirk- lich selten 'ne richtige Krise jetzt gehabt, wo ich dann also gar nicht 'rauskam Im Rückblick auf eine bis dahin erfolgreiche Studienzeit schwingt ein Wissen um eigene theoretische und praktische Stärken mit, das seinen Niederschlag in gezieltem Understatement findet. In dieser Sequenz werden studienbezogene Krisen offen angesprochen, Krise bezeichnet im allgemeinen Sprachgebrauch die psychische Reaktion auf eine schwierige, bedrohlich erscheinende Situation. Der Begriff geht zurück auf das griechische crisis, die Entscheidung, er wurde im deutschen Sprachgebrauch über die Medizin in die soziologische und psychologische Termi- nologie eingeführt. Für Hippokrates war die crisis im Gegensatz zur lysis die plötzliche Lösung eines akut lebensbedrohenden Zustandes. In der Psychologie ist die Krise die „dramatische Auseinandersetzung mit psychischen Konflikten“.37 Seit der Aufklärung und der beginnenden Moderne, dient der Begriff der Krise in der Soziologie allgemein zur Bezeichnung tiefgreifender kultureller und gesellschaftlicher Umwälzungen. In Oevermanns Theorie38 und Methode ist die Krise zunächst eine der Schließung bedürfende Öffnung der Zukunft, Routinen sind immer die Schließung einer ursprüng- lichen Krise; sie ergeben sich aus den Krisen als bewährte Lösungen. Umgekehrt, 37 Schmidbauer, W. in: Lexikon der Psychologie Bd. II, S. 1147 38 zu Oevermanns Krisenbegriff und dem Zusammenhang zur Sequenzanalyse vergleiche etwa: Oevermann 1996, S.75-78, S. 81-84; Oevermann 2000c, S. 132-147, vorliegende Arbeit, S.123 120 bezogen auf Routinen, bedeuten Krisen deren Scheitern. Die sequenzanalytische Strukturrekonstruktion der objektiven Hermeneutik wird mit einer Haltung der kritischen Betrachtung der Lebenspraxis als im Normallfall krisenhaft vorgenommen, krisenhaft insofern, als an jeder Sequenzstelle eine Auswahl unter mehreren Anschlussoptionen getroffen werden muss. Diese sind für das handelnde Subjekt nicht zwingend routinenhaft, es können krisenhafte und emergente Entscheidungen sein, die Offenheit von Zukunft schließen und, sofern sie sich bewähren, in Routinen überführt werden. Diese Auswahl des lebenspraktisch Handelnden unterliegt nach Oevermann den Kriterien des Entscheidungszwangs und der Begründungsverpflichtung. Professions- theoretisch ist im Sinne Oevermanns für soziale Arbeit die stellvertretende Deutung und die stellvertretende Krisenbewältigung signifikant. Sofern Krisen im Studium nicht aus persönlichen, aus studienbezogenen Problemlagen oder deren Schnittmenge, wie im Fall von Strukturierungsschwierigkeiten oder Lernstörungen resultieren, sind es in der Regel abstraktere Inhalte wie methodologische Fragestellungen oder die Divergenz realitätsferner Vorannahmen zur probatorisch erfahrenen Praxis, die in krisenhaften Verlaufskurven münden. Im Sinne sozialpäda- gogischer Fachlichkeit differenziert der Student in die Krisen, bei denen es dem Patienten nicht gelingt, eine als ausweglos bewertete Situation aus eigener Kraft zu verlassen, so dass eine Krisenintervention erforderlich wird und jenen Krisen, mit denen er Erfahrungen hat, die als häufige Begleiter von Lebensübergangssituationen auftreten und im Normalfall ohne professionelle Unterstützung durchlebt werden. Die „wirklich seltenen richtigen Krisen“ stehen möglicherweise in engem Zusammenhang mit inner- halb des Moratoriums aufgeworfenen Fragen wie: „passt das zu mir, Sozialpädago- gik?“ und im Kontext der Einblicke in verschiedenen sozialpädagogischen Praxen auch sinngemäß: „will ich langfristig als Sozialarbeiter mein Geld verdienen?“ Als Ergebnis der Auseinandersetzung mit den Anforderungsprofilen und vor allem den sozial- pädagogischen Möglichkeiten verschiedener Tätigkeitsfelder entwirft Ulrich die in Sequenz 14 der objektiven Daten dokumentierten Praxisinteressen des (1) weiter- führenden Studiums, der (2) offenen Jugendarbeit und der (3) Forschung. Die hohen Anteile an Verwaltung, die „herrische Organisationsratio“ (Schütze) sowie kon- trollierende und (nach-) sozialisatorische Funktionen gegenüber dem Klientel könnten dieser partiellen Abkehr vom Berufsziel zugrunde liegen. 121 Sequenz 7 oder so vor unlösbaren theoretischen Problemen gestanden, aber grad' was so Klausuren anging, mit was eben diejenigen Leute, mit denen ich gesprochen hatte, sehr oft Probleme hatten. Hm,von daher ging das. Mit den Studienanforderungen hat Ulrich auf der kognitiven Ebene keine Schwierig- keiten, so dass er die ambivalent-distanzierte Haltung zur Bildung, mit der er das Studium begann, schnell abbauen kann. Die Aussage, selten vor unlösbaren theoreti- schen Problemen gestanden zu haben, verdeutlicht, dass Ulrichs sein Studium weitaus intensiver und vertiefter führte, als nur mit einer Reproduktion theoretischer Figuren und einer nachvollziehenden Hermeneutik. Analog zur dritten Sequenz, in der Ulrich die Besonderheiten seines Studienzugangs als eine Differenz gegenüber den Kommilitonen anführt, dokumentiert Ulrich seine Position innerhalb der Studentenschaft in einem Sprechakt der Abgrenzung gegenüber den Kommilitonen, etwa: „diese sehr häufigen theoretischen Probleme gerade in den Klausuren, von denen die Leute, mit denen ich sprach, oft berichteten, die hatte ich nicht.“ Eine große Erleichterung spricht aus diesen Worten, die begleitet sind von den Vorstellungsinhalten der Angst und des antizipierten Scheiterns, mit dem Ulrich in das Studium hineinging. Sein Resümee fällt vergleichsweise lakonisch aus, „hm, von daher ging das“. Sequenz 8 Em, muss auch sagen äh, dass die äh Tendenz auch von der Gesellschaftskritik, die hier dann immer mitge- schwungen ist in bestimmten Vorlesungen, em das also schon mir sehr entgegenkam, da ich also schon seitdem ich fünf- zehn oder sechzehn bin, mich äh politisch engagiere, Das objektive Datum des politischen Engagements seit dem fünzehnten oder sechzehn- ten Lebensjahr ließe, für sich stehend, ein breites Spektrum von potentiellen Betäti- gungsfeldern zu, zum Beispiel in der Schulpolitik oder, vor dem Hintergrund einer Aufstiegsorientierung über das Hotelfachgewerbe, die Hypothese eines neoliberalen Gedankengutes und einer Mitgliedschaft bei den Jungliberalen. Der Kontext der “immer mitgeschwungenen Gesellschaftskritik” legt den Schluss einer universalistischen, auf die Dialektik des Ganzen und des Individuums gerichteten ethisch-politischen Grundhaltung nahe. Hierzu finden im Studium Klärungsprozesse und eine theoretische Unterfütterung, wie durch die in den objektiven Daten angegebene Anomietheorie statt. Zum Zeitpunkt des Beginns Ulrichs politischer Aktivitäten im Jahr 1995 findet die Weltklimakonferenz in Berlin statt, im selben Jahr kommt es zu internationalen Protesten gegen französische 122 Atomtests auf dem Mururoa-Atoll, der israelische Ministerpräsidenten Itzhak Rabin wird das Opfer eines Attentats. Das Friedensabkommen von Dayton sichert Bosnien- Herzegowina den Status einer unabhängigen, demokratisch-förderativen Republik zu und das zweite Schengener Abkommen, das innerhalb von EU-Staaten den schrittweisen Abbau von Grenzkontrollen sowie eine gemeinsame Sicherheits- und Asylpolitik regelt, tritt in Kraft. Dass jene Inhalte, die zum Teil unausgesprochen und möglicherweise ungeordnet einen wesentlichen Bestandteil Ulrichs geistig-seelischen Erlebens bildeten, in theoretische Zusammenhänge gesetzt werden und das kulturellen Milieu seiner Studienzeit bilden, wird zur Bestätigung eigener Anschauungen, Empfindungen und zur Katharsis im Studium. So wird ihm die Fachhochschule zu einem Ort geistiger Heimat, die „immer mitgeschungene Gesellschaftskritik“ wird zum Katalysator der Lektüre im Studium. Auf der Basis Ulrichs politischer politischen Identität ruht ein ethisch-sozial-wissen- schaftliches Gerüst, sein Interesse gilt unter anderem der Auseinandersetzung mit der Frage nach den Ursachen von Ungerechtigkeit in der Welt und dem theoriegestützten Verstehen sozialer Wirklichkeiten. Hierbei findet eine analytisch fundierte Aneignung methodischer und methodologischer Aspekte von Sozialforschung statt. Der Student weiß um jenes subjektiv einheitlich erlebte Gebilde aus politischer Identität, ethisch- sozialwissenschaftlicher Haltung, pädagogischem, soziologischem Wissen und wissen- schaftlichem Interesse, als zentrales Auswahlkriterium an seine künftige berufliche Praxis legt er den den Anspruch an, dass diese mit jenem Konglomerat ohne größere Widersprüche vereinbar sein soll. Subjektiv ergibt sich die Entscheidung für das Sozial- pädagogikstudium in Saarbrücken vor diesem Hintergrund nahezu zwangsläufig: Zu dem Interesse und den Eindrücken aus der Zeit des Zivildienstes kommen Weggefährten aus der Politik, die dort immatrikuliert sind, und für den hohen ethisch-moralischen Anspruch, den Ulrich an sein Leben anlegt, ist die Wahl eines helfenden Berufs, der Sozialpolitische, sozialpsychologische und emanzipatorische Schwerpunkte impliziert, nur natürliche Konsequenz. 123 Strukturhypothese Innerhalb eines in die Studienzeit hineinreichenden Moratoriums wandeln sich mehrfach die beruflichen Ziele des Erzählers. Der erste intrafamilial generierte Berufsentwurf ist angelehnt an den elterlichen Gastronomiebetrieb. Mit dem sich in der Jugend weiteten Horizont, insbesondere dem antirassistischen Engagement und der erworbenen politischen Identität, beginnt die Ablösung vom Elternhaus. Im als logische Folge des politischen Engagement begonnen Zivildienst münden Freude an der geleisteten sozialen Hilfe und der tiefe Eindruck, den die Tätigkeiten der Pädagogen vor Ort hinterließen, in einem neuen Berufsentwurf. Nach einjährigem Fachoberschulbesuch beginnt Ulrich das Studium Sozialarbeit/Sozialpädagogik an der Saarbrücker Fachhochschule. In Ulrichs Berufsrolle geht das in der polititschen Anschauung und einer sensiblen Wahrnehmung sozialer und gesellschaftlicher Problemzonen gegründetes Amalgam ethisch-sozial- wissenschaftlicher Prinzipien und Theorien (Kritische Theorie, Anomietheorie) ein, das in Verbindung mit persönlichen Präferenzen und dem in der offenen Jugendarbeit erworbenen Praxiswissen, den zur Struktur geronnenen sozialpädagogischen Habitus bildet. Im Studium ist Ulrich theoretisch vielseitig interessiert, die ersten Praxis- erfahrungen im Feld der offenen Jugendarbeit werden im Weiteren vertieft, alternativlos wird diese spezielle Form der Jugendarbeit paradigmatisch für Ulrichs Konzeption seines beruflichen Selbstverständnisses. Im Interview werden Krisen und Ängste offen angesprochen. Der unmittelbare Übergang in den Beruf ist gegen Ende des Studiums hin nicht mehr das primäre Ziel, vielmehr wird in der Einsozialisation in die Forschungspraxis diese zum Modell des beruflichen Fernziels. Ulrich gehört nicht zu jenem Typus von Studenten, die bereits mit siebzehn Jahren einen komplexen Entwurf ihrer künftigen Biografie geplant und diesen, soweit die sozioökonomischen Gegebenheiten dies zuließen, dann linear umgesetzt haben. Innerhalb eines Moratoriums beobachtet er das jeweilige lebensweltliche Milieu sowie gesellschaftliche und globale Phänomene und gewinnt hierbei Impulse für den eigenen Lebensentwurf. Im Zuge dieser Wandlungen ist eine eine bunte und vielseitige Erwerbsbiografie zu erwarten. Ziel dieses Moratoriums ist, auf den Ebenen der Auseinandersetzung mit dem Vater, der Ausgestaltung des Berufsziels Sozialpädagoge und der Fernperspektive Forschung, die Konstitution des Bewährungsmythos, der im Sinne Oevermanns den Entwurf einer möglichen Lösung des 124 Bewährungsproblems enthalten und einen utopischen Maßstab des möglichen Gelingens vorgeben muss, als Antwort auf die existentiellen Grundfragen- woher komme ich? Wer bin ich? Wohin gehe ich?39 Überprüfung der Strukturhypothese Sequenz 9 grad' was diesen Antirassismusbereich angeht und so weiter em äh, fand' hier zum ersten Mal so 'ne theo- retische Unterfütterung dessen, was ich wohl mir immer schon so gedacht hatte, es allerdings noch nie so in 'n theoretischen Kontext setzten konnte. Im Bezug zum theoretischen Schwerpunkt der Kritischen Theorie (objektive Daten, Sequenz 12), wird in der Deutung des Studenten der Extrakt der zum Teil seminar- basierten Lektüre von Werken wie der „Dialektik der Aufklärung“, der „Minima Moralia“ und der Studie „The Authoritan Personality“, zur gültigen Beschreibung und Erklärung rassistischer, antisemitischer und nationalistischer Phänomene. Politisches Engagement40, auch zur Zeit der Adoleszenz, ist Ulrich zu einem wesentlichen Bestandteil des geistig-seelischen Erlebens geworden. Seine Reflexionen erhalten im Studium, wie er selbst formuliert, durch „die äh Tendenz auch von der Gesellschaftskritik, die hier dann immer mitgeschwungen ist in bestimmten Vorlesungen,...grad' was diesen Antirassis- musbereich angeht und so weiter em äh,...so 'ne theore- tische Unterfütterung dessen, was ich wohl mir immer schon so gedacht hatte“. Als Element der Fallstruktur reproduziert sich diese geglückte Synthese persönlicher Interessen und vermittelter Theorie. Verifiziert wird auch die Deutung des hohen ethisch-moralischen Anpruchs, die nahezu durchgehend in der Interpretation greift, das Engagement für eine antirassistische Politik ist paradigmatisch für junge Menschen mit einer sensiblen Wahrnehmung soziokultureller Phänomene und einem auf Kooperation und Gerechtigkeit ausgerichteten Wertesystem. 39 Helsper/Böhme 2000, S. 242 f. 40 vergleiche Sequenz 8, S. 120 125 Sequenz 10 Em, von daher war das von diesem Aspekt her schon sehr wichtig für mich. Em, ich hab' dann hier im Rahmen vom Studium auch Praxissemester abgeleistet, äh gerade in der Jugendarbeit, Die Selbstdeutung des Studenten, dass diese Passung zwischen Theorieangeboten und seiner ethisch-politischen Grundhaltung für ihn sehr wichtig ist, spricht für sich. Hinsichtlich der Praxisinteressen und -erfahrungen ist die Kontinuität des Engagements in der offenen Jugendarbeit dominant und auffällig. Andere Erfahrungen, wie die Tätigkeit für den familienentlastenden Dienst, werden auf Nachfrage erwähnt, bleiben jedoch innerhalb der Erzählung und für die beruflichen Ziele ohne Einfluss. Die Selbstdeutung des Studenten führt in einem späteren Teil des Interviews das Interesse für „offene Jugendarbeit“ auf einen „gewissen emanzipatorischen Anspruch“ dieses Feldes zurück. Die frühe Spezialisierung auf offenen Jugendarbeit kann gedeutet werden als Versuch, sich in der Arbeit einen Freiraum zu erhalten gegenüber „herrischen Strukturvorgaben einer Organisationsratio“, „Paradoxien professionalisierten Handelns im Kontext der Aktenlegung“ und vor allem gegenüber den „hoheitsstaatlichen Aufgaben des Sozialarbeiters (Schütze 1996, S. 183-275).“ In Anlehnung an das psycho- analytische Theoriekonzept ließe sich formulieren, dass traditionelle Arbeitsfelder wie Behindertenhilfe, Randgruppenarbeit etc. frustrationsbesetzt sind, die offene Jugend- arbeit hingegen einen Lustgewinn verspricht. Die hypothetische Lesart, dass die Um- setzung der sehr speziellen beruflichen Interessen, der Forschung und der offenen Jugendarbeit, in einer Odyssee münden könnte, Odysseus Suche seiner Heimat Ithaka entspräche der Suche nach der Stelle mit der optimalen Passung zu Ulrichs persönlichen Präferenzen, kann im Kontext des geradlinigen und zielorientierten biografischen Handelns des Studenten nicht aufrecht erhalten werden. 126 5.1 Zur Professionssoziologie Im Anschluss an die vier Einzelfallrekonstruktionen folgt, basierend auf den Beiträgen von Fritz Schütze und Ulrich Overmann, eine Darstellung des strukturtheoretischen Modells sozialpädagogischer Professionalisierung. In der Professionssoziologie gibt es recht unterschiedliche Konzeptualisierungen von Professionen, mit einer Ausrichtung auch abhängig von wissenschaftlichen Analyseinteressen und berufsständischen Inter- essen. Wie Merten/Olk (1996) verdeutlichen, gilt für die Professionsdebatte im deutsch- sprachigen Raum eine überwiegende Orientierung an amerikanischen Konzepten, unter Vernachlässigung der Fragestellung, inwieweit solche Konzepte über den angel- sächsischen Raum hinaus generalisierbar sind. Die soziologische Tradition bestimmt jene Dienstleistungsberufe als Profession, die „...ein systematisches entwickeltes wissenschaftliches Wissen auf Praxisprobleme anwenden, die von herausragender Bedeutung sowohl für die betroffenen Klienten als auch für die Gesellschaft sind (Merten/Olk 1996, S. 572).“ Die so genannten „Attribute-Modelle“ ordnen den „klassischen Professionen“ bestimmte konstitutive Merkmale zu, um so die Charak- teristika vollausgebildeter Professionen zu bestimmen. Merten/Olk verdeutlichen, dass dieses Professionsmodell bei der Benennung bestimmter äußerer Insignien professio- neller Berufe verharrt. Für Professionstheoretiker der Chicagoer Schule bzw. des Symbolischen Interaktionismus wie Freidson, als auch für die strukturfunktionalistische Theoriebildung von Parsons, ist die zentrale Frage, wie professionell Handelnde im Rahmen des staatlichen Herrschafts- und Kontrollhandelns und im Rahmen der Verwaltungsabläufe großer Einrichtungs- und Trägerorganisationen, sich professionelle Autonomie und Kreativität bewahren können, um dem Wohle der ihnen Anvertrauten in zentraler Orientierung am Arbeitsbündnis zu dienen. Professionalisierungsbedürftigkeit untersucht erstmals Parsons mit dem funktionalistischen Professionskonzept. Parsons näherte sich dem Untersuchungsgegenstand Profession von einer gesellschaftstheo- retischen Fragestellung ausgehend. Sein Interesse war es zu klären, welche Bedeutung professionelle Berufe mit ihrer spezifischen Verpflichtung eines Dienstideals in einer durch die Vorherrschaft ökonomischer und bürokratischer Rationalität geprägten Gesell- schaft haben könnten. „Eine funktionalistische Betrachtungsweise ... konzentriert sich auf die Deskription der gesellschaftlichen Funktionen und ihrer Merkmale (Combe/Helsper 1996, S. 9).“ 127 Eine differenzierte Darstellung von Struktur und Profession findet sich bei Parsons. Merkmale sind demnach ein systematisches, in der Regel wissenschaftliches Verfahren, das spezielle Aneignung erfordert sowie ein Wertbezug der Professionen, d.h. eine am Gemeinwohl ausgerichtete Handlungsorientierung. Der Berufsethos beinhaltet eine Bindung an zentrale Werte der Gesellschaft. Merten/Olk (1996, S. 573) zufolge deutet Parsons die Profession als eine Art gemeinwirtschaftlicher Sektor, deren Verpflichtung auf ein Dienstideal ein Gegengewicht zu den herrschenden Werten der Gesellschaft darstelle, mit einer integrativen Funktion bezüglich der Gesamtgesellschaft. Die besondere Qualität der professionellen Problemstellung besteht in einem alternativen Problemlösungsarrangement, ausgestaltet nach dem Muster einer Solidaritätsbeziehung. Der Klient ist von einem für ihn hochbedeutsamen Problem betroffen, zu dessen Lösung es ihm an Kompetenz mangelt. Die hieraus resultierende hohe Verletzlichkeit und Hilfsbedürftigkeit würde, in einer am Marktmechanismus orientierten Beziehung, zu einer gesellschaftlich nicht akzeptablen Ausbeutung des Hilfesuchenden führen. Der folgende Abschnitt thematisiert Fritz Schützes Beitrag zur sozialpädagogischen Professionalisierung und liefert eine differenzierte und konkrete Darstellung der Profession sozialer Arbeit aus interaktionistischer Sicht. Hierbei beziehe ich mich auf das Paradigma des symbolischen Interaktionismus, ausformuliert von G. H. Mead und weiterentwickelt von H. Blumer. 128 5.2 Paradoxien sozialpädagogischen Handelns, zu den Auswirkung der Organisationsratio und der staatlichen Rahmenbedingungen auf eine professionalisierte Praxis nach Fritz Schütze 5.2.1 Professionsmerkmale in der Tradition des interaktionistischen Paradigmas, zur Profession Sozialpädagogik Fritz Schütze untersucht die Strukturkomponenten von Professionen auf der Basis des interaktionistischen Forschungsansatzes der Chicagoer Schule (Schütze 1996, S. 183- 275). Demnach orientiert jede Profession sich auf Teilbereiche höhersymbolischer Sinnwelten, innerhalb der Sinnwelt-Teilbereiche wird zudem, im Rahmen eines speziellen professionsethischen Wertorientierungsdiskurses, ein besonderes Mandat der Gesellschaft thematisiert, ein abgegrenzter, der Profession überantworteter Problem- bereich. Die höhersymbolischen Sinnwelten, wie sie von der Profession ausgebildet werden, sind ethisch und wissenschaftlich begründet. Sie sind orientierungsrelevant für das berufliche Handeln, der Professionsnovize muss, Schütze zufolge, in sie einsoziali- siert werden. Ein Wissensvorsprung der Profession gegenüber dem Klientel entstammt den höhersymbolischen Teilsinnwelten, diese schöpfen aus eigenständigen Erkenntnis- quellen und verfügen über eigene wissenschaftliche Analyseverfahren. Handlungs- und Interaktionsverfahren der Problembearbeitung sind mit den wissenschaftlichen Ver- fahren der Fallanalyse und den „...generalisierten Kategorien der wissenschaftlichen (Teil-) Sinnwelt(en) der Profession systematisch verbunden (Schütze 1996, S. 184).“ Die Profession nutzt ihre Einbettung in innerbetriebliche und gesellschaftliche Organi- sationsstrukturen für die Steuerung ihrer komplexen Arbeitsaktivitäten. Ob der Gefahr übergroßer Kontrolle durch diese Organisationsstrukturen besteht ein prekäres und kritisches Verhältnis zur organisatorischen Einbettung. Die Professionellen sind „Ver- fahrensverwalter“ einer besonderen Interaktionsmodalität, mit der die Profession die Interaktion mit dem Klientel steuert. „Der Klient präsentiert seine Aufgabe bzw. Problematik in einer konkreten Handlungs-, Erleidens- und / oder historischen Veränderungssituation, die zugleich auch seine Lebenssituation ist (Schütze 1996, S. 191).“ Seine Problematik hat Fall- bzw. Projektcharkter, die Problematik ist eingebettet in Handlungs-, Erleidens- und Aufgabenbezüge des Klienten und unterliegt somit Ver- änderungen gesellschaftlicher Natur und denen des Lebens des Klienten. Daher muss 129 der Professionelle damit rechnen, dass seine fallbezogenen Kategorien und Typi- sierungen nicht auf Dauer greifen, die fortlaufende Neuschöpfung von Kategorien und Typisierungen führt zu einer sich permanent wandelnden professionellen Sinnwelt. „In der Berufssozialisation kommt es zu einer biografischen Identifizierung des Professionellen mit der Berufsratio der Profession und ihren Werten (Schütze 1996, S. 191).“ Hierbei kommt es, in einem oft schmerzhaften Prozess, zum Wandel der personellen Identität. Eine starke biografische Identifizierung des Professionellen kann bei sys- tematischen Schwierigkeiten im späteren Arbeitsablauf dazu führen, dass er sich in einer „Berufsfalle“ verstrickt, „ausgesaugt“ wird oder ausbrennt. Distanz zur erfahrenen Leidensverstrickung kann dann häufig erst über einen Stellenwechsel oder ein zeit- weiliges Ausscheiden erreicht werden. Aus der biografisch verinnerlichten beruflichen Identität heraus, wehrt der Professionelle sich gegen Einschränkungen und Übergriffe der Organisation, in die seine Arbeit eingebunden ist. Steuerungsdirektiven der Organi- sation werden als äußerlich, teilweise sogar als feindlich gegenüber der verinnerlichten Berufssicht angesehen. Die Folge ist ein „...mitunter hartnäckiger Abwehrkampf...“ des Professionellen gegen die Organisation, der eine zeitweise organisationsfeindliche Gesamtatmosphäre in der professionellen Sinnwelt nähren kann (Schütze 1996, S. 183). Wie Schütze verdeutlicht, kann diese Atmosphäre ein Hindernis sein, Systemzwänge der Organisation zu durchschauen und eine erfolgreiche Gegenwehr gegen Übergriffe der Organisation zu mobilisieren. Als charakteristisches Professionsmerkmal gilt nach Schütze das Verhältnis von Professionellen und Klienten. Demnach besteht zwischen jeder Profession und ihrem Klientel ein Störpotential in Form eines spannungsreichen, im Kern paradoxen sozialen Verhältnisses: „Einerseits besteht zwischen dem Professionellen und seinem Klienten ein Wissens-, Könnens- und Machtgefälle und andererseits muss der Professionelle mit dem Klienten ein Verhältnis des konsensualen und verständnisvollen Arbeitskontraktes und der frei- willigen Zusammenarbeit aufbauen (Schütze 1996, S. 193).“ Dieses nicht aufhebbare Störpotential führt, wie Schütze verdeutlicht, zu Irritationen und Missverständnissen. Aus ihm gehen Paradoxien professionellen Handelns hervor, die 130 immer wieder Reflexionen auf den Ebenen der Berufsethik, der Selbsterfahrung und der Handlungsvollzüge bedürfen. Zwischen den Sozialpädagogen und dem Klientel be- stehen mehrere Paradoxien des professionellen Handelns. Ihre Interaktion ist durch eine wechselseitige prinzipielle Fremdheit der Handlungsrelevanz gekennzeichnet. Eine Verschmelzung von Identität und Wahrnehmungsperspektive der Interaktionspartner ist nicht möglich, diese Kommunikationsbarriere kann nur durch wechselseitige Vertrau- ensvorschüsse überwunden werden. Die gewährten Vertrauensvorschüsse beinhalten Annahmen von Handlungskompetenz, Verantwortungsbewusstsein, hinreichend iden- tischen Wissensbeständen und Weltsichtelementen sowie einer gemeinsamen Situations- definiton und konvergierenden Handlungsrelevanzen. Die Fremdheit zwischen den Interaktionspartnern ist in professionellen Arbeitsbeziehungen aufgrund des Wissensge- fälles bezüglich Problemanalyse und Problembearbeitung zwischen den Professionellen und dem Klientel besonders groß, hinzu kommt, dass Sozialpädagogen oftmals einem anderen soziokulturellen Umfeld angehörig sind. Als eine dieser Paradoxien der Profession bezeichnet Schütze das Dilemma, auf un- sicherer empirischer Basis Prognosen über Fall- und Projektentwicklung abgeben zu müssen. Des weiteren bestünden Paradoxien, „...allgemeine Typenkategorien professio- nellen Wissens auf die Spezifität des konkreten Falls bzw. Projekts anwenden zu müssen.“ Zum Dritten bestehe die Paradoxie zwischen der Tendenz zum „Zuwarten“, der „natürlichen“ Entwicklung eines Falls und der Intervention, dem Einsatz der mäch- tigen Verfahren bei auftauchenden Problemen, zu vermitteln (Schütze 1996, S. 194). Weitere Bestimmungsmerkmale von Profession sind der soziotechnische Wandel und die steigenden Ansprüche im Dienstleistungsbereich, implizit der sozial- und ethik- politischen Diskurse, ob der es immer wieder zu Neudefinitionen gesamter sozialpäda- gogischer Arbeitsfelder kommt. Immer wieder bildet die Profession neue Sparten mit entsprechenden Subsinnwelten heraus, auf der Grundlage neuer gesellschaftlicher Er- kenntnisse zu Problembereichen wie Alkohol-, Drogen- und Spielsucht, durch das Auf- kommen neuer wissenschaftlicher Analyseverfahren, wie beispielsweise der pädago- gisch-psychologischen Testverfahren, wenn bisherige Analyse und Behandlungstech- niken obsolet werden. Die Arbeitsteilung zwischen der Profession und anderen sowie den nicht professionellen Berufen, ist, wie Schütze (1996, S. 195) formuliert, „...stets ein prekäres Aushandlungsergebnis“. Konflikte mit anderen Berufen um eine angemessene 131 Arbeitsteilung entstehen und die Profession kann in ihrer Wirksamkeit erheblich zurückgedrängt werden. „An den Rändern des professionellen Handelns bilden sich durch den dienstleistungs- politischen, ethikpolitischen und soziotechnischen Wandel, der gerade auch durch den Professionsdiskurs in das Problem- und Handlungsfeld hineingetragen worden ist und diese radikal verändert hat, Problemzonen, welche die Profession schlecht in den Griff bekommt und die Orientierungsparadigmata ihrer Sinnwelt in Frage stellen... (Schütze 1996, S. 195).“ Schütze charakterisiert die professionellen Berufe als „...seismographisches Spiegelbild der kulturellen Veränderungen der Gesamtgesellschaft und ihrer Teilbereiche... (Schütze 1996, 196).“ Somit wandeln sich fortlaufend ihre externen und internen Struk- turen, immer wieder sind intensive Probleme der Anpassung an die gesellschaftlichen Wandlungen zu bewältigen. 5.2.2 Dominanz des Verlaufskurvenpotentials gegenüber Interaktions- kompetenz und Kontingenz einer gelungenen Identitätskonzeption Bei den Fallproblematiken des Sozialwesens wirken Erscheinungen mehrerer Konstitu- tionsebenen verstärkend zusammen. Mehrschichtige Schwierigkeiten, wie langfristig aufgeschichtete Notlagen und Fehlanpassungen, systematische Beziehungsschwierig- keiten in den „...kleinen Solidarbeziehungen der Lebensführung...“, sich verschärfende Verhaltenszwänge der soziokulturellen Lagerung, entmutigtes Sich-Gehen-Lassen hin- sichtlich der Schwierigkeiten einer eigenständigen Lebensgestaltung und die sich daran anschließenden depressiven Verstimmungen, greifen in der Regel Interaktionskom- petenz und Identität der Betroffenen an. In der Folge werden „Transformationen der Ursprungsschwierigkeiten“ in psychosoziale Bereiche von Interaktions-, Präsentations-, Beziehungs- und / oder Suchtstörungen wirksam (Schütze 1996, S. 216f.). Bei Verlaufskurven werden generell die folgenden Stadien unterschieden: Zunächst kommt es zu einer Auskristallisierung des Verlaufskurvenpotentials, von der ausgehend sich die zentrale, vom Betroffenen oft unerkannte Problematik und die Wirksamkeits- bedingungen der Verlaufskurve aufbauen. Das folgende Stadium ist das der Grenz- überschreitung, von einem Aktivitätszustand des Handelns zu dem eines erleidenden 132 Getriebenseins durch die Verlaufskurvenproblematik, die einer konditionellen Steuer- ung durch übermächtige Ereignisse Raum gibt. Hiermit geht eine schockartige Irritation und eine Störung des Weltverhältnisses der Betroffenen einher. Weitere Stadien sind das der Herstellung und der Aufrechterhaltung eines labilen Gleichgewichts der Alltagsbe- wältigung, bei einem zeitweisen Retardieren der Verlaufskurvendynamik im Zuge erster Bearbeitungstrategien, das Stadium des Zusammenbruchs der Alltagsorganisation und der Unfähigkeit, diesen ohne fremde Hilfe zu bewältigen, verbunden mit einem zeitweisen Orientierungsverlust. Dazu kommt die Phase der systematischen Analyse und Interpretation der Verlaufskurvenproblematik. Im Idealfall kommt es nicht zu systematischen professionellen Fehlern, und auf der Grundlage eigener und fremder, professioneller Strategien, gelingt eine Auflösung der Verlaufskurvenproblematik. In akuten Höhepunktphasen der Verlaufskurvendynamik reagieren die betroffenen Klienten gezwungenermaßen durch Ad-Hoc-Anpassungen, um ein halbwegs geordnetes Alltagsleben aufrechterhalten zu können. Hieraus jedoch ergeben sich zahlreiche sekundäre Schwierigkeiten in der Lebensführung. Psychische Störungen transformieren sich, hinter den sekundär auftretenden Komplikationen sind die ursprünglichen Bewegungsmechanismen der Fallproblematik kaum noch sichtbar, bleiben aber hinter den sekundären psychischen, abweichungs- oder sucht- und interaktionsspezifischen Störungen wirksam. Alltagsorganisatorische Störungen entfalten ihre eigene Dynamik, sie tragen zusätzlich zu einer von Klient und Sozialpädagogen gleichermaßen als anscheinend ausweglos erlebten Situation bei. Es entsteht ein circulus vitiosus, bei dem die Professionellen kaum noch Befreiungswege ausfindig machen können. Sekundäre Problemverstrickungen werden als so drängend erlebt, dass keine Zeit und keine Energie für die Analyse und Bearbeitung des ursprünglichen und latent weiterhin mitsteuernden Verlaufskurvenpotentials bleibt. Dieses Verlaufskurvenpotential könnte bei einem Alkoholiker in einem erzwungenen Verzicht auf eine eigene biografische Handlungs- und Entwicklungslinie bestehen. Dieses ursprüngliche Verlaufskurvenpotential wird in der Regel weder von Angehörigen, Freunden, noch von den Sozialarbeitern fokussiert, ist jedoch als grundlegende Problemkonstellation der Verlaufskurve wirksam. Charakteristisch für Verlaufskurven ist ein dynamischer, entstabilisierender Ver- strickungscharakter, darüber hinaus verstricken sich die Betroffenen in besonderen „Festhalte-Fallen“ mit einem auf Dauer stabilsierenden Charakter. 133 Pädagogen können gegenüber einer sich verschlimmernden Problemlage ein über- wältigendes Gefühl der Machtlosigkeit und der Irritation empfinden. Ansatzpunkte für eine Überwindung der Dynamik der Verlaufskurve sind bei der gegeben Langfristigkeit nur noch schwer auszumachen. Die zunächst sichtbaren Sekundärproblematiken, als erste Problemsicht, beispielsweise beim Alkoholismus, schaffen eine Irritation, die das Einnehmen einer analytischen Haltung erschwert. Wie Schütze verdeutlicht, bestehen verschiedene Schichten von Problemmechanismen, mit einer je eigenen Dynamik, ver- flochten mit der Identitätsstruktur, den Sozialbeziehungen und der Lebensführung der Klienten, die in einer systematischen Wechselwirkung zueinander stehen. Die Mitarbeit weiterer Experten, wie der Suchttherapeuten, wird erforderlich, es läuft auf einen langfristigen und intensiven Personaleinsatz hinaus. Für die Professionellen bedeutet dies hohe, aus individueller Identität und dem Privatleben geschöpfte Energieaufwände, auch erhebliche biografische Kosten sind nicht auszuschließen. „Zudem ist - wie nunmehr ganz verständlich sein dürfte - die Sozialwesen-Erfolgsquote in vielen Bereichen der professionellen Problembearbeitung angesichts der Komplexität der Problemaufschichtung und der Mängel der Analyse- und Bearbeitungsverfahren des Sozialwesens äußerst gering (Schütze 1996, S. 219).“ Daher kann es auch zu der Entscheidung kommen, angesichts massiver Klienten- problemlagen, auf eine eingreifende und problemlösende professionelle Bearbeitung der Fallproblematik „schwieriger“ Klienten und Klientinnen ganz zu verzichten. Unterstützt wird eine solche Entscheidung, neben den Gesichtspunkten Kosten und Arbeitsauf- wände der Trägerorganisation und den enormen Kosten der Gesamtgesellschaft, durch den zu engen organisatorischen Zeitrahmen für die therapeutische Bearbeitung der angenommenen Suchtproblematik und durch die besonderen persönlichen Erschwer- nisse und Arbeitsbelastungen. Nicht selten lehnen die Betroffenen eine Bearbeitung der zentralen Problembestände des zugrunde liegenden Verlaufskurvenpotentials ab. Gründe hierfür können sein, dass sie die von den Sozialarbeitern thematisierten Punkte bisher noch gar nicht bemerkt, bzw. diese nicht ernstgenommen haben oder auch, dass die Bearbeitung fundamentale Eingriffe in Identitätskonzeption und bisherige Lebens- führung erfordern würde. Bei Versuchen der Beeinflussung der Klienten und Klientinnen zugunsten einer tiefgreifenden Problembearbeitung, könnte die für die Sozialarbeit konstitutive sozialethische Maxime der Freiwilligkeit und der persönlichen 134 Verantwortung missachtet werden. „Angesichts des Dilemmas, dass die Verlaufskurvendynamik in Orientierung an der (ebenfalls) grundlegenden sozialarbeiterischen und sozialpädagogischen Handlungs- maxime der Hilfe zur Selbsthilfe eigentlich (doch) bearbeitet werden müsste, dass es aber gute sozialethische und sozialpolitische Gründe gegen die Bearbeitung komplexer, schwieriger Verlaufskurvenprobleme von Klientinnen des Sozialwesens gibt, kommt es nicht selten zur Tendenz der Kapitulation der Sozialarbeiterin vor zentralen Schwierig- keiten ihrer Berufsarbeit... (Schütze 1996, S. 220).“ Scheinbare Lösungsalternativen sind dann eine bloßen Elendsverwaltung, unter Um- ständen verschleiert unter dem Deckmantel einer liebevollen Hilfe. Als Beispiel verweist Schütze auf die niederländischen Methadonprogramme, bei denen auf eine psychotherapeutische Bearbeitung der jeweiligen psychosozialen Fallproblematik verzichtet wird. Die Sozialarbeiterin kann unter Umständen in ein soziales Arrangement weitgehender sozialer und innerer, d. h. emotionaler und kognitiver Distanz gegenüber der Persönlichkeit des Klienten treten und sich dazu einer rhetorisch-zynischen Kritik, ob der Verantwortungslosigkeit der Klienten, die nichts täten, um aus ihrer desolaten Lebenslage hinauszukommen, hingeben. 5.2.3 Organisation - Instrument und Kontrollinstanz sozialer Arbeit Organisation strukturiert und vernetzt die großen Arbeitsbögen des Sozialwesens. In der Praxis kommt es, beispielsweise bei der Beschaffung einer Kur, zugleich zu Aktivitäts- schritten der Verwaltung, Beschaffung, Zumessung und Zuteilung von gesellschaft- lichen - wissensmäßigen, personellen und materiellen - Gütern. Die Aktenlegung doku- mentiert die einzelnen Arbeitsschritte, Informationen über Phasen des Handlungsablaufs werden festgehalten. Auf diese Art und Weise wird notwendiges Wissen zu einem kollektiven Gedächtnis professioneller Sozialarbeit. Über die organisatorischen Ver- fahrensregeln, in Verbindung mit der Aktendokumentation, entstehen Standardisierung, Nachprüfbarkeit, systematische Kritik und Qualitätskontrolle. Interorganisatorische Querverbindungen zwischen verschiedenen Einrichtungen ermöglichen Hilfestellungen bei verschiedenen Problemtypen, es können Alternativen der Analyse, Beratung und Problembearbeitung ins Auge gefasst werden. Unter Umständen werden die inter- 135 organisatorischen Querverbindungen von Sozialarbeiterinnen auch in Situationen der Hilflosigkeit gegenüber Problemlagen der Klienten genutzt, indem versucht wird, Probleme auf andere Einrichtungen abzuwälzen. Erst der Alltagsbetrieb von Trägerein- richtungen und Organisationen ermöglicht den geordneten Zugriff des Klienten auf das Sozialwesen, seine Expertenberufstätigkeit und die entsprechenden Leistungen. Erst über Organisationen ist die notwendige Routinegrundleistung und die Versorgung des Klientel mit dieser sichergestellt. Organisatorische Plattformen sind erforderlich, um Sozialisationsinstanzen und „Auseinandersetzungsarenen“ für die höhersymbolischen Teil-Sinnwelten zu ermöglichen. Diese Plattformen sind gegeben mit den Fachbereichen des Sozialwesens in der Grundausbildung, mit Weiterbildungsinstitutionen, Kongressen, Zeitschriften, den Berufsverbänden, ständigen Gesprächskreisen usf. . „Organisation bildet nun aber ihre eigene Denk- und Handlungsrationalität aus, die relativ notorisch, wenn auch in der Regel nur partiell, mit der Denk- und Handlungs- rationalität der Sozialarbeit als Profession (und auch jeder anderen Profession), das heißt mit ihrer Haltungs-, Betrachtungs-, Entscheidungs- und Reflexionslogik innerhalb ihres Verbundes höhersymbolischer Sinnwelten in Widerspruch tritt (Schütze 1996, S. 222).“ Die Sozialpädagogin wird gegebenenfalls versuchen, die Dominanz interner und externer organisatorischer Handlungsbestimmungen zurückzudrängen. Dies kann ge- schehen durch eine Orientierung an unabhängigen Professionskriterien bei Problem- analyse und Problembearbeitung. Diese Professionskriterien werden fortlaufend evol- viert, durch die einschlägige Forschung in den sozialwissenschaftlichen Grundlagen- und Morphologiewissenschaften, als auch durch die Binnenarena-Debatten. Unab- hängige Professionskriterien können aber auch im Zuge der Kritik an organisatorischer Restriktion bei Debatten mit Ausbildungs-, Kontroll-, Träger- und Finanzierungs- instanzen vorangetrieben werden. Je komplexer, aufwendiger und organisations- abhängiger bestimmte Bereiche der Problemanalyse und -bearbeitung werden, „...desto schwieriger wird die Kontrolle über eine sich immer herrischer gebärdende Organisationsratio, welche die Notwendigkeit des genuinen professionellen Denkens, im Dienste der Analyse und Bearbeitung der Probleme des Sozialwesens, nicht mehr hinreichend berücksichtigt (Schütze 1996, S.223).“ Schütze zufolge sind es vier systematische Erscheinungen, mit denen sich jede Sozialpädagogin fortlaufend auseinandersetzen muss: 136 • Der Zeit- und Kostenrahmen der Trägereinrichtung besteht als eine vorgegebene Einheit zur Bearbeitung des Klientinnenproblems. • Trägereinrichtungen sehen in der Regel systematisch von der Lebensgeschichte und deren singulären Kontingenzen ab, während deren Einbeziehung für die Sozialpäda- gogen eine zeitliche Perspektive erforderlich macht, die über den Zeithorizont der meisten Trägereinrichtungen hinausgeht. • Die Arbeitsteiligkeit der Organisationen gerät in einen Konflikt mit der Ganz- heitlichkeit der biografischen Zusammenhänge der Fallentfaltung der Klienten. • Die Verfahrens- und Steuerungsvorgaben der Spitze der Trägereinrichtungen des Sozialwesens verlieren ihre eigentliche Zentralfunktion, die Qualität des professio- nellen Handelns zu befördern. Vielmehr werden sie zu Mitteln des Machterhalts und der Machtentfaltung sozialer Organisationseinrichtungen, der Trägerverbände und deren Hierarchien, begleitend flankiert durch verschleiernde Anstaltsmythen. Die Aktenlegung ist das wesentliche Element der hierarchischen Kontrolle durch die Trägereinrichtungen, insbesondere hinsichtlich der Frage, ob ihre Verfahrens- und Steuerungsvorgaben befolgt werden. So stellt sich für die Sozialarbeiterin fortwährend die Aufgabe der Legitimation und Verschleierung der Problemzonen eigener Aktivi- täten. Für professionelles Handeln ist dieser Sachverhalt selbstdisqualifiziernd und unangemessen. Schütze führt aus, dass die Auseinandersetzung mit den „herrischen“ Strukturvorgaben in der Regel systematisch fehlerhaft verläuft. Die Sozialpädagoginnen verinnerlichen entweder die Herrschaftselemente der Organisationsratio durch An- passung an die Hierarchie der Trägereinrichtungen, oder sie lehnen Organisation und Verwaltung des Sozialwesens in Bausch und Bogen ab. Hierbei übersehen sie, dass ihr Berufsalltag weitgehend aus Organisationsverrichtungen besteht. Die großen Arbeits- bögen des professionellen Handelns werden entsprechend nicht mehr sorgfältig geplant und gerade dadurch kann sich im beruflichen Alltag die Anstaltshierarchie mit ihren Steuerungsvorgaben und Verschleierungsvorkehrungen ungehindert durchsetzen. So kommt auf die eine oder andere Weise eine Orientierungsdominanz der „herrischen“ Organisationsratio gegenüber der professionellen Orientierung zustande. Diese wirkt sich dahingehend aus, dass eine Orientierung am Aktenvorgang des Klientenproblems sich anstelle einer Ausrichtung auf die von den Klienten lebenspraktisch erlebten Problemlagen durchsetzt. Es kommt zur Resignation der Pädagoginnen an den Grenzen 137 unterschiedlicher organisatorischer Arbeitsbereiche, die Orientierung auf den gesamten Problembearbeitungszusammenhang, respektive den Gesamtarbeitsbogen, geht verloren. „Die übergeordnete Amtshierarchie entwickelt die entsprechende Tendenz, die pro- fessionell mit Klienten Arbeitenden von der mündigen Orientierung an den eigenen professionellen Standards abzuhalten (Schütze 1996, S. 226).“ Nun besteht zwar für die Professionellen die Möglichkeit, die skizzierten Fehler bei der Organisationsarbeit zu verdrängen, diese untergraben dennoch ihre Handlungskom- petenz, erlebte Erfolglosigkeit im Berufshandeln führt zu Verlaufskurven des Leidens an der Berufstätigkeit. 5.2.4 Paradoxien professionalisierten Handelns im Kontext der Aktenverwendung sozialpädagogischer Verwaltungstätigkeit Die Akte als Symbol der Verwaltungsroutinen kann im Sozialwesen eine „Realität sui generis“ gewinnen und den Zugang zur tatsächlichen Erleidensgeschichte der Klienten, insbesondere was deren eigene Sicht anbelangt, verstellen. Akten verbürgen zum einen die Rationalisierung professioneller Aktivitäten und müssen zugleich eine flexible Einstellung auf geänderte Situationen gewährleisten. Die partielle Verflochtenheit der Sozialarbeit mit gesellschaftlicher Herrschaft und ihre Funktion sozialer Kontrolle dokumentiert sich in der Verwendung der Akten. Die Solidarbeziehung zwischen Professionellen und Klientel wird beeinträchtigt durch die spezifische Realität der Akten, besonders der eigene Zugang zur erlebten Geschichte wird häufig verstellt. Die Akte kann Instrument beispielsweise totaler Institutionen sein, „...faktische Lebens- geschichte und Lebenswirklichkeit der Klienten, Patienten und Insassen ausblenden und sie zu reinen Prozessierungsobjekten machen (Schütze 1996, S. 203).“ Bei Menschen, die in Betreuungs- oder gar in totalen Institutionen leben, kommt es häufig zu einer Verschüttung der eigenen Biografie, diese Menschen vergessen den roten Faden ihrer Lebensgeschichte durch die Einflüsse von „herrischen Organisations- strukturen (Schütze 1996, S. 209)“. Viele Klienten, wie beispielsweise Straffällige oder Langzeitinsassen psychiatrischer Einrichtungen, mussten auf die Zuwendung von signi- fikanten anderen, denen eine entscheidende biografische Rolle für die Selbsterfahrung und Lebensplanung zugekommen wäre, verzichten. Schütze führt George Herbert Mead, 138 den grundlegenden Theoretiker des Symbolischen Interaktionismus an, um zu verdeutlichen, dass den Klienten „Mich-Bilder ihrer selbst“, Vorstellungen von imaginierten und erfahrenen Kommunikationen aus dem Blickwinkel von für das eigene Leben bedeutsamen Menschen wie Eltern, Lehrern, nahen Verwandten, guten Freunden usf. fehlen. Meads grundlegende Vorstellung von einem strukturierten Selbst, einer Ich- Identität, die nur in der Interaktion mit anderen Menschen auskristallisiert werden kann, wird in den heutigen sozialwissenschaftlichen Theorien zur Ich-Identität, - soziologi- schen wie psychologischen - allgemein anerkannt. Wie Schütze ausführt, kann die Lektüre von Akten die Notwendigkeit biografischer Arbeit verdeutlichen, vor allem hinsichtlich der „kanonischen Selbstdarstellung“ und „Legitimationsfolie“, der Ausblendung von traumatischen und schambehafteten Er- fahrungen der Betroffenen. Ein professioneller Umgang mit Akten meint nach Schütze eine permanente Reflexion der Fehlerpotentiale der Aktenführung; diese seien gegen den Erkenntnisgewinn der Aktenverwendung einschließlich ihres Beitrags zur bio- grafischen Arbeit abzuwägen. Mit der Aktenverwendung sind weitere Paradoxien professionellen Handelns verbunden: Die Professionellen des Sozialwesens berücksichtigen im Zuge der Aktenlektüre Analyseleistungen und Arbeitsleistungen anderer Professioneller, auch das fall- spezifische Wissen anderer Professionen wird genutzt. Durch die Bürde des transportierten professionellen Vorurteils kann eine eigene Einschätzung der Fall- problematik seitens des Fallbearbeitenden erschwert werden. Eine durch Aktenlegung und Lektüre der Akte vermittelte Routinesicherheit der Fallbetrachtung kann eine kommunikationsoffene Begegnung mit dem Klienten unmöglich werden lassen. Möglicherweise werden Herrschafts- und Kontrollgesichtspunkte hoheitsstaatlicher Institutionen vermittelt, die den Kriterien professioneller Fallbearbeitung wider- sprechen. Professionelle des Sozialwesens bearbeiten häufig ganzheitliche Lebens- und Identitäts- probleme. Ihr zentrales berufliches Handlungsmuster, die Interventionsform, ist die (lehrende) Hilfe zur (lernenden) Selbsthilfe im Feld der Bildung, die sozialthera- peutische Beratung im Feld der Therapie und die Gestaltung von Lebenssituationen im Feld der klassischen Sozialarbeit. Professionelles Handeln findet statt im Gesamtrahmen staatlicher Kontrolle und staatlicher Organisationen. Zugleich bestehen konfliktuöse 139 Reibungspunkte mit den staatlichen Kontroll- und Sanktionsverfahren sowie mit den bestehenden Verwaltungsroutinen der großen Organisationen. „Insgesamt gilt, dass professionelles Handeln in Kontexten hoheitsrechtlicher Herrschaft und großer komplexer Organisationseinrichtungen mit Beurteilungs-, Kontroll- und Sanktionspaket nur dann mit sich selbst identisch bleiben kann, wenn es sich die in diesen Handlungskontexten virulenten einschlägigen Paradoxien professionellen Handelns deutlich vor Augen hält, die eigene Haltung und das eigene Umgehen damit selbstvergewissernd erkennt und die dadurch gewonnene Erkenntnis zum Wohle des anvertrauten Klienten bzw. Patienten umsichtig handlungs- und selbstkritikwirksam macht (Schütze 1996, S. 214 f.).“ 5.2.5 Ausrichtung des pädagogischen Fokus auf Arbeitsteiligkeit und Expertenspezialisierung versus Orientierung am Gesamt- arbeitsbogen Aufgrund der Komplexität vieler Klienten- oder Verlaufskurvenprobleme kommt es bei deren Bearbeitung zum Einsatz unterschiedlich spezialisierter Experten. Diese Arbeits- teiligkeit wird von der Natur und den Problembeständen der professionellen Arbeit in einer „situativ-emergenten“ Art verlangt. Bei den Verfahrensgängen der Problemanalyse und -bearbeitung werden mehrere organisatorisch vorgesehene Stationen von Trägereinrichtungen innerhalb einer Träger- organisation und in der Kooperation verschiedener Träger durchlaufen, der Sozial- arbeiter hat sich in den arbeitsteiligen Organisationsrahmen mit ihren professionellen Verrichtungen einzufügen. Da hierbei das Gesamtproblem des Klienten partialisiert wird, besteht die Gefahr, dass der Fallüberblick verloren geht, dass keiner der beteiligten Professionellen, Sozialarbeiterinnen, Ärztinnen und Psychologen sich für das Gesamtproblem und die Lebenssituation des Klienten verantwortlich weiß. Sehr häufig treten bei der Koordination und Delegation Planungs-, Delegations- und Abstimmungs- probleme auf, für die keiner der Professionellen die Verantwortung übernehmen will. Schütze betont daher die Notwendigkeit, einen koordinatorischen Gesamtarbeitsbogen anzulegen: „Zwar wäre es erforderlich, einen Gesamtplan der professionellen Bearbeitungsaktivi- täten im Orientierungs-, Steuerungs- und Evaluationsrahmen eines Gesamtarbeitsbogens 140 (Strauß u.a. 1985: Work and the Division of Labor, in: The Sociological Quarterly 26, Heft 1, 1-19) zu entwickeln, auszuhandeln und fortzuschreiben, welcher das professionelle Gesamthandlungsschema und seine Auswirkungen auf die Lebens- situation des Klienten bzw. der Klientin betreut und beachtet; dieses widerspricht aber sehr häufig sowohl der arbeitsteiligen und partialisierenden Organisationsrationalität als auch einer expertokratisch-technizistischen Ideologie der beteiligten Berufsexperten (Schütze 1996, S. 227).“ Die Missachtung dieses Postulats eines Gesamtarbeitsbogens der Problemanalyse lässt der Verlaufskurvendynamik gerade in Stadien der akuten Destabilisierung der Lebens- situation der Klientin und ihrer Identitätsorganisation freien Lauf. Wie bisher für die „cumulatice mess“ medizinischer Komplikationen untersucht, können auch im Sozialwesen gerade die gutgemeinten spezialisierten und auf besondere Problemaspekte ausgerichteten Handlungsbeiträge der Professionellen, da nicht aufeinander abgestimmt, zu einem Desaster beitragen. 5.2.6 Das Dilemma des Sicherheitswertes im Routineverfahren und die damit verbundene Einschränkung der professionellen Handlungs- aufmerksamkeit Schütze zufolge gibt es drei systematische Gründe, warum die Sozialarbeiterin und ihre Organisationseinrichtung an der fortlaufenden Routineanwendung bestimmter Analyse- und Bearbeitungsverfahren interessiert sind. Zum einen besteht der Vorteil der organisatorischen Vereinfachung und Verlässlichkeit: Sind die Spezialisierungsgrade im Sozialwesen auch noch nicht so hoch wie in manch anderen professionellen Bereichen, sind „automatisierte“ und klinische Verfahrens- techniken, wie z. B. in der Sozialtherapie noch nicht so extensiv auskristallisiert, so verfügt die Berufsexpertin doch nur über ein beschränktes Repertoire von Fertigkeiten; dies gerade auf der Grundlage ihres Gefangenseins in den Spezialkenntnissen des Problemfeldes. Auch der Trägerorganisation sind nur beschränkte Ressourcen für die organisierte Anwendung von Analyse- und Bearbeitungsverfahren zu eigen. Im Stellenplan, der Arbeitsverteilung und der Strukturierung der Prozessierungsschritte, hat sich die Trägereinrichtung auf die Routineverfahren der Fallanalyse und -bearbeitung eingerichtet. Die Schematisierung der Arbeitsabläufe verläuft nach einfachen Symboli- 141 sierungen und automatisch wirksamen organisatorischen Steuerungsimpulsen. „Die systematische Kenntnis, Organisation, Beherrschung, Routineanwendung und aktenförmige Registrierung von Standardverfahren stellt Strukturierung und Sicherheit im Arbeitsablauf her: Jede halbwegs eingeübte Sozialarbeiterin weiß über Prozeduren Bescheid, es sind Standardergebnisse erwartbar, die Sozialarbeiterinnen können ihre Aufgabe weitgehend dem Routinefunktionieren der Verfahren überlassen (Schütze 1996, S. 229 f.).“ Hierdurch kommt es zu einer Entlastung bei den Problemstellungen des Sozialwesens im Arbeitsalltag, soweit es sich um überschaubare Problemstellungen handelt. Allerdings sind diese in der Routine des Arbeitsalltags angewandten Standardverfahren nur das Ergebnis freier wechselseitiger Übereinkünfte der Interaktionspartner, die als solche hinterfragt werden müssen, wenn unerwartete Schwierigkeiten oder Missverständnisse auftreten. In der Routineanwendung der begrenzten Anzahl von Analyse- und Bear- beitungsverfahren drückt sich das Bestreben aus, die Problematik der situierten Anwendung von „Theorien“, den allgemeinen professionellen Wissensbeständen in den Griff zu bekommen. „Mit schematisierten, routinisierten Vorkehrungen für die allgemeinen Wissensbestände im Arbeitsalltag versucht die professionelle Sozialarbeit, die Anpassung der generellen Kategorien ihrer höher symbolischen Teilsinnwelten ... an konkret in der Existenzwelt auftretende historisch-singuläre Situationen der Projekt- bzw. Falldefinition zu leisten (Schütze 1996, S. 230).“ Für die Problematik dieser Anpassung ist kennzeichnend, dass der Einzelfall stets komplexer ist, als die allgemeinen theoretischen Kategorien. Des weiteren ist nicht automatisch klar, welche allgemeinen Merkmale im Einzelfall als Kriterien für die Auswahl abstrakter Kategorien der Projekt- bzw. Falldefinition zur Anwendung ge- langen sollen. Eigentlich wäre eine sorgfältige Untersuchung jedes Einzelfalls erforder- lich, statt dessen greift die professionelle Sozialarbeit bei der Zuordnung zu „Routine- vereinfachungsmitteln“. Bei Fallberatung und Fallanalyse werden Abkürzungsstrategien verwandt, versuchsweise hypothetisch werden vorfabrizierte allgemeine Kategorien, ohne Voranalyse der empirischen „Korrespondenz“, der empirischen Merkmale des Falls und der allgemeinen Kategorien, als Erklärungspotential eingesetzt; Ziel dieses Verfahrens ist es, ein möglichst schnelles und ökonomisches Einordnungsergebnis zu 142 erzielen. Wird die kategoriale Einordnung von der Klientin akzeptiert, treten bei ihr und der Sozialarbeiterin Evidenzerlebnisse auf, es wird ein zunächst erfolgreiches Handeln ermöglicht und die Kategorieneinordnung war erfolgreich. Die Vereinfachungsmittel der Zuordnung von allgemeinen theoretischen Kategorien zu empirischen Merkmalen und die Abkürzungsstrategien der Fallkategorisierung sind, wie Schütze verdeutlicht, solange professionell legitimierbar, als sie rational kontrollierbar sind, da ihre potentiell erkenntniseinschränkende Wirkung von Anwendungsfall zu Anwendungsfall überprüft wird. Die Vorliebe der Sozialarbeit zu Routineanwendungen von Analyse- und Bearbeitungsverfahren ist auch begründet in dem Bestreben, dem genuinen Bedürfnis der Klienten nach eingeübter, problemloser Verlässlichkeit nachzukommen. Diese ist darstellbar durch das symbolische Rekurrieren auf immer wieder durchgeführte Standardprozeduren. Es kommt zu einer „sekundären Schematisierung“ der professionellen Arbeitsschritte, zur quasi-automatischen Anwendung der Erkundungs-, Beratungs-, Hilfe-, Organisations-, Lehr- und Therapieverfahren des Sozialwesens. Für das Einhalten der Qualitätsstandards professioneller Arbeit ist das solange unproblema- tisch, als die Interaktionsbasis, damit einhergehend die wechselseitige Perspektiven- übernahme und Interpretationsanstrengungen der Interaktionsparteien, sowohl auf Professionellen-, als auch auf Klientenseite, nicht vergessen werden. „Die Wirksamkeit der Analyse- und Bearbeitungsprozeduren der Profession, und die Reaktion des Zustandssystems des Klienten auf die Interventionsmittel dieser Ver- fahrensabläufe sind in ihrer Qualität nicht exakt voraussagbar, deshalb sind weder eine minutiöse konditionelle Schritt-für-Schritt-Planung noch eine exakte retrograde Planung aus dem Blickwinkel erwarteter späterer Problem- und Zielzustände und ihrer Opti- mierung möglich (Schütze 1996, S. 232).“ Jede soziale und biografische Problementfaltung weist eine Eigendynamik auf, „...die den dimensionalen Freiheitsgraden sozialer und biografischer Prozesse entspricht (Schütze 1996, S. 232).“ Diese sozialen und biografischen Prozesse werden von den Interaktionspartnern unterschiedlich erlebt und definiert. An der Anwendung technisch- klinischer Verfahren sind zumindest zwei und indirekt zahlreiche Akteure beteiligt, die Interaktionsprozesse entfalten eine Eigendynamik, geprägt von Definitionen, Inter- pretationen und Wechselwirkungen der Handlungsbeiträge der Beteiligten. Weder ist diese Dynamik kalkulierbar im Sinne technologischer Rationalität, noch sind die 143 künftigen Definitionen und Haltungen der Professionellen voraussagbar. Selbst die Binnenstrukturen professioneller Handlungsverfahren bestehen größtenteils aus Inter- aktion und Interpretation. Beratungsprozedur, Hilfeprozedur und Sozialtherapie gehen, soweit kommunikativ vollzogen, aus Interaktionsschema, Handlungsschema und den „Zugzwängen und Darstellungsverfahren der Sachverhaltsdarstellung“ (Schütze 1996, S. 232 f.)41 der alltäglichen Kommunikation hervor. Vergleichsweise ist etwa die Ge- sprächstherapie aus den alltagsweltlichen Sachverhaltsdarstellungen des Beschreibens ausdifferenziert worden, die Technik des Spiegelns von Darstellungsstücken des Klien- ten entspricht einfachen Standardkomunikationsimpulsen zur Verfahrenssteuerung. Ebenso muss das Rekurrieren der Sozialarbeiterin auf Zugzwänge und Darstellungsver- fahren sowie auf die sekundäre Schematisierung interaktiv hergestellt, legitimiert und ausgehandelt werden. Schütze kommt zusammenfassend zu dem Schluss, dass die professionellen Routine- verfahren im Sozialwesen gut begründet sind durch die Natur der professionellen Arbeit und durch die Natur ihrer organisatorischen Einbettung: • Zum einen können Risiken und Unsicherheiten für die Sozialarbeiterin bei Analyse und Bearbeitung überschaubarer Fallproblematiken im Routineverfahren gering gehalten werden. • Nur durch Routineverfahren wird der angesichts notorischen Personalmangels enorme Zeitdruck beherrschbar. • Die Routineschematisierung ermöglicht eine Standardisierung der Qualität pro- fessioneller Arbeit, somit wird diese für den Klienten und professionelle Koopera- tionspartner kalkulierbar. • Die Routineverfahren setzen Zeit und Energie für die Behandlung komplizierter Problemstellungen frei. • Es besteht die Tendenz zu einer fall-, situations-, interaktions- und biografie- abgehobenen Automatisierung der Routineverfahren, daher besteht die Gefahr um- fassender und total durchstrukturierter Routinearbeitsprogramme, die vorgeben, auf den anvisierten Typus zu passen und die die Notwendigkeit einer differenzierten Betrachtung der Fallproblematik durch die Sozialarbeiterin 41 Schütze bezieht sich hier auf Luhmann (1973): Zweckbegriff und Systemrationalität. Über die Funktion von Zwecken in sozialen Systemen, Frankfurt a.M. 144 aufzuheben scheinen. In diesem Zug geht dann leicht die Bereitschaft verloren, bei auftretenden Schwierigkeiten im Routinearbeitsverfahren dieses zu hinterfragen und eine explizit interaktive und interpretative Fallbearbeitung zu betreiben. Ein Dilemma sozialer Arbeit besteht darin, dass gerade der in professioneller und persönlicher Sensibilität begründete Ausbruch aus Routineverfahren zu einer Verun- sicherung der Fallbehandlung und der Legitimationsmöglichkeiten führt. So addieren sich eine habituelle Ausblendungshaltung der Sozialarbeiterin mit der durch die Träger- organisation herangetragenen Forderung nach der Ausblendung nicht-routinisierter Fallbehandlung, insbesondere durch die Zuweisung hoher Fallzahlen, durch terminliche und prozedurale Einschränkung der Kommunikationsmöglichkeiten mit den Klienten. Hinzu kommt noch, dass unter Umständen die Herrschaftsstruktur der Institution als sakrosankt gesetzt wird, und die Sozialarbeiterin sich an der äußerlichen Routine- schematisierung und der einhergehenden vermeintlichen Sicherheit festhält. Als Folge entsteht ein von Sozialpädagogin und Klienten unbemerktes Ablaufen der Schemati- sierung. Abkürzungsstrategien, die ein angenommenes Ergebnis vorwegnehmen, werden ohne Ansicht der Besonderheiten des Einzelfalls verwandt. Analog werden Typisierungsstrategien fortlaufend angewandt, die über Identifizierungen wie „arbeits- willig“, „hochgradig verwirrt“ etc. zu einer allgemeinen theoretischen Kategorie sub- sumiert werden können, deren erkenntniseinschränkende und stigmatisierende Wirkung jedoch der Sozialarbeiterin wie dem Klienten verborgen bleiben. „Sozialarbeiterinnen, die mit umfassenden Routinearbeitsprogrammen und der Über- macht des entsprechenden Orientierungsdrucks ihren Frieden geschlossen haben, sind fasziniert von quasi-automatischen, quasi-berechenbaren technisch-klinischen Proze- duren der Hilfezumessung, der beratenden Gesprächsführung, der Sozialtherapie und der Organisation von Klienten-Lebenssituationen. Sie blenden die Interaktions- und Interpretationsbasis einer solchen sekundären Schematisierung von kommunikativen Arbeitsschritten zu technisch-klinischen Verfahrensprozeduren aus ihrer Aufmerksam- keit lückenlos aus, und gerade dadurch werden die Analyse- und Bearbeitungsverfahren starr und unwirksam - dies unter der Illusion äußerlicher, berechenbarer Effizienz (Schütze 1996, S. 237).“ Diese technisch-klinischen Prozeduren funktionieren jedoch nicht nach dem Modell technologischer Rationalität, es herrscht zwar ein technologieideologisches Selbstver- 145 ständnis vor, dieses erfasst aber in der Regel nicht die faktischen Arbeitsstrukturen der situativen Anwendung der Analyse und Bearbeitungsprozeduren. Als Folge dieses Selbstverständnisses als Sozialtechniker bleibt dann unberücksichtigt, dass im Bereich des professionellen Handelns mit Klienten letztlich die kommunikativ- interaktive Logik des Diskurses gegenüber der Logik zweckrationaler Handlungs- planung maßgeblich bleibt. In der Diskurslogik müssen zugleich ungeklärte Beding- ungen und ungeklärte Ziele des Handlungsablaufs interpretativ erforscht und begründet werden, somit auch die Bedingungen und Ziele, die sich mit dem Zustand des Klienten fortlaufend wandeln. Im Zuge des technologisch-ideologischen Selbstverständnisses wird übersehen, dass der partielle, technisch-klinische Charakter des sozialarbeiter- ischen Handelns die Folge der besonderen Anstrengung der sekundären Schemati- sierung ist. Von diesem Umstand sieht die Sozialarbeiterin systematisch ab, es wird ihr nicht bewusst, dass sie, mit den schematisierten und technisierten Prozeduren der Fallbehandlung, sich selbst in den Problemunterhaltungs- und Problemkontroll- prozessen verstrickt. Ihr Gefühl ist, sich in der Situierung oberhalb oder jenseits der sozialen und lebensgeschichtlichen Problementfaltungsprozesse zu befinden, der Problementfaltungsprozess wird als nur den Klienten betreffend und jenseits der Kontraktbeziehung liegend gesehen. „Und die Sozialarbeiterin blendet zudem aus ihrer Aufmerksamkeit absolut aus, dass sie einerseits dem Klienten durch ihre Intervention schmerzliche biografische Opfer, die größtenteils sinnlos sind, zumutet und dass sie andererseits, indem sie zur Mitgestalterin des Schicksals von Handlungsabläufen und Teil-Lebensgeschichten des Klienten wird, indirekt und ungewollt auch ihr eigenes Lebensschicksal mitbeeinflusst; (in dem sie insbesondere nicht die bewusste Verantwortung für ihr eigenes berufliches Handeln übernimmt, wenig umsichtig oder gar fühllos handelt und so biografisch relevante Schuld auf sich lädt) (Schütze 1996, 238).“ So sind die scheinbar so hilfemächtigen Verfahren selbstverständlich gesetzt in ihrer Art der Anwendung, ohne dass hierbei die schwierigen Fragen der Verantwortungsüber- nahme und des schuldhaften Fehlermachens einbezogen werden. Doch bei der Be- ziehung Sozialarbeiterin - Klient, geprägt durch die Verschleierung des lebensprak- tischen und intensiven Verstrickungscharakters der technisch-klinischen Verfahrens- anwendung, werden Problementfaltung des Klienten und Verstrickung der Sozial- 146 arbeiterin unkontrollierbar. Die Professionelle verliert jegliche Empathie gegenüber dem lebensgeschichtlichen Schicksal und den lebenspraktischen Schwierigkeiten der anvertrauten Klienten. 5.2.7 Hoheitsstaatliche Aufgaben der Professionellen und potentiell einhergehendes Zurückstellen von Entfaltungsmöglichkeiten der Klienten Die Profession ist orientiert an zentralen Werten der Gesellschaft, wie Gesundheit, Gerechtigkeit, existentielle Sinngebung, individuelles Wohlergehen und Autonomie der individuellen Lebensbewältigung (Schütze 1996, S. 239). Diese Orientierung, als Man- dat, das der Wohlfahrt der anvertrauten Klienten zu dienen hat, wird formuliert im Bezug zum Klienten. Die Einhaltung einer letztlich individuellen Klientenorientierung wird reflektiert in der Binnenethik der Profession sowie der Supervision. Die mit den Werten des individuellen Wohlergehens und der autonomen Lebensbewältigung verbundenen Güter wie die Leistungspotentiale des Gesundheitsamts, der Sozialarbeit und der Seelsorge, verwaltet und an den Klienten gebracht von der jeweiligen Profession, sind stets knapp. Die Modalitäten der Zumessung werden wohlfahrtspoli- tisch diskutiert, in erheblichem Umfang verrechtlicht und über Steuern, Versicherungen und Vorsorgekassen kollektiv finanziert. Da an der Gestaltung der rechtlichen und organisatorischen Ordnung in der Regel eher die Repräsentanten der Berufsverbände, als die berufsausübenden Mitglieder der Profession beteiligt sind, werden von letzteren die sozialpolitischen Fragen im Berufsalltag eher ausgeblendet. Durch die Orientierung an zentralen gesellschaftliche Werten sowie durch die Verwal- tung der gesellschaftlichen Güter und Dienstleistungen, wird die Profession machtvoll sowohl gegenüber den Klienten, als auch gegenüber anderen Berufsgruppen. Darum erlebt der Klient seine Einflussmöglichkeit auf das professionelle Handeln als reduziert. Die Orientierung am individuellen Wohl des anvertrauten Klienten ist für die Profession Richtschnur im normativen Konflikt mit der Orientierung an den gesellschaftlichen Zentralwerten und den damit einhergehenden individuellen Enttäuschungen, allerdings im Rahmen der gesellschaftlichen Verträglichkeit. Die Berücksichtigung der Gesichts- punkte der gesellschaftlichen Verträglichkeit - den Werten, Zuweisungsregeln und Unverträglichkeitsbestimmungen - muss stets dem professionellen Habitus der Orien- 147 tierung am individuellen Wohl der Klienten beigeordnet bleiben, anderenfalls verzichtet die Profession auf den spezifisch professionellen Orientierungs-, Beziehungs- und Handlungsstil. Trotz der so differenzierten Maxime der Orientierung am individuellen Wohl müssen die Professionellen in bestimmten Situationen gesellschaftliche Herrschaftsdirektiven anwenden. Die Verwaltung gesellschaftlicher Güter bedingt die Beteiligung an den Organisationsverfahren der staatlichen Verwaltung und den entsprechenden Verfahrensabläufen. Die Delegation kann im Sinne des Subsidiaritäts- prinzips über Zwischeninstanzen wie kommunale Ämter vermittelt sein. Die Repräsen- tation wird als unpersönliche Herrschaftsausübung symbolisiert und das Verwaltungs- handeln vollzieht sich unter Berücksichtigung der sozialpolitischen Problemsichten und Lösungsvorstellungen der gesellschaftlichen Öffentlichkeit. „Jede Profession ist in den staatlichen Macht- und Herrschaftsapparat und sein hoheits- staatliches Verwaltungshandeln in erheblichem Umfang einbezogen. Sie vollzieht selbst Verwaltungshandeln im Auftrag des Staates, bedient sich der spezialisierten Verwal- tungshandlungen der Verwaltungsfachkräfte des Staates und staatlicher Trägerorganisa- tionen, muss sich an den Vorgaben der staatlichen Verwaltung und an den Interven- tionen und den Kontrollen anderer Professionen, die hierzu staatlich beauftragt sind, abarbeiten und nimmt zum Teil selbst im staatlichen Auftrag gegenüber anderen Pro- fessionen Kontrollaufgaben wahr (Schütze 1996, S. 243).“ Die Profession ist eingebunden in staatliches Auftragshandeln und somit auch in globale Kontroll- und Steuerungsfunktionen, wie sie besonders im Strafwesen, aber auch beispielsweise in Schulen oder der Familienfürsorge vollzogen werden. Dieser Teil des sozialpädagogischen Handelns muss stets reflektiert werden, zwar sind die Wirkungen dieser Funktionen zum Teil unvermeidlich, sie dürften aber, auch wenn es in der Realität des Berufsalltags anders aussieht, niemals handlungsleitend werden. Das Einbezogensein des professionellen Handelns in hoheitsstaatliches Handeln wird durch Selbstreflexions- und Selbstvergewisserungsverfahren bearbeitet und organisatorisch so gestaltet, dass zumindest die Chance einer kritischen Distanz besteht. Zum Teil werden die einhergehenden Orientierungs-, Entscheidungs- und Handlungsdilemmata in der konkreten Situation der Fallbearbeitung systematisch ausgeblendet, es besteht ein unkritisches Verhältnis des professionellen Handelns gegenüber der Verflechtung mit dem hoheitsstaatlichen Verwaltungshandeln. Ein Grund für die starke Belastung der 148 Profession durch den hoheitsstaatlichen Verwaltungs- und Herrschaftsapparat besteht darin, dass die Klienten der Sozialarbeit häufig am Rande der Gesellschaft stehen. Ihre Verlaufskurven enthalten soziokulturelle Deprivationen. Sozialarbeit beschäftigt sich ja nun nicht mit fortlaufender Distanzierungs-, Abgrenzungs- und Sanktionsfrage, sondern betont vielmehr Verständigungsbereitschaft und die Solidarbeziehung. So gerät die Sozialarbeit in der Orientierung der übrigen Gesellschaftsmitglieder auf die Seite der Außenseiter der Gesellschaft, erfährt - wenn auch in abgeschwächtem Maße - ähnlich stigmatisierende Zuschreibungen wie ihre Klienten. Unterstützt wird dies noch von den übrigen Professionen, die es ja eigentlich besser wissen müssten, vorgeblich im Konsens mit der Mehrheit der Gesellschaft. Von der Warte der Hierarchie des hoheitsstaatlichen Verwaltungsapparates aus gesehen, erscheint die Sozialarbeiterin als eine „unsichere Kantonistin“, verdächtig der Kumpanei mit potentiellen Abweichlern. Der Umgang mit den Stigmatisierungen ist für die Sozialarbeit besonders schwierig, aufgrund der Verpflichtung zur Solidarität gegenüber den randständigen Klienten, aufgrund der weitgehend unbearbeiteten Schwierigkeiten mit der Verwicklung in hoheitsstaatliches Verwaltungshandeln und vor allem wegen des Fehlens eines eigen- ständigen höhersymbolischen Sinnbereichs, „...mit der Qualität einer ganz eigen- ständigen Orientierungs- und Ausstrahlungsmächtigkeit - wie eine(r) interdisziplinäre(n) Theorie der Fallanalyse (Schütze 1996, S. 246f.).“ Schütze bezieht hier und im Folgenden Stellung zu den zentralen Entwicklungsdefiziten der Sozialarbeit im europäischen Raum, dem Fehlen eines eigenständigen höher- symbolischen Sinnbereichs und eines eigenständigen Analyse- und Fallbearbeitungs- verfahrens. Darüber hinaus verweist er auf die empirisch-biografieanalytisch orientierten Verfahren als Möglichkeit für eine theoretisch eigenständige Analyse und Fall- bearbeitung. Eine so geartete aktive Gestaltung der hoheitsstaatlichen Teilaspekte der Aufgabenstellung der Sozialarbeit könnte Konflikte zwischen dem Orientierungs- paradigma, für das individuelle Wohl des Klienten zu wirken, gegenüber dem hoheitsstaatlichen Verwaltungshandeln, auf der Basis der mächtigen analytischen Ressourcen, einhergehend mit ethischer Reflexionsarbeit, erträglicher und bearbeitbar machen. 149 5.2.8 Paradoxien des professionellen Handelns, systematische Fehler und sekundäre Reaktionsstrategien Die unterschiedlichen Wirklichkeitsbereiche der sozialen Realität konfrontieren die Berufshandelnden mit systematisch diskrepanten Erwartungen. Diese Diskrepanzen drücken sich in Handlungsanforderungen mit antinomischen Charakter aus. „Ein wesentlicher Teil dieser professionellen Handlungsparadoxien entsteht in Aktivi- tätskontexten der arbeitsteiligen Kooperation, der Organisation, der Herrschaft, der Routineabläufe und der dadurch erzeugten „dritten Natürlichkeit“ der professionell hergestellten Klientenwirklichkeit (Schütze 1996, S. 252).“ Schütze gibt die folgenden drei Bedingungskontexte an, unter denen sich die Bearbeitung der Paradoxien des professionellen Handelns besonders schwierig gestalten: • Aufgrund spezifischer Verletzungsdispositionen in der Kindheit und Jugend reagieren die künftigen Sozialwesenprofessionellen auf die beruflichen Anforder- ungen entweder mit „Kadavergehorsam“ oder mit totaler emotionaler Ablehnung. • Mangelhafte Ausbildung in den relevanten Wissenschaftsbereichen, insbesondere den Analyseverfahren sowie mangelhafte Praxis-Einsozialisation führen dazu, dass die widersprüchliche Handlungslogik der Paradoxien nicht bewusst ist, be- ziehungsweise geleugnet wird. • Organisations- und Herrschaftskontexte können derart widersprüchlich konstruiert sein, dass keine objektive Chance für eine geordnete Entfaltung von pro- fessionellen Handlungslinien besteht. In diesem Fall wird eine Berufstätige, die in Primärsozialisation, Studium und Berufs- ausbildung einen umsichtigen Umgang mit Steuerungs- und Herrschaftsproblemen erlernt hat, vermutlich zunächst Widerstand leisten und im Falle des Misserfolgs den gestörten Arbeitsplatz so schnell wie möglich verlassen. Durch Zwänge des Arbeitsmarktes, der Berufsorganisation und der persönlichen Lebensführung fest- gehalten, beginnt für die Sozialarbeiterin eine „Erosion ihres Selbstbewusstseins“. Diejenigen Berufstätigen jedoch, die entsprechende eigene biografische Verletzungs- dispositionen mitbringen, in Verbindung mit Mängeln in der Berufsausbildung, werden in der Regel nicht in der Lage sein, ihre Problematik auf eine konturierte Weise zu erkennen. Sie werden nur unter größten Gefühls- und Erkenntnisschwierigkeiten und mit 150 Hilfe von Supervision dazu gelangen, sich gegen die übermächtige Überformung durch Steuerungs- und Leitungsparadoxien zu wehren. Professionelle, die nicht mit den Paradoxien des sozialpädagogischen Handelns um- gehen können, greifen auf fehlerhafte Bearbeitungsstrategien zurück. Es wird versucht, die mit den Paradoxien gegebenen Antinomien einseitig aufzulösen oder aber diese zu ignorieren und zu umgehen. Ein Beispiel hierfür könnte der Umgang mit den Akten sein, insofern mit der Fokussierung und Konturierung der Problematik des Klienten zugleich eine Dekontextualisierung der Lebensgeschichte und Lebenssituation statt- findet. Eine Strategie der Umgehung der Problematik wäre es, den Akteneintrag mit konkreter Lebensgeschichte, Lebenssituation und subjektiver Befindlichkeit des Klien- ten definitorisch gleichzusetzen. Eine andere Strategie bestünde darin, sich zu suggerieren, dass die Akte keine wesentlichen Aufschlüsse über das Leben des Klienten erbringe. Diese grundsätzliche Radikalauflösung der Paradoxien führt zu sich wechsel- seitig verstärkenden Ketten von systematischen Fehlern bei der Arbeit. Wird beispiels- weise eine einseitige Orientierung auf die Aktenlage vorgenommen und die Biografizi- tät des Klienten geleugnet, so kommt dies einer Degradierung zum Nicht-Akteur gleich. Somit ist dann beispielsweise eine biografische Arbeit unmöglich, die Sozialarbeiterin steht in dem Zugzwang, zu anderen Aktivitäten Zuflucht zu nehmen, bzw. ihre Nicht- Aktivitäten zu verschleiern. Die Klienten reagieren auf den vorenthaltenen Vertrauens- vorschuss mit einer Schweigemauer, es kann zu Symbolisierungen von Aggressivität kommen. Die Auswirkungen der unablässigen Fehler führen zu einer Untergrabung der Selbstachtung und des Selbstwertgefühls der Sozialarbeiterin. Fehler bei der Arbeit, Folgen der systematischen Fehlbehandlung der Paradoxien, führen zu einer Verschär- fung der Verlaufskurvenproblematik der anvertrauten Klienten. Professionelle Arbeit kann den Betroffenen dazu führen, eine biografische Haltung zu seinem Verlaufs- kurvenpotential einzunehmen, es ist durchaus möglich, durch sozialpädagogisches Handeln die Lebenssituation des Klienten im Sinne einer aktiven Gestaltung des Lebens zu verändern. Ein wichtiger Gesichtspunkt ist, dass die Verlaufskurve der Klienten, wie auch die der Professionellen, Fesselungsmechanismen enthalten, die den Betroffenen festhalten, es ihm unmöglich machen, Strategien zu entwickeln die erlauben, die Verlaufskurve zu verlassen. Die Reaktionen der Klienten, Patienten oder Schüler auf die systematischen 151 Fehler bei der Arbeit, als auch die Reaktionen der professionell Berufstätigen, schaffen qualitative Merkmale für beider Lebenssituation und ihre Beziehung. Neben der Möglichkeit, sich grundsätzlich gegenüber den Integrationsimpulsen der Sozialpäda- goginnen zu verschließen, lassen sich Reaktionformen wie Protest, Ablehnung, Obstruktion auf der Seite des Betroffenen und Mechanismen wie Ausblendung, Leugnung, Uminterpretation, Rationalisierung oder einfaches Ignorieren der Fehler und der Folgen einer defokussierten Lebensführung beobachten. Schütze unterscheidet zwei weitere Reaktionsform-Typen: Die Betroffenen richten sich in den organisatorischen Kontrollen, die bis zu den gesamten Lebensalltag umgreifenden Kontrollformen der totalen Institutionen reichen, in einer Selbstkonolisierung ein. Einhergehend finden Prozesse der Ent- und Demoralisierung statt. Die andere Reaktionsform ist die einer systematischen Selbstbeschuldigung, Fehler der professionell Berufstätigen werden zu eigenen Fehlern uminterpretiert. So entsteht für die Betroffenen Klienten durch die systematischen Fehler eine neue, Verlaufskurven prägende Lebenssituation. Die Reaktionen der Klienten, wie auch die der Professionellen, weisen eine Tendenz auf, stabile Verhältnisse mit den Möglichkeiten zur Sekundärkontrolle und der Erleichterung der Situation zu schaffen, so dass ein sekundär stabilisierter Korrekturzustand, der eine Künstlichkeit enthält, entsteht. Diese Künstlichkeit kann eine produktive Heil-, Hilfe- und Lehrkünstlichkeit, aber auch eine Fehlerkünstlichkeit sein, eingeführt in die Lebenswelt der Klienten durch die Handlungsbeiträge der Professionellen. Häufig ist die alltägliche Lebensführung der Betroffenen nur möglich, wenn das Verlaufskurvenpotential und seine Dynamik durch Interventions- und Gestaltungsversuche der Professionellen unter Kontrolle gehalten werden, diese professionellen Aktivitäten verändern die Lebenswelt der Klienten nachhaltig. „Sowohl letzteres, als auch die „Korrektur-“Strategien der Anpassung an die systema- tischen Fehler bei der Arbeit schaffen also eine „dritte Natur“ in der Lebenswirklichkeit der Betroffenen (und natürlich auch in der der Professionellen), die zur ersten, der biologischen Natur und zur zweiten, der kulturellen Natur des Menschen als Mängelwesen (vgl. etwa Gehlen 1961, S. 46-52) als professionell hergestellte „künst- liche Natürlichkeit“ im Guten und Schlechten hinzutritt (Schütze 1996, S. 264).“ Mit jener dritten, professionell hergestellten „künstliche Natürlichkeit“ beschreibt Schütze eine anthropologische Konstante, einen Ausschnitt des Ensembles von Ver- 152 hältnissen die, individuelle Lebenswirklichkeit der Betroffenen verändernd, als Wirkung professionellen Handelns auftritt. Im Anschluss an Schützes' Beitrag, in dem neben Problemlösungen wie der eines vernetzten Gesamtarbeitsbogens und analytischem Werkzeug aus der Theorie des narrativen Interviews wie der Verlaufskurve, primär eine Analyse der Problemzonen sozialpädagogischen Handelns und deren Rahmenbeding- ungen niedergelegt ist, folgt nun Oevermanns Skizze einer Professionstheorie, in der ausgehend von der Differenz zwischen faktischer Professionalisiertheit und Professio- nalisierungsbedürftigkeit, die stellvertretende Deutung und fallrekonstruktive Kom- petenzen eine zentrale Position erhalten. „Festzuhalten ist, dass Schütze und Oevermann zu diametral entgegengesetzten Ergeb- nissen in Bezug auf die Frage der Professionalisierbarkeit der Sozialarbeit gelangen. Während Schütze von der noch nicht abgeschlossenen, aber prinzipiell durch eine einzurichtende Supervisionsdisziplin möglichen Professionalisierbarkeit sozialarbeiter- ischen Handelns ausgeht, vertritt Oevermann, dass Sozialarbeit nicht professionalisier- bar sei, weil sie zwei entgegengesetzte Strukturlogiken gleichzeitig zur Geltung bringen muss, die sich wechselseitig restringieren, in ihrer Wirkung beschneiden und notwendig einen fehlerhaften Handlungstyp entstehen lassen (Nagel 1997, S. 49).“ 153 5.3 Skizze einer revidierten Theorie professionalisierten Handelns, Ulrich Oevermann 5.3.1 Einleitung Ulrich Oevermann entwirft einen strukturtheoretischen Professionsansatz42. Den Professionen, als einer besonderen Kategorie unter den Berufen, bei denen Handlungs- probleme zur Ausbildung einer spezifischen Strukturlogik der Berufspraxis führen, kommt eine zentrale Bedeutung für das funktionieren fortgeschrittener Gesellschaften zu. Oevermanns Skizze einer revidierten Theorie professionellen Handelns fußt auf der klassischen Professionssoziologie und möchte die dort erkannten analytischen Defizite, das Verharren in der Explikation institutioneller Erscheinungsformen der relativen Autonomie von Professionen, überwinden. Deren innere handlungslogische Notwendig- keiten, auf die zu lösende Handlungsprobleme zurückgeführt werden können, seien bisher nicht hinreichend erfasst worden. Oevermann geht davon aus, dass eine derart „radikalisierte“ Theorie der Professionen mehr noch als die klassische Professionstheorie dem Einwand ausgesetzt ist, ein veraltetes Professionsideal zu mystifizieren. Daher postuliert er den Anspruch, die an den Entwicklungen zeitgenössischer Gesellschaften abgelesenen Interpretationen zu Bürokratisierungs- und Technokratisierungstendenzen zu widerlegen, wonach die von der klassischen Professionssoziologie idealtypisch konstruierten Professionen obsolet geworden sind und früher in ihren professionsethischen Idealen vornehmlich Standes- privilegien in Interessenskämpfen ideologisch rationalisiert worden seien. „Oevermann (1981), der an das Gedankengut Webers sowie der strukturfunktion- alistischen Tradition anknüpft - und sich gleichzeitig von letzterer abgrenzt - rekonstruiert die Handlungslogik professionalisierter Tätigkeiten als „widersprüchliche Einheit“, die durch die Elemente der universalisierten Regelanwendung auf der Grundlage wissenschaftlichen Wissens und des hermeneutischen Fallverstehens zustande kommt (Nagel 1997, S. 48).“ 42 vgl. Merten/Olk 1996, S. 573 154 5.3.2 Allgemeine Ableitungsbasis, Einführung zentraler Begriffe der Professionstheorie, zur Vermittlung zwischen konkreter Lebens- praxis und hypothetisch konstruierter Welt Für Oevermann ist die allgemeinste Ableitung der Profession gegeben mit dem Zusammenhang der gesellschaftlichen Problematik der systematischen Erzeugung des Neuen und der Krisenauflösung. Zunächst führt er in einem historisch-anthro- pologischen Diskurs an die Fragen der „... konstitutionstheoretischen Konstruktion des gesellschaftlichen Problems der systematischen Erzeugung des Neuen in der Schließung von Zukunftsoffenheit und der Lösung von Krisen...“ (vgl. Combe/Helsper 1996, S. 14) sowie der hieran anknüpfenden Frage eines basalen Modells, als Gegenstand der Erfahrungswissenschaften für eine sinnstrukturierte Welt heran. Nach Oevermanns Theoriebildung vollzieht sich der Übergang von Natur zu Kultur im Auseinandertreten der zwei durch die Entstehung von Sprache bedingten Sphären, der des Hier und Jetzt des Handlungsfeldes des unmittelbar Gegebenen und der Sphäre einer hypothetisch konstruierten Welt von Möglichkeiten, in der das Hier und Jetzt des konkreten Lebens transzendiert wird, mittels der durch Sprache als Regelsystem konstituierten Bedeutungsfunktionen. Mit dieser grundlegenden Aufspaltung in die Sphären von Wirklichem und Möglichen, den konstitutiven Bestandteilen der erfahr- baren Welt, eröffnet sich über die Naturgeschichte hinaus die Sphäre der Geschichte. Die Historie konstituiert sich als praktische Zukunftsoffenheit, im Sinne von Marx als von Menschen gemacht, jedoch jenseits ihres Willens und ihres Bewusstseins. Diese Offenheit wird weder durch geschichtliche Notwendigkeiten, noch durch Naturgesetze geschlossen, sondern durch Entscheidungen und Handlungen von Subjekten. Deren subjektive Handlungsgründe und die objektiven, nicht antizipierten Handlungs- folgen ergeben sich aus den Spielräumen bzw. Optionen, die durch objektive Handlungsregeln eröffnet werden. Die faktische Auswahl unter den Optionen wird getroffen aus den die jeweilige Lebenspraxis bestimmenden Fallstrukturgesetzlich- keiten. Unter den diese Fallstrukturgesetzlichkeiten bestimmenden Komponenten hat die subjektive Handlungsrationalität, die bewusste, auf realistischen Informationen und Einschätzungen beruhende Planung, nur einen kleinen Anteil. Die beiden Sphären des Hier und Jetzt und der hypothetisch konstruierten Welt verschmelzen zu einer Einheit der erfahrenen und erschlossenen Welt. Ihre Differenz 155 lässt sich fassen in den dialektischen Momenten von Unmittelbarkeit und der Ver- mittlung dieser Einheit. Für eine strukturalistische Position in den Sozialwissenschaften ist es wichtig, dass diese Sphäre des Hier und Jetzt sich nicht ontologisch in der dinglich-stofflichen oder materiell-substantiellen Objektwelt der Naturwissenschaften erschöpft, sondern eben auch auf die als Bedeutungs- und Sinnstruktur auftretende Welt der psychischen und sozialen Tatsachen ausgedehnt werden muss. Dies entspricht der für die objektive Hermeneutik zentralen Position der Destruktion eines ontologischen Realismus, dem zufolge wir uns nur das als real, wirklich bzw. empirisch gegeben denken, was uns über unsere Wahrnehmungssinne erreichen kann. Bedeutungs- und Sinnzusammenhänge sind einerseits empirisch, lassen sich aber nicht mit dem Wahr- nehmungssinn erreichen, sie sind nicht konkret sinnlich wahrnehmbar, sondern abstrakt. „Insofern geht die grundsätzliche Differenz der beiden Sphären ... natürlich nicht nur erkenntnislogisch in die parallele Differenz zwischen Praxis und Wissenschaft ein, sondern in die Lebenspraxis als Gegenstand der Sozial-, Geistes- und Kulturwissen- schaften selbst, also sowohl in die theoretisch-begriffliche wie in die naturwüchsige Konstitution dieses Gegenstandes (Oevermann 1996, S. 75).“ Daher können auch die primär, ihrer Natur nach vermittelten sinnstrukturierten Gegenstände dieser Wissenschaften in der konkreten Praxis als unmittelbar im Hier und Jetzt gegebene Wirklichkeiten krisenhaft wieder auftreten, also von vermittelten Zuständen in unmittelbare Gegenwärtigkeit retransformiert werden. Oevermann stellt den folgenden ordnenden Zusammenhang zwischen den Verhältnissen der sinn- strukturierten Gegenständen der Wissenschaft und der konkret-gegenwärtigen Praxis her: Die Welt der im Hier und Jetzt einer Handlungspraxis gegebenen Wirklichkeit, stellt die Welt der „brute-facts“, der Krisen erzeugenden Überraschungen oder auch die Welt der Zweitheit dar. Sie setzt zwangsläufig Mitte und Perspektivität des konkreten Lebens des Subjekts unter den Bedingungen der Kultur und somit der konkreten, die Erstheit repräsentierenden Lebenspraxis voraus. Im Sinne der Differenz zwischen konkreter Praxis und hypothetisch konstruierten Welt gehören also in der gegen- wärtigen Lebenspraxis Erstheit und Zweitheit als konstitutive Relation unverbrüchlich zusammen. Dieser Relation steht als Drittheit die Vermittlung oder Prädizierung der im Begrifflichen konstituierten Welt gegenüber, die man mit Charles Sanders Peirce als eine Sphäre des Symbols oder des logischen Interpretanten bezeichnen könnte. Für eine 156 über die Unmittelbarkeit des Naturzustandes hinausgehende Lebenspraxis, für die Dritt- heit ein konstitutives Moment ist gilt, dass sie sich erst in der objektiv gegebenen Welt der Sozialität (Hegels Sittlichkeit) konstituiert. Für die lebenspraktische Perspektive muss die Krise den Grenzfall und die entlastende Routine bzw. die in sozial validierten Normierungen und Typisierungen entlastend institutionalisierte Vorentscheidung den Normalfall bilden. Nur so ist praktisches Leben unter dem Druck seiner Endlichkeit bzw. der knappen Ressourcen überhaupt möglich. Umgekehrt ist für den strukturalistischen und pragmatischen Analytiker der Lebens- praxis die Krise der Normalfall, Routinen hingegen sind der analytisch abgeleitete Grenzfall. Routinen ergeben sich aus Krisen als sich bewährende Lösungen. Bezogen auf Routinen bedeuten Krisen deren Scheitern und damit ein manifestes Wieder-Öffnen der Zukunft, Routinen hingegen stellen immer wieder die Schließung einer ursprüng- lichen Krise dar, gehen aus dieser hervor und lassen sich folglich material und dyna- misch aus dieser ableiten. Dieser Ableitungszusammenhang liegt jedoch nicht vor beim Verhältnis von Routine und ihrem Scheitern in der Krise, denn Krise bedeutet zunächst nur die nach „Schließung rufende Öffnung der Zukunft“ (Oevermann 1996, S. 75). Diese zukünftige Schließung findet statt, sobald sich Neues, sich zukünftig Be- währendes emergiert und nicht bei einem Rückfall auf eine Dogmatisierung des schon gescheiterten Alten. Somit kann die Krisenkonstellation selbst nicht abgeleitet werden, sondern nur der langfristige Prozess der Bewährung einer Lösung zu Routine, erkenntnislogisch ausgedrückt in der Rekonstruktion der Krisenlösung als einer deter- minierenden. Aus der Sicht der objektiven Hermeneutik ist mit der Sequenzanalyse eine Methode der strukturalistischen und pragmatischen Theorietradition gegeben, die sich an diese Praxisvorlage in ihrer strukturellen Eigenheit anpasst. Das Grundmuster der Sequenz- analyse besteht in der Unterscheidung zweier grundlegend verschiedener Parameter. Zum einen liegen generative, Bedeutung erzeugende Regeln vor, die wie Algorithmen unabhängig von den Intentionen und Absichten des konkret handelnden Subjekts operieren. Wird beispielsweise B von A gegrüßt, so kann er sich, indem er zurück grüßt, zu diesem in eine verbindliche gemeinsame Praxisform geben, er kann aber auch den Rückgruß verweigern und damit die gemeinsame Praxisform. Dieser erste algorith- mische Parameter erzeugt sinnlogisch einen Spielraum von Möglichkeiten und damit 157 eine potentiell immer krisenhafte Entscheidungssituation. Der weitere Verlauf der Praxis hängt von der Auswahl unter den Optionen ab, die vom handelnden Subjekt getroffen wird. Diese Auswahl wird von einem zweiten Parameter bestimmt; um diesen zu kennzeichnen führt Oevermann den Begriff der „Fallstrukturgesetzlichkeit“ ein, der das Gesamte der Disposition einer konkreten Lebenspraxis, also die bewussten und unbewussten Wünsche, Erwartungen, Absichten, Zielvorstellungen, Wertorien- tierungen, Motive und Vorlieben umfasst. Diese -je individuierte- Fallstrukturgesetz- lichkeit geht aus einer Verkettung von praktischen Entscheidungsvollzügen hervor, bestimmbar wird sie durch die Rekonstruktion einer hinreichend langen Sequenz von Äußerungen und Handlungen eines sozialen Gebildes. Das Spezifische der Fall- strukturgesetzlichkeit bildet sich konkret ab in den sequenzanalytisch explizierten Möglichkeiten und Spielräumen, aus denen bewusst ausgewählt wurde in manifest krisenhaften Entscheidungssituationen, sofern die Auswahl nicht latent vermittelt wird durch eingelebte Routinen in Standardsituationen. Somit sind die von Oevermann für seine „radikalisierte Professionstheorie“ zentralen Begriffe, Fallstruktur, Fallstrukturgesetzlichkeit, Krise und Routine, autonome Lebens- praxis, systematische Erzeugung des Neuen, Subjektivität und Objektivität eingeführt. Als nächsten Schritt behandelt Oevermann vertiefend sein Verständnis von Lebens- praxis; diese, als widersprüchlicher Einheit von Entscheidungszwang und Begründungs- verpflichtung, korrespondiere mit der Methodologie der objektiv-hermeneutischen Sequenzanalyse. Eine autonome Lebenspraxis konstituiert sich, in Übereinstimmung mit der These von der Krise als dem Normalfall, gerade dann, • wenn die a priori gegebenen, Sozietät als Sittlichkeit ausmachenden Se- quenzierungsregeln der Bedeutungserzeugung, unabhängig operierend von unserem konkreten Wünschen und Wollen, einen Spielraum von Alternanten praktischer Handlungen eröffnen; • wenn aus diesen Möglichkeiten eine grundsätzlich als begründbar und vernünftig geltende Auswahl getroffen werden muss, weil anders das Überleben in den Sphären von Natur und Kultur gleichermaßen nicht möglich ist; 158 • dass nicht immer bewährte Routinen für die zu treffende Auswahl zur Verfügung stehen, sofern Geschichte nicht von vornherein stillgestellt sein soll; • wenn in Fällen des Scheiterns von bewährten Routinen und Antworten, in manifesten Krisen, eine „Richtig-Falsch“-Kalkulation ob der Offenheit der Krisensituation nicht mehr möglich ist; • und wenn die autonome Praxis sich in den manifesten Krisen gerade dadurch bewährt, dass sie auch dann greift, wenn bewährte Entscheidungshilfen nicht mehr zur Krisenlösung führen und der Anspruch auf Begründbarkeit nicht mehr einlösbar ist. Durch die Konfrontation von Lebenspraxis mit dieser Bewährungsdynamik wandelt sich das strukturell gegebene Autonomiepotential in eine faktische Autonomie. Mit jedem Schritt der faktischen Befreiung zur Autonomie und der Herauslösung aus den ent- lastenden und zugleich fremdbestimmten institutionellen Normierungen geht ein Schritt der belastenden Erweiterung von Verantwortlichkeit einher. Parallel zu dieser Dialektik konstatiert Oevermann im univeralhistorischen Rationalisierungsprozess ein Voran- schreiten der Polarität von erfolgreicher rationaler Problemlösung und des Anwachsens der Anforderung an die Geltung der rationalen Routinen. „Aber die Einlösung des Autonomiepotentials gelangt niemals an ihr Ende, jeder Schritt in der Sukzession der lebenspraktischen Autonomisierung entbindet neue, bisher unbekannte Krisenmöglichkeiten (Oevermann 1996, S. 78).“ Eine dialektische Einheit besteht zwischen der Ausdrucksgestalt und der autonomen Lebenspraxis, insofern die Subjektivität als eine solche sich erst in den lebens- praktischen Krisen konstituiert, wenn angesichts der „brute- facts“ bisherige Prädi- zierungen versagen. Die Sphäre der Subjektivität ist in der beschriebenen Weise an die Sphäre des Hier und Jetzt einer konkreten Lebenspraxis gebunden, diese ist für die methodisch-wissenschaftliche Erkenntnis grundsätzlich verschlossen. Das methodische Verstehen unterscheidet sich vom praktischen Verstehen, Letzteres verfährt je abgekürzt, nachvollziehend, auf die schnellstmögliche erfolgreiche Dechiffrierung von unterstellbaren Motivkonstellationen hin, das methodische Verstehen zielt ab auf die methodisch explizite und begründbare Geltung der rekonstruierten Text-Lesarten hin. Hegel brachte mit dem Bild der Eule der Minerva, die ihren Flug erst in der Dämmerung 159 beginnt zum Ausdruck, dass wissenschaftliche Erkenntnis immer nur nachträglich rekonstruierend die Geltung dessen überprüft, was die Praxis in Krisenhaftigkeit vollbracht hat, dieses praktische Vollbringen aber nicht ersetzen kann. So gilt an der Basis der Professionstheorie, dass die Erfahrungswissenschaft nicht die Funktion der autonomen Lebenspraxis übernehmen kann, sondern lediglich deren Leistung rekonstruieren. Eine Vermittlung von Theorie und Praxis ist innerhalb der Wissenschaft und der Erkenntnislogik nicht möglich, sondern nur als eine praktische Operation. Mit dieser Dialektik ist zugleich die Basis der Professionalisierungstheorie gegeben, weil professionalisiertes Handeln wesentlich in der Vermittlung von Theorie und Praxis besteht und in der Respektierung und Wiederherstellung einer beschädigten Autonomie der Praxis im Namen der Wissenschaft. „Damit haben wir eine erste Bestimmung des professionalisierten Handelns zur Hand. Professionalisiertes Handeln ist wesentlich der gesellschaftliche Ort der Vermittlung von Theorie und Praxis unter Bedingungen der verwissenschaftlichten Rationalität, das heißt unter Bedingungen der wissenschaftlich zu begründenden Problemlösung in der Praxis (Oevermann 1996, S. 80).“ Die Orientierung an der „autonomen Lebenspraxis“ als eines „sinnstrukturierten Gegen- standes der Wissenschaft", „ihre Respektierung und Wiederherstellung“ sind grundlegend für Oevermanns Professionstheorie. 5.3.3 Gesellschaftliche Krisenlösung und Strukturen systematischer Erzeugung des Neuen Die Bewährungsdynamik einer zur Autonomie befähigten Lebenspraxis ergibt sich bereits mit dem sich über einen langen Zeitraum vollziehenden Übergang von der Natur zur Kultur. Die in der objektiven Strukturlogik von Lebenspraxis enthaltene Dynamik manifestiert sich auf der Ebene des Wissens, zunächst des magisch-mythischen, später des methodisch-rationalen, ihre Artikulierung ist eine in sich historische und vollzieht sich beständig beschleunigend. Ihre erste menschheitsgeschichtliche Steigerung liegt vor im Schöpfungsmythos des antiken Judentums, die Vertreibung aus dem Paradies liefert den architektonischen Entwurf des Befreiungsfalls zur Autonomie. Von dieser religiösen Basis ausgehend, erfährt die Lebenspraxis eine ständige Steigerung des Rationalisierungsprozesses. Insofern ist die Bewährungsdynamik der autonomen 160 Lebenspraxis universell, als auch je historisch unterschiedlich ausgeprägt. Hieraus leitet Oevermann die soziologische Frage nach dem gesellschaftlichen Struktur- ort der systematischen, das heißt nach der nicht zufälligen Erzeugung des Neuen durch Krisenbewältigung ab. Diese vollzieht sich grundsätzlich im konkreten, individuellen und dem kollektiv-gemeinschaftlichen Leben, also in jeder konkreten Praxis. Doch auch für strukturell differenzierte soziale Kollektive besteht, zunehmend mit dem sich beschleunigenden Rationalisierungsprozess, das Problem, spezialisierte Instanzen zur krisenbewältigenden Erneuerung ausdifferenzieren zu müssen. „Das sind zunächst archaisch magische Funktionen im Bereich von Herrschaft und Umweltbeeinflussung; differenziert sich in den monotheistischen Religionen aus in den Dualismus von weltlicher Herrschaft und ethischer Prophetie als Vorläufer der Macht des Geistes, und das sind später, seit dem Übergang zur Moderne zum einen die systematischen Bereiche von Herrschaft, unternehmerischem Handeln und Intellek- tuellen-Räsonnement und zum anderen die Bereiche professionalisierten Handelns im Namen von Erkenntniskritik, das heißt von Wissenschaft und Kunst (Oevermann 1996, S. 81f.).“ Die Differenz zwischen Krisenbewältigung und Routine-Exekution entspricht der in der Moderne exemplarisch ausgeprägten Differenz des strukturellen Gegensatzes von politischem und bürokratischen Handeln. Bei dem allgemeinen Gegensatz zwischen Krisenbewältigung und Problembewältigung durch Routineexekution stehen politisches, unternehmerisches und intellektuelles Handeln einerseits und professionalisiertes Handeln andererseits, untereinander noch wenig ausdifferenziert, gemeinsam auf Seiten der Krisenbewältigung. Während die ersten Handlungsformen Krisen durch je fallbezogene Innovationen zu bewältigen trachten und sich der Tendenz nach primär an der Krise und ihrer Bewältigung als Normalfall orientieren, muss sich die Profession an der Routine als dem Normalfall orientieren. An diesem Punkt seiner Ableitung rechnet Oevermann das professionalisierte und das politische, unternehmerische und intellektuelle Handeln als dessen historische Vor- läufer, „...dem Komplex der systematischen Erneuerung durch Krisenbewältigung zu (Oevermann 1996, S. 82).“ Hierzu bedürfe es, so Oevermann, der Charismatisierung und in dieser Eigenschaft partizipiere professionelles Handeln an der Außeralltäglichkeit von Innovationen. 161 5.3.4 Autonome praktische Krisenbewältigung und rekonstruktive Bearbeitung von Geltungsfragen Die Praxis einer autonomen Krisenbewältigung lässt sich in zwei Phasen unterteilen. Die primäre Phase der aktiven Entscheidung zu einer Aktion ist immer auch eine spontan- reflexartige, intuitiv von ihrer Richtigkeit überzeugte Entschließung. Sie folgt der Unausweichlichkeit der Notwendigkeit des Sich-Entscheiden-Müssens. Die zweite Phase ist die der Rekonstruktion jener ersten, spontanen, selbst-charismatisierten Ent- scheidung. Durch die fortschreitende Ausdifferenzierung einer rationalen Wissens- verwaltung und -bearbeitung ist es zunehmend möglich, Krisenkonstellationen metho- disch zu simulieren und innerhalb dieser Simulation praktisch-folgenreiche Krisen- lösungen antizipativ zu rekonstruieren. Diese Unterscheidung kristallisiert sich in einer zunehmenden Differenzierung zwischen zwei unterschiedlichen sozialen Funktionen der Krisenbewältigung. Die primäre Phase fokussiert die Entscheidungsbildung stellver- tretend für eine vergemeinschaftete Praxis, sie ist selbst eine gesteigerte Praxis. „Sie verkörpert sich exemplarisch in der sozialen Position des Herrschers, der Macht zu erwerben und zu erhalten hat, um an das Gemeinwohl und ein legitimiertes Prinzip der Gerechtigkeit gebundene Krisenbewältigung praktisch folgenreich betreiben und ent- scheiden zu können, sie findet sich wieder in den wirtschaftlich-unternehmerischen Entscheidungen über den Ressourcen-Einsatz und die Kapitalverwertung, die immer auch für andere Personen folgenreich ist, und sie drückt sich auch aus im genuinen, öffentlichkeitsbezogenen wertgebundenen Räsonnement des Intellektuellen, das zur Kehrseite immer die dramatisierende Krisen-Diagnostik hat (Oevermann 1996, S. 83f.)43.“ Den ersten beiden Innovationsarten einer prinzipiell in sich gesteigerten Praxis ist tendenziell ein bürokratischer Stab der Routinisierung in der Entscheidungsführung zugeordnet. Praktisch realisierte kollektive Innovationen gehen von den Entscheidungen dieser beiden Bereiche aus, sie verkörpern die Primärfunktionen gesellschaftlicher Praxis. Diese Innovationen sind Antworten auf Krisenkonstellationen, die entweder extern induziert vorlagen oder durch eine argumentative Problematisierung herbei- geredet wurden. Die Innovationen führen immer auch zu Geltungskrisen, indem sie legitimierende und normalisierende Überzeugungen, Prinzipien, Weltbilder, Wert- 43 angesichts der faktischen Ungerechtigkeit und Gemeinwohlverletzungen konkreter Herrschaftssysteme betont Oevermann die Notwendigkeit aller Herrschaftssysteme, sich über einen wie auch immer inhaltlich konkretisierten Gerechtigkeitsentwurf zu legitimieren. 162 prämissen und Praktiken erschüttern oder auf Erschütterungen derselben Bezug nehmen und reagieren. Charakteristisch für diesen ersten Typus der Innovationen ist also die unmittelbar-praktische Krisenbewältigung und ein tendenziell bürokratischer Stab für die routinisierte Entscheidungsdurchführung und das Zeitigen von Geltungskrisen. Für die Funktionen, die mit dem Moment der Rekonstruktion befasst sind, steht weniger die Verantwortung für eine folgenreiche Entscheidung in einer Krisenkonstellation, als vielmehr die problematisierende Bearbeitung von Geltungsfragen in Vordergrund. Diese Geltungsfragen können aufgeworfen sein durch den Verlauf der Geschichte, durch interne Entgleisungen, sie können sich auch aus einer tendenziell reflexiv-müßigen Problematisierung ohne praktischen Handlungsdruck ergeben. In jedem Fall entsteht eine tendenziell von der Praxis-Verantwortung entfernte, geistig-intellektuell sich ver- selbständigende Bearbeitung von Geltungsansprüchen der normativ-deskriptiven Prob- lemlösungsmuster der Praxis. Dieses zweite Moment tritt in zunehmendem Maße als eigenständige Tätigkeit neben einer sich unmittelbar vollziehenden Praxis auf. „In dieser eigenständigen Bearbeitung von Geltungsfragen wurzelt letztlich die Strukturlogik professionalisierten Handelns (Oevermann 1996, S. 85).“ Oevermann untersucht die historische Entwicklung des Autonomisierungsprozesses dieses rekonstruktiven Moments und stellt eine erste große Steigerung der Verselb- ständigung im antiken jüdischen Monotheismus und im Hellenismus fest, im Unter- schied zur praktischen Rationalität der Kulturen der vorderasiatischen und ägyptischen Großreiche. Beim altjüdischen Monotheismus als einer Frühform entwickelte sich zwingend ein Dualismus zwischen der weltlichen Herrschaft und der ethischen Prophetie in einer frühen Ausformung der Eigenlogik der Macht des Geistes. Die Prinzipien, die diesem Dualismus zugrunde liegen, waren das erbcharismatische Königtum und das ethische Prophetentum. Der ethische Prophet als frühe Verkörperung der Eigenständigkeit der Macht des Geistes ist Vorläufer des modernen Intellektuellen, wie auch der modernen Erkenntniskritik in Form von Wissenschaft und Kunst. Der Intellektuelle in seinem wertgebundenen Räsonnement übt eine unmittelbar praktische Tätigkeit, wesentlich im charismatischen Vollzug einer auf ein Publikum bezogenen Gesellschaftsbildung aus. Die Formen der Erkenntniskritik als explizit methodische Formen der Geltungsüberprüfung sind angewiesen auf die Nüchternheit des unvorein- genommenen Blicks und vor allem auf eine Wert-Ungebundenheit, eine Wertfreiheit im 163 Sinne Max Webers. Zur Geltungsüberprüfung kann professionelles Handeln, implizit der Innovations- verpflichtung und der zur Krisenbewältigung nur kommen, wenn zugleich die Charismatisierung neutralisiert und eine vollständige Routinisierung vermieden werden können. Dieser Zusammenhang ist in Oevermanns Theoriebildung der dritte wichtige Aspekt für die Logik professionalisierten Handelns. „Auf einer dritten Ableitungsstufe sind also Professionen und ist die Logik pro- fessionalisierten Handelns dieser verselbständigten Funktion der Bearbeitung von Geltungsfragen zuzurechnen und in dieser Verselbständigung durch methodische Expliziertheit der personalen Charismatisierung des Personals entzogen. Diese unmittel- bar charismatische Durchführung von professionalisierter Praxis ...wäre schon eine Abweichung vom idealtypischen Habitus (Oevermann 1996, S. 86).“ Wenn Geltungsfragen auftreten, wenn die Selbstverständlichkeit insbesondere von legitimationsbedeutsamen, von sinnstiftenden und Alltagsnormalität sichernden Prin- zipien und Deutungsmustern in Frage steht, wenn also eine reflexive Vergegen- wärtigung eingespielter und geltender Erwartungen funktional erforderlich wird, dann bilden sich Tätigkeiten und Praxisformen aus, die dem professionellen Handeln ver- wandt sind. Dadurch entsteht ein Autonomisierungsprozess, denn die selbständige Bearbeitung von Geltungsfragen kann nur in dem Maß realisiert werden, als die Praxis entbunden ist von politischen und wirtschaftlichen Entscheidungen bzw. deren Trägern. Die rekonstruktive Phase der Krisenbewältigung muss auf dem Weg der Rationali- sierung von der Phase der unmittelbaren Entschließung hinreichend abgelöst werden. Im fortschreitenden Rationalisierungsprozess sind die eigenlogische Bearbeitung von Geltungsfragen und die praktischen Entscheidungen nicht mehr vereinbar, denn diese bedürfen einer Charismatisierung erfordernden Suggestivität. Jede Gesellschaft benötigt einen gewissen Freiraum für diese Bearbeitung, um ihre Problemlösungskapazität und Selbsterneuerungskraft durch die Gewährleistung von Pluralität zu ermöglichen. In den vormodernen Gesellschaften fiel die eigenlogische Bearbeitung von Geltungsfragen der Religion und später der Theologie zu, die Affinität der heutigen Professionen zu religiösen Fragen liegt hierin begründet. Die ver- selbständigte Bearbeitung von Geltungsfragen verweist auf die Eigenlogik der Macht des Geistes und auf die konstitutive Logik des besseren Arguments. 164 Die um diese Funktion zentrierten gesellschaftlichen Praxisformen sind in der Tendenz durch das Streben geprägt, „...die jeweilige gesellschaftliche Praxis zu überschreiten, konkurrierende Gesichtspunkte gedankenexperimentell gegeneinander zu setzen, kurz- um: utopische, die jeweilige konkrete Praxis-Räson der gesellschaftlichen Umgebung hinter sich lassende Entwürfe zu erproben oder kritisch gegen die tatsächlichen Verhältnisse zu setzen (Oevermann 1996, S. 87).“ Dies ist nach Oevermann die eigentliche strukturelle Wurzel für die Verbindlichkeit eines professionsethischen Ideals, dessen Unerreichbarkeit zugleich realisiert werden muss. 5.3.5 Drei Foki der Logik professionellen Handelns Als nächster Schritt ist zu klären, welche individuellen und gesellschaftlichen Bereiche, welche legitimationsbedeutsamen und praxisbegründenden Prinzipien und Deutungs- muster in eine gesellschaftlich relevante Geltungskrise geraten können und dann der Bearbeitung bedürfen. Diese Lebensbereiche sind die Gewährleistung einer kontinuier- lichen kollektiven Praxis von Recht und Gerechtigkeit im Sinne eines Entwurfs der konkreten Vergemeinschaftung und die Aufrechterhaltung und Gewährleistung von leiblicher und psychosozialer Integrität, basierend auf dem geltenden Entwurf einer Würde des Menschen. Oevermanns Analyse der Bereiche des Individuellen und des Gesellschaftlichen mündet in der Schlussfolgerung, dass diese beiden Problemfoki in einem polaren Spannungs- verhältnis zueinander stehen, entsprechend der dialektischen und widersprüchlichen Einheit von Individuum und Gemeinschaft. Als Folge dieses Verhältnisses werden die Kritik der diesbezüglichen Geltungsfragen und die methodische Sicherung dessen, was Wahrheit ist, zum eigenlogischen Problembereich. Folglich ist die methodische Überprüfung von Geltungsfragen und -ansprüchen unter der regulativen Idee der Wahrheit ein weiterer Fokus professionalisierten Handelns. Die Begründung gesellschaftlicher Ordnung und des tragenden Entwurfs von Gerechtig- keit kann in Frage gestellt sein, wie auch der von der Gesellschaft benötigte minimale Konsens über Gerechtigkeit und über das, was normativ als gerecht und gerechtfertigt gilt. Die Wiederherstellung dieses Entwurfes ermöglicht erst das Funktionieren von den 165 eine Gemeinschaft ausmachenden partikularen Lebenspraxen und Interessen, im Konkreten von Gemeinschaften, Personen, Gruppen und Verbänden, die ihre Pflichten gegenüber dem Gemeinwohl und ihre Rechte bezüglich der Durchsetzung von Eigeninteressen festlegen. Mit diesem Konsens, dieser Ordnung einer Vergemein- schaftung besteht nicht nur eine inhaltliche Liste von Maximen, Prinzipien und Wertprämissen, wie es die mit dem Grundbegriff von Wert und Norm operierende Soziologie vornehmlich in Gestalt der Handlungstheorie suggeriert44, sondern darüber hinaus eine strukturell und material durch die Gemeinschaft gestiftete Gemeinwohl- bindung, mit der diese Inhalte erst zu einer konkreten kollektiven Praxis werden. Die Praxis ist eine konkret-historische, während die Inhalte abstrakte Entwürfe sind. Die Vergemeinschaftung hat immer schon eine Bildungsgeschichte hinter sich und enthält das narrative Element, dass sie sich einen „Entstehungsmythos“ erzählen können muss. Als praktische Gemeinwohlbindung stellt dieser lebenspraktische, in der Sozietät praktizierte Ordnungsentwurf jene Solidarität her, in der sich für den einzelnen das Vertrauen darin materialisiert, in seinen partikularen Interessen respektiert zu werden und als kehrseitige Wirkung entsteht eine hinreichende Motivation, seinerseits die anderen in ihren Interessensgebieten zu respektieren. Über diese praktische Gemein- wohlbindung erst kann es zu jenem Vertragshandeln kommen, das den Kern der bürgerlichen Gesellschaft ausmacht. Diese Bindung wäre leer und abstrakt, wenn sie nicht an historisch-konkreten Anlehnungen von Wertgehalten anhaften würde. In historischen Umbrüchen, wenn die gesellschaftliche Ordnung als ganze in Frage steht, handelt die kollektive Praxis der Vergemeinschaftung und ihre charismatischen Vertreter und Führer politisch und intellektuell als Bewahrer oder Revolutionäre in Richtung der Befestigung einer veränderten gesellschaftlichen Ordnung. Im Vorder- grund steht dann nicht die verselbständigte Bearbeitung von Geltungsfragen, sondern vielmehr die praktische Bewältigung eines Umbruchs der gesellschaftlichen Ordnung selbst. Ist diese gesellschaftliche Ordnung nicht im Umbruch, sondern besteht als eine etablierte normative Ordnung, wird sie dennoch potentiell in Frage gestellt durch einzelne Ereignisse konkreter Funktionsstörungen, wie Akte der Abweichung, der Normenverletzung und des Zusammenbruchs konkreter Übereinkünfte. Ist ein solches 44 vgl. Oevermann 1996, S. 89 166 Nicht- Funktionieren gegeben, so muss der verletzte Konsens wiederhergestellt werden, damit nicht die Geltung der normativen Ordnung als solche gefährdet wird. Oevermann zufolge muss die Klärung von partikularen Dissensen über die Geltung von Normen des Zusammenlebens im Sinne einer sozialen Kontrolle erfolgen, damit die normative Ordnung in ihrer Glaubwürdigkeit bestehen bleibt. Denn wenn diese in eine Geltungs- krise gerät, greifen die Operationen sozialer Kontrolle von Abweichungen und Normen- verletzungen nicht mehr. Geht es um die Klärung dessen was rechtens ist, um die Korrektur von Rechtsverletzungen bzw. um die Wiederherstellung einer verbindlich- kollektiven Rechtsgeltung, im Unterschied zum abstrakten und experimentellem Thematisieren von rechtlichen Geltungsfragen, setzt in der Moderne ein professionali- sierungsbedürftiges Handeln ein. Diesem Handeln „...liegt als Fokus die Aufrechter- haltung des praktischen Konsenses über Recht und Gerechtigkeit zugrunde. In jeder Gesellschaft ergibt sich die Notwendigkeit, eine einmal eingetretene Brechung der konsensualen Normen von Recht und Gerechtigkeit zu restituieren (Oevermann 1996, S. 91).“ Den individuell-klientenzentrierten Ausschnitt der professionellen Praxis rahmt Oevermann unter dem Begriff des Therapeutischen: Beschädigungen leiblicher und psychosozialer Integrität des Individuums, also einer „Lebenspraxis innerhalb eines gegebenen Kollektivs“ bedürfen einer Krisenlösung, die von der Gesellschaft bereit- gestellt werden muss. Funktion dieses krisenlösenden Potentials ist es, die selbstver- ständliche Geltung von Normalitätsentwürfen der Praxis zu restituieren. Sollte dies nicht möglich sein, kann die leibliche und psychosoziale Integrität einer konkreten Lebenspraxis nicht wiederhergestellt werden, ist dieser Integritätsverlust durch die Vergabe einer Sonderrolle der Invalidität vor der normalen Pflichtübernahme der Gesellschaft zu schützen und zu kompensieren. Somit ist die Beschaffung und Bereit- stellung von therapeutischem Potential ein weiterer Fokus professionalisierten Handelns. Das sich im Interesse des primär therapeutischen Fokus vollziehende Wiederherstellungshandeln hat sekundär immer auch das gegenüberliegende Interesse der Aufrechterhaltung des praktischen Konsenses über Recht und Gerechtigkeit zu berücksichtigen, zwischen diesen beiden Foki besteht ein polares, spannungsvolles Komplementariat. Die dabei zu leistende gedankliche Vermittlungsarbeit steigert sich in dem Maß, „...in dem die mit den beiden gegensätzlichen Foki verbundenen 167 Begründungen zum Gegenstand eigenlogischer Geltungsüberprüfungen werden und sich aus der funktionalen Verbindung bzw. Verschlingung mit der jeweiligen Herrschaftsfunktion lösen (Oevermann 1996, S. 92).“ Die Aufrechterhaltung des praktischen Konsenses und das therapeutische Wiederher- stellungshandeln sind universell, für alle Gesellschaften gültig, variieren jedoch bezüglich der historischen Rationalisierung der Gesellschaften. Ebenso variiert der Grad, in dem die mit den beiden Foki verbundenen praktischen Probleme zum Anlass eigenlogischer Geltungsüberprüfungen werden und zum Gegenstand methodisch kontrollierter, begründeter Problemlösungen. Je expliziter solche Geltungsfragen thematisiert und Problemlösungen entwickelt werden, desto mehr entsteht eine eigen- logische Sphäre von Geltungsüberprüfungen und eine Lösung von der Ausübung von Herrschaft. Dieser Prozess wird forciert durch den Monotheismus als der geistigen Grundlage des okzidentalen Rationalisierungsprozesses. Dieser Monotheismus bringt zwingend den Dualismus einer materialen, wirtschaftlich-politischen Macht und einer Macht des Geistes hervor, diese geht ursprünglich hervor aus dem ethischen Propheten- tum. Die Institutionalisierung der Erfahrungswissenschaften sei, so führt Oevermann aus, die Vollendung des Loslösungsprozesses und mit ihr erst werde die nach expliziten Kriterien der Geltung durchgeführte Überprüfung von Behauptungen über die Welt unpersönlich und zu einem normativ geregelten universalistischen Handlungssystem einer spezifisch unpraktischen Wissenschaftspraxis. „Mit der Institutionalisierung der Erfahrungswissenschaften verselbständigt sich als dritter Fokus der der eigenlogischen Bearbeitung von Geltungsansprüchen, der als Fokus der Geltung von Weltbildern, Werten, Normalitätsentwürfen und Theorien bezeichnet werden kann und in dieser Allgemeinheit über die Wahrheitsidee der Erfah- rungswissenschaften hinausgeht (Oevermann 1996, S. 93).“ Diese Funktionen sind ursprünglich in sich magisch und mit der Herrschaft verbunden. Ausgehend vom Schamanentum, dem Prophetentum, dem chinesischen Literatenwesen und später auch dem Schriftgelehrtentum erfolgt im Verlauf der Geschichte als wichtiger Binnendifferenzierungsschritt die Heraustretung von Fragen der empirischen Geltung von Aussagen und der Geltung technischer Problemlösungen. Am Ende dieses Differenzierungsprozesses steht die methodologische Version der Wahrheitsfrage, diese mündet ein in den Habitus des erfahrungswissenschaftlichen Forschens. Mit der 168 Institutionalisierung der Erfahrungswissenschaften kommt es zur professionalisierten Ausbildung des wissenschaftlichen Handelns. Für diesen Handlungstypus gilt im Verhältnis zu den anderen beiden Foki, dass er sich wahrscheinlich später ausdifferenziert als die auf soziale Kontrolle und Therapiebeschaffung spezialisierten Tätigkeiten. Andererseits wird er zu deren Begründungsbasis und „Mutter-Struktur“. Die ersten beiden europäischen Universitäten im ausgehenden Mittelalter dienten primär nicht der autonomen Forschung, sondern der Ausbildung einer Habitusfunktion für die Vorläufer der klassischen Professionen. Diese Vorläufer erhalten somit einen universalistischen Bezugsort der Habitusformation, auf den sie sich in ihrem beruflichen Selbstverständnis beziehen können. Mit den Universitäten bildet sich der institutionelle Ort für den universalistischen, auf Methodologie gegründeten wissenschaftlichen Diskurs, der über die klassischen Professionen und deren habitusformativen Bildungs- kanon hinaus universalisiert und in seiner inhaltlichen Ausrichtung totalisiert wird. Die Universitäten sind mit dieser Totalisierung zuständig für Geltungsfragen bezüglich Aussagen über die erfahrbare Welt, für Geltungsfragen bezüglich der Werteordnung, sie repräsentieren institutionell den Strukturort der Erkenntniskritik. Wie Oevermann ausführt, differenziert sich im Okzident auf dem Gebiet der sinnlichen Erkenntnis die autonome Kunst als eigenlogische Erkenntniskritik heraus, in ihrer Wandlung von der funktionalen, ornamentalen bzw. legitimatorischen Affirmation zur Autonomie des unvoreingenommenen Blicks. Diese drei Foki stehen in einem polaren Gegensatz - und damit in einem Wechselverhältnis zueinander. „Das heißt: in der Praxis ist das professionalisierte Handeln immer eine Zusammen- setzung von Problemlösungen bezüglich aller drei Foki, aber dennoch ist in jeder konkreten professionalisierten Praxis einer dieser drei Foki dominant (Oevermann 1996, S. 95).“ 169 5.3.6 Zum Fokus Erkenntniskritik und Überprüfung von Geltungsansprüchen - Wissenschaft und professionalisierter Habitus des Forschers In den Sozialwissenschaften prägt sich deutlich die Differenz von Theorie und Praxis aus, die Praxiseinbettung des wissenschaftlichen Diskurses ist und kann immer nur eine konkret-historische sein, wobei zu diesem Zweck die Konkretion des Sprechers und des Adressaten, der ersten und der zweiten Person abstrahiert bleibt. Diese idealisierte Diskursform ist natürlich immer von konkreten, in der Praxis verwurzelten Subjekten abhängig und damit in der Praxis fundiert. Während in der Praxis selbst die jeweilige Perspektivität als Handlungsfolie für die Problemlösung konstitutiv ist, muss in der unvoreingenommenen methodischen Überprüfung von Tatsachenbehauptungen hiervon abstrahiert werden. „Der wissenschaftliche Diskurs ist also in dieser idealisierten Abstraktion von konkreten Interessen als eine Bedingung seiner Universalität zugleich eine Abstraktion von der Praxis (Oevermann 1996, S. 99).“ Der wissenschaftliche Diskurs konstituiert sich als paradoxale unpraktische Praxis. Dies bringt für die Naturwissenschaften keine großen methodischen Folgeprobleme mit sich, ist doch ihr Gegenstand selbst aus der Praxis herausgesetzt. Anders hingegen ist in den Kultur- und Geistes- bzw. den Humanwissenschaften methodologisch folgendes Problem zu klären: Wie kann die methodische Distanz zum Gegenstand aufrechterhalten werden, wie kann eine untilgbar faktisch in der Praxis fundierte Erfahrungswissenschaft die Praxis zum Gegenstand nehmen und hierbei Abstraktion und Unvoreinge- nommenheit bewahren? Mit der grundlegenden Differenz von Wissenschaft und Praxis geht die Differenz von methodischer und praktischer Kritik einher. Für die methodische, wissenschaftliche Kritik ist konstitutiv, dass sie - gerichtet auf die Geltung von Behauptungen über die erfahrbare Welt - die ihr aufgegebene Expliziertheit in Unvoreingenommenheit nur durchführen kann unter Absehung von jeglichen konstitutiven Wertbindungen, mit Ausnahme der regulativen Idee der Wahrheit. Im Hinblick auf diese Differenz muss der erfahrungswissenschaftliche Habitus in der widersprüchlichen Einheit von Interessens- abstraktion einerseits und dem Verzicht auf jegliche Wertbindung andererseits handeln. Die Stellung des Wissenschaftlers ist hierbei die, dass sein wissenschaftliches Handeln für ihn selbst nicht sinnstiftend ist, denn in seiner Unvoreingenommenheit ist es a priori 170 auf die Destruktion der Überzeugungen aus und bleibt völlig belanglos für die praktische Beantwortung von Fragen nach dem Sinn des eigenen Lebens. Wissenschaftliche Leistung ist a priori auf den Verzicht dieser Sinnstiftungsleistung angewiesen. Die Abstraktion von der Konkretion der Lebenspraxis von Sprecher und Adressaten ist Bedingung für die Operation einer expliziten Methodologie der Geltungsüberprüfung im wissenschaftlichen Diskurs. In dieser Abstraktion gleicht der wissenschaftliche Diskurs strukturlogisch dem kooperativen Spiel in seiner Zweckfreiheit. Bei den Möglichkeiten der Methodologie, die der wissenschaftliche Diskurs eröffnet, geht es immer um die Prüfung argumentationslogischer Kohärenz, die Untersuchung der logischen Konsistenz einer Schlusskette ist deren entscheidende Komponente. In den Erfahrungs- wissenschaften kommt wesentlich die Konfrontation mit den Erfahrungsdaten hinzu. Die Konfrontation mit Erfahrungstatsachen ist argumentationslogisch betrachtet nur sinnvoll in der Absicht der Falsifikation. Während in der Praxis Überzeugungen konkret überraschend scheitern, so dass die darin bestehende Krise im Sinne der Bewährung neuer Überzeugungen gelöst werden muss, die Praxis sich also im Sinne der Krise in einem stetigen Prozess der Falsifikation beziehungsweise der Bewährung befindet, äußert sich die Praxisentlastetheit der Wissenschaft darin, dass sie in ihrem methodologischen Fallibilismus im Sinne des kritischen Rationalismus die Möglich- keiten des Scheiterns radikal konstruiert, beziehungsweise im Experiment simuliert. Hieraus resultiert im Habitus des erfahrungswissenschaftlichen Forschers die widersprüchliche Einheit von leidenschaftlicher Überzeugung einerseits und einer radikalen Distanz zu dieser im bohrenden Widerlegen. Die Wissenschaft muss auch das problematisieren, was sich in der Praxis bewährt hat und dieser als unverzichtbar erscheint, insofern muss sie sich immer gegen die Praxis stellen und diese hinterfragen. Aus diesem Sachverhalt resultiert im erfahrungswissenschaftlichen Habitus die widersprüchliche Einheit einer welt- und praxisfremden Problematisierung einerseits sowie einer überprägnanten Kritik und eines ebensolchen Misstrauens andererseits, einer destruierenden Gegnerschaft zur Praxis bei einem gleichzeitig gegebenen langfristigen Schutz der Praxis vor einem folgenreichen Scheitern. Die fallibistisch-skeptische Grundhaltung im erfahrungswissenschaftlichen Habitus muss ein Umschlagen in einen solipsistischen Skeptizismus unterbinden, in dem sie sich auf die Unkritisierbarkeit von Regeln des Sprechens, des logischen Schließens und der sozialen Kooperation einlässt 171 und beruft, um kumulativ Irrtümer beseitigend zu wirken. Hierbei besteht die folgende Dialektik, dass bei der Methodenkritik die Rekonstruktion der Regeln des Sprechens, des logischen Schließens und des Dialogs nur unter Inanspruchnahme der materialen Geltung dieser Regeln möglich ist. Kritisierbar ist, so führt Oevermann aus (vgl. Oevermann 1996, S. 102), nur die wissenschaftliche Rekonstruktion dieser Regeln, wie jeder wissensmäßigen Repräsentation von Welt, nicht aber das materiale Operieren und die materiale Geltung dieser Regeln. Mit dem Zusammenziehen dieser Dimension, die den erfahrungswissenschaftlichen Habitus und den Diskurs als je widersprüchliche Einheit kennzeichnen, gelangt Oevermann zur folgenden Formel der Professionalisierungsbedürftigkeit des wissen- schaftlichen Diskurses (Oevermann 1996, S. 102 ff.): Die Realisierung des erfahrungswissenschaftlichen Habitus kann sich nur in völliger Entlastetheit von der Praxis, das heißt befreit von konkretem Einreden und funktionaler Indienstnahme durch die Praxis, vollziehen. Der Prozess der Autonomisierung besteht wechselseitig, denn die Praxis muss von der Wissenschaft in ihrer Autonomisierung respektiert werden. Die technokratische Missachtung dieser Autonomie vollzieht sich im Vorwurf des Dezionismus45, d.h. einer prinzipiellen Trennung von Theorie und Praxis mit dem Ausschluss von Sinn- und Wertfragen aus der Wissenschaft, an die Position Max Webers. Mit dem Verzicht auf eine inhaltliche Kontrolle entsteht das Folge- problem, welche Kontrolle an diese Stelle tritt. Für die Wissenschaft bleibt nur die Möglichkeit einer wirksamen kollegialen Kontrolle, innerhalb einer verbindlichen Professionsethik, die sich ihrerseits in universalistischen Prinzipien begründen lässt. Zum Zweiten muss aus diesen Prinzipien eine verbindliche Methodologie aus uner- schütterlichen Qualitätsstandards des wissenschaftlichen Arbeitens ableitbar sein. Die genannten universalistischen Prinzipien können nicht in Letztbegründungsargumenten oder -theorien bestehen, denn dies liefe auf einen unkritischen Dogmatismus hinaus, vielmehr kulminieren sie in der regulativen Idee der Wahrheit, korrespondierend mit der professionsethischen Haltung des unvoreingenommenen Blicks. Die regulative Idee kann, im Vermeiden eines Dogmatismus, nicht auf substantielle Wahrheitstheorien zurückgeführt werden, daher verweist Oevermann auf die schon 45 der Dezionismus postuliert eine praxisunverbindliche Forschung, Probleme der Nutzung wissenschaftlicher Erkenntnis werden als außerhalb der Sphäre der Verantwortung der Wissenschaft, zugehörig zu jener des Politischen beziehungsweise Persönlich-Subjektiven angesehen. 172 behandelten Prinzipien des wissenschaftlichen Diskurses und die „Dia-Logik des besseren Arguments (Oevermann 1996, S. 103).“ Diese Dia-Logik konstituiert sich in einer abstrakten, der Praxis enthobenen Gemeinschaft, deren idealisierter Charakter nicht in einem ethischen Sinne positiviert ist, sondern negativ bestimmt in seiner Interessenslosigkeit. „Dieses professionsethische Ideal erfüllt das Modell einer kontrafaktischen Geltung genau darin, dass es trotz seiner konkreten Unerreichbarkeit das konkrete wissen- schaftliche Handeln in seiner Erscheinungsform konstituiert und ‘antreibt’. Wir stoßen hier auf die widersprüchliche, die Dynamik professionalisierten Handelns ausmachende Einheit von Verbindlichkeit dieses professionsethischen Ideals einerseits und notwen- diger Einsicht in seine Unerreichbarkeit andererseits. Gerade diese Widersprüchlichkeit ist es, die eine nicht stillstellbare Dynamik des wissenschaftlichen Forschens entbindet (Oevermann 1996, S. 103f.).“ Die Verbindlichkeit dieses Ideals gewährleistet eine kollegiale und berufsständische Binnenkontrolle, womit dann die Abweisung einer inhaltlichen Kontrolle durch Laien und Praxis gerechtfertigt ist. Komplementär hierzu muss die Wissenschaft die Praxis vollständig sich selbst überlassen, auch hinsichtlich der Entscheidung, welchen Ge- brauch sie von den Forschungsergebnissen und den Ergebnissen der Erkenntniskritik in ihren jeweiligen konkreten Entscheidungen macht. Zur Autonomie des wissen- schaftlichen Handelns gehört zwingend die Respektierung der Autonomie lebens- praktischer Entscheidungen im Sinne des Weberschen Prinzips der Wertfreiheit. Aus dieser wechselseitigen Respektierung der Autonomie heraus bezieht die Wissenschaft die Möglichkeit, auch „narzisstisch-verletzende“ Überzeugungen und eingeschliffene, bewährte Gewohnheiten der Praxis in Frage zu stellen und dennoch eine Alimentierung durch eben diese Praxis zu verlangen. Oevermann bezeichnet die Bedingungslosigkeit des Forschens und Hinterfragens als eine „gewisse Arroganz gegenüber der Praxis“, diese liege begründet in ihrer Recht- fertigung durch das Argument und erst in dieser Einschränkungslosigkeit werde es möglich, langfristig ungeahnte Irrtümer zu tilgen. Die Alimentierung der Wissenschaft rechtfertigt sich aus der Autonomie der Wissenschaft und der vollständigen Abstinenz von praktischen Entscheidungsbeeinflussungen. Diese ist notwendig, denn das Klientel der Wissenschaft ist kein konkretes, sondern in der analytischen Abstraktion ist es die 173 Gesamtgesellschaft einschließlich ihrer noch ungewissen Zukunft. Das Verhältnis von Leistung und Gegenleistung kann nicht marktförmig aufgefasst, noch dargestellt werden und entsprechend kann dieses Verhältnis auch nicht durch den Markt kontrolliert werden. Oevermann bezeichnet in diesem Zusammenhang alle den marktförmigen Tauschverhältnissen entnommenen Analogien als Kategorienfehler. Das wissenschaftliche Handeln ist professionalisierungsbedürftig. Zu diesem lässt sich eingebettet in das professionsethische Ideal der vollständigen Autonomie der folgende professionalisierte Habitus explizieren: Der Forscher handelt unpersönlich gemäß dem Prinzip von Sachhaltigkeit und Methodisierung. In dieser Hinsicht ist er austauschbar, exekutiert eine soziale Rolle, bestimmt und festgelegt durch die wissenschaftliche Methodologie und die Professionsethik, jedoch nur in der ausschließlichen Hingabe an die Sache gehört er konstitutiv zu ihr. „Also ist der Forscher habituell geprägt durch die widersprüchliche Einheit von Rollen- handeln und Handeln als ganzer Person, von Elementen einer spezifischen und einer diffusen Sozialbeziehung. Dazu gehören auch die von Max Weber betonte wider- sprüchliche Einheit von Leidenschaften, in Neugierde und Faszination vor der Neuheit der Einsicht sich zeigend, und von Routine bzw. Unterordnung unter die methodischen Regeln, des weiteren die widersprüchliche Einheit von methodischer Strenge und radikaler Offenheit der Zukunft, von methodischem Rigorismus und radikaler Ver- weigerung gegen eine methodische Schließung des Ideenpluralismus (Oevermann 1996, S. 105).“ Oevermann stellt seiner professionstheoretischen Explikation einige Tendenzen gegen- über, die er als Phänomene der Deprofessionalisierung wahrnimmt: Die These der Praxisenthobenheit der Wissenschaft gilt, auch als Folge des Einflusses der Sozialwissenschaften, als problematisch, Wissenschaft im Elfenbeinturm gilt als anstößig. Im Sinne der von Oevermann vorgetragenen Professionalisierungstheorie ist jedoch die Abgeschlossenheit im Elfenbeinturm, Metapher für die Autonomie der Wissenschaft, unverzichtbar. Es wird, vor allem im Zusammenhang mit der Nutzung von Atom- und Bioenergie, eine ethische Beschränkung der Forschung gefordert, hierzu gibt Oevermann unter Anerkennung der Grenzfrage bezüglich des Verhältnisses von Wissenschaft und Praxis zu bedenken, dass gerade die geforderte ethische Kontrolle der Forschungsfragen zu einer Restriktion führe, welche eine Schließung der Zukunfts- 174 offenheit mit sich bringt. Oevermann wirft die Frage auf, ob mit dem Verzicht auf die Nutzung von Erkenntnismöglichkeiten, die das Risiko einer destruktiven Nutzung in sich tragen, auch Möglichkeiten eingeschränkt werden, die Lösungen für schwierige Probleme bereitstellen könnten. Oevermann zeichnet die Tendenz einer technokratischen Verwissenschaftlichung nach, bei der die ethische Selbstkontrolle der Wissenschaft zu einer Enthebung der Autonomie der Praxis und zu einer restriktiven Schließung von Zukunftsoffenheit führt. Für diese Tendenz ist eine sich permanent erweiternde Assimilitation des Wissenschaftshandelns in Verwaltungshandeln charakteristisch, es kommt zu einer Angleichung des Besonderen, Unbekannten und Unerwarteten in Allgemeines, Schematisiertes und Standardisiertes. 5.3.7 Zum Fokus Therapie, Aspekte einer soziologischen Sozialisations- theorie: diffuse und rollenförmige Sozialbeziehungen Der in Parsons „Social Systems“ vorgenommene professionstheoretische Beitrag zur Arzt-Patient Beziehung gilt als eine der gewichtigsten Analysen zur Theorie der Professionen. Hierbei wird eine systematische Komplementärbeziehung zwischen der therapeutischen Beziehung und der Sozialisation hergestellt. Oevermann entwickelt die Strukturlogik des professionalisierten Handelns in diesem Fokus, wie schon im dem des wissenschaftlichen Handelns, auf der Basis der widersprüchlichen Einheit von Rollen- handeln und Handeln als ganzer Person. Entsprechend der soziologischen Sozialisa- tionstheorie vollzieht sich in der praktischen Teilhabe an der Struktur der familialen sozialisatorischen Interaktion die Strukturgesetzlichkeit der ödipalen Triade. Die Beziehung dieser Triade, die Mutter-Kind und die Vater-Kind Beziehung sind der Prototyp der diffusen Sozialbeziehungen. Kennzeichnend für diffuse Sozialbeziehungen ist unter anderem, dass derjenige die Beweislast trägt, der ein Thema ausschließen will, während beim Typus der spezifischen Sozialbeziehungen, die eine Liste vereinbarter und institutionalisierter Themen beinhalten, derjenige die Beweislast trägt, der ein Thema hinzufügen will. Oevermann fasst die diffusen Sozialbeziehungen im Unterschied zu Parsons als nicht rollenförmige Sozialbeziehungen zwischen ganzen Personen auf, die Kategorie der Rolle leistet vor allem die Konkretion einer Beziehungspraxis in auf 175 institutionalisierte Normen zurückgehenden Mustern. Die ödipale Triade46 ist zusammengesetzt aus diffusen Sozialbeziehungen, erst wenn diese gescheitert sind, werden die Beziehungen der familialen Dyade zu Rollen- beziehungen. Normal für eine diffuse Sozialbeziehung ist, dass alles thematisierbar ist, erst in ihrem Scheitern reduziert sich eine Beziehung auf eine rollenförmige Sozialbe- ziehung. Die grundlegende Unterscheidung zwischen diffusen und spezifischen Sozial- beziehungen und ihre Anwendung auf die Strukturanalyse sozialisatorischer Inter- aktionssysteme führt für die Soziologie zu folgender Implikation: Wenn die Kategorie der Rolle sich a priori nicht eignet für die Analyse solcher Systeme, dann bedeute dies, so argumentiert Oevermann, dass eine ernstzunehmende soziologische Konstitutions- theorie ausscheide. Aus der Rollentheorie heraus resultiert der Dogmatismus, dass die elementaren Formen der Sozietät, wie sie in den sozialisatorischen Interaktionssystemen zwischen ganzen Menschen auftreten, nicht zum Gegenstand soziologischer Strukturanalyse zählen. Daher muss in Erwägung gezogen werden, welchen Stellenwert diesen elementaren Formen von Sozialität in der Konstitutionstheorie eingeräumt werden soll, den an der Peripherie der Gesellschaft, als lebensweltlicher Rand einer systemischen Sozialwelt oder aber den einer fundierten Grundlage von Gesellschaftlichkeit. In einem struk- turalistischen Ansatz muss konstitutionstheoretisch letztere Position im Zentrum stehen und damit die elementare rollenfreie Sozialität nach dem Muster einer diffusen Sozialität vom ganzen Menschen. Das humane Handeln erscheint, ähnlich wie in Hegels Rechtsphilosophie bezüglich der Kategorie der Sittlichkeit, auf den grundsätzlich verschiedenen Strukturebenen als Handeln ganzer Personen, als Handeln innerhalb des sozialisatorischen Interaktionssystems, in der Regel der Familie und innerhalb der Vergemeinschaftung, also in der Regel im Staat als Staatsbürger. „Weil das rollenförmige und systemisch erscheinende formalisierte Handeln typologisch und quantitativ in der modernen gesellschaftlichen Erscheinung so im Vordergrund steht und die elementaren Formen der Sozialität ungerahmt primär nur noch in scheinbar peripheren Zonen des Schenkens, des Begrüßens, der zweckfreien Geselligkeit jenseits von Kulturindustrie uns vor Augen tritt, sind die Soziologen dazu verführt worden, 46 den Begriff des Ödipalen entlehnt Oevermann „...in deskriptiver Weise der psychoanalytischen Theorie, explizit einer Bezugnahme auf die psychoanalytische Sinnwelt“. 176 dieser Peripherisierung auch in ihrer Kategorienbildung zu folgen (Oevermann 1996, S. 112).“ Oevermann wirft die Frage auf, wie denn im sozialisatorischen Interaktionssystem, im Zusammenspiel der drei diffusen Sozialbeziehungen, die ursprüngliche Erzeugung der Autonomie von Lebenspraxis stattfindet. Alle drei Dyaden sind durch einen Ausschließ- lichkeitsanspruch der Partner aufeinander geprägt. Als konstitutives Strukturelement ergibt sich hieraus, dass jede beteiligte Person den Ausschließlichkeitsanspruch auf einen Partner in einer Dyade mit einem Dritten teilen muss, sich diese Teilung mit einem dritten bei zwei verschiedenen Partnern gefallen lassen muss und sich selbst reziprok ebenfalls zwischen zwei Personen teilen muss. Als normaler Dauerzustand resultiert hieraus die Eifersucht, diese staut sich erst „... im Stillstand der Dynamik der Transformationsmöglichkeiten der ödipalen Triade...“ , als deren emotionaler Ausdruck pathologisch auf (Oevermann 1996, S. 113). Kennzeichnend für das sich bildende Subjekt in der manifest ödipalen Triade ist das Auftreten von Krisen und deren Bewältigung. Diese Krisen sind, stark verkürzt dargestellt, die mit der Geburt erfolgende Ablösung aus der primären organischen Symbiose im Mutterleib, die Ablösung aus der Mutter-Kind-Symbiose, die Ablösung aus der manifest ödipalen Triade und schließlich die Ablösung aus der Herkunftsfamilie in der Bewältigung der Adoleszenzkrise. Diese verkürzt dargestellte strukturelle Konstellation der sozialen Geburt des autonomen Subjekts bildet nach Oevermanns Auffassung theoretisch-analytisch wie material den zentralen Bezugspunkt für professionalisiertes Handeln im Fokus Therapie. Therapeutische wie prophylaktische Intervention müssten sich normativ an diesem genetischen Modell von Autonomie orientieren. Primär für professionalisiertes Handeln ist hierbei das Arbeitsbündnis in einer diffusen und zugleich spezifischen Beziehung zum Klienten, mit dem Ziel leibliche und psychosoziale Beschädigungen zu beseitigen oder zu mildern. Im Anschluss an seine Ausführungen zur Praxis des therapeutischen Handelns47, die im Wesentlichen konvergent sind zu den Lehrmeinungen der psychoanalytischen Theorie- bildung, betont Oevermann, dass die für professionalisiertes therapeutisches Handeln notwendigen Fähigkeiten nicht durch theoretische Aneignung gewonnen werden können, sondern in professionalisierten Praxen als dem eigentlichen Strukturort der 47 Oevermann 1996, S. 115-122 177 Vermittlung von Theorie und Praxis. Das Arbeitsbündnis ist der strukturelle Ort der Vermittlung von Theorie und Praxis. In dem Sinne, dass professionalisierte thera- peutische Praxis durch Einübung in eine Kunstlehre und durch Handlungspraxis erworben wird, handelt es sich primär nicht um Wissenserwerb, sondern um Habitus- formation. Die in sich professionalisierte therapeutische Praxis ist geprägt durch eine Entschärfung des Entscheidungszwangs, die sich aus der Stellvertretung bei der Wieder- herstellung der beschädigten Lebenspraxis ergibt und dazu entscheidend geprägt durch eine Steigerung der Begründungsverpflichtung. Oevermann stellt bei den Professionen, bezogen auf den Fokus Therapie, eine doppelte Professionalisierung fest. „Sie sind zum einen professionalisiert hinsichtlich der Einübung des wissenschaftlichen Diskurses... . ... Sobald nun die Anwendung dieser erfahrungswissenschaftlichen Erkenntnisbasis und des damit verbundenen erfahrungswissenschaftlichen Habitus auf die Lösung der Probleme einer konkreten Praxis ansteht, ist eine zweite, nochmalige Professionalisierung notwendig, die sich wiederum auf das Verhältnis von Wissenschaft und Praxis bezieht, aber dieses Mal in der konkreten, zugleich personalisierten Beziehung zum Klienten bzw. Patienten (Oevermann 1996, S. 124).“ Zwischen den parallel angeordneten, polaren Unterscheidungen von systematisiertem, kodifiziertem, erfahrungswissenschaftlichem Wissen einerseits und der interventions- praktischen Habitusformation andererseits, zwischen der Professionalisierung im wissenschaftlichen Diskurs und der Professionalisierung im Arbeitsbündnis, werden von Oevermann weitere Polaritäten von Qualifikationsmerkmalen zugeordnet. In Bezug auf die erfahrungswissenschaftliche Begründungsbasis muss der Therapeut danach trachten, die fallspezifische Pathologie kausal allgemein zu erklären. Andererseits kann nur dann eine sachangemessene Diagnose vorgenommen werden, wenn die Symptome fallver- stehend in den konkreten Kontexten der Lebens- und Traumatisierungsgeschichte des Patienten eingerückt und zugleich als gültigen Ausdruck dieser Lebensgeschichte interpretiert werden. Erklären und Fallverstehen sind zwei polar zueinander stehende kognitive und metho- dische Operationen. Diesem Gegensatz entspricht der von Subsumtion und Rekonstruk- tion. Es findet hierbei eine Zuordnung zu einem Krankheitstyp innerhalb eines Erklärungsmodells statt und die hieraus zu begründenden therapeutischen Maßnahmen erfordern, den jeweiligen konkreten Fall unter allgemeine klassifikatorische Begriffe und 178 theoretische Modelle zu subsumieren. Dies allein wäre ein inhumanes, technokratisches Verständnis von Krankheit, daher bedarf es der Ansehung des lebensge-schichtlichen Kontextes, der Motivierungslinien und Potentiale, um nicht konkrete körperliche und psychische Zustände an einem abstrakten Standard zu messen und nach einem fallfremden Abgrenzungskriterium als krank oder gesund einzuordnen. Aus rekonstruktiver Sicht auf die konkrete Fallstruktur in ihrer lebensgeschichtlichen Einbettung ist das Pathologische nicht nur negativer Fremdkörper oder Störung, sondern motivierender Bestandteil des konkreten Lebens in seiner Totalität. Krankheit wird somit zum Maximum an Gesundheit im konkreten Leben, implizit der Trauma- tisierungsgeschichte und des Überlebenskampfes unter den jeweiligen konkreten Lebensbedingungen. Diagnose ist somit nicht ein normativer Akt der Abgleichung von Messdaten, sondern es ist vor allem die Rekonstruktion der Fallstruktur, die Symptomatik, Krankheit und Möglichkeit der Gesundheit expliziert. Oevermann expliziert die folgenden operationellen Schritte: An die Polarität von Subsumtion und Rekonstruktion lehnt sich jene der kausalen Erklärung und der empirischen Generalisierung einerseits und der explanativen Fall- rekonstruktion und Strukturgeneralisierung andererseits an. Einhergehend besteht die Spannung zwischen einer distanziert-analytischen Herauslösung, der Identifikation einzelner Kausalbeziehungen und einer „...gestalterschließenden und potentiell auf niedrigem Explikationsniveau operierenden vorläufigen intuitiven Gestalterfassung andererseits (Oevermann 1996, S. 128).“ Hiermit verknüpft ist die Spannung zwischen der distanzierten Beobachtung und der auch große Nähe akzeptierenden personalen Zuwendung. 179 5.3.8 Zur Differenz zwischen Professionalisierungsbedürftigkeit und faktischer Professionalisiertheit Diese Unterscheidung hinsichtlich der doppelten Professionalisiertheit der thera- peutisch-praktischen Anwendung von Wissenschaft lässt den Unterschied zwischen authentischen Professionen und Semi-Professionen klarer fassen. Die klassische Theorie zeichnete institutionelle Erscheinungen der Professionen nach, somit von Professionen, die historisch erfolgreich den Professionalisierungsprozess durchlaufen hatten. Pro- fessionalisierungsbedürftige Berufe, deren Professionalisierung historisch nicht gelungen waren, konnten nicht als solche eingeordnet werden und galten als Semi-Professionen. Für das Ensemble der Sozial-, Kultur und Geisteswissenschaften besteht die unüber- steigbare kategoriale Differenz zwischen Wissenschaft und Praxis, die Entscheidungs- krise kann, im Unterschied zur therapeutischen Praxis, deren Kompetenz gerade da beginnt, nicht bewältigt werden. Technische und ingenieurale Anwendungen wissen- schaftlicher Erkenntnis sind auf den Ebenen des wissenschaftlichen Diskurses professio- nalisierungsbedürftig, nicht aber hinsichtlich ihrer Anwendung in der konkreten Praxis, es bedarf nicht der Komponente der habitusprägenden Vermittlung einer spezifisch- praktischen Kunstlehre. 5.3.9 Die Professionalisierungsproblematik pädagogischer Praxis, eine strukturanalytischen Betrachtung des therapeutischen Fokus 5.3.9.1 Pädagogisches Handeln versus naturwüchsige sozialisatorische Praxis Oevermann analysiert pädagogisches Handeln im Bezugsrahmen des von ihm im Fokus von Therapie niedergelegten allgemeinen Strukturmodells therapeutischer Praxis. Pädagogisches Handeln unterscheidet sich systematisch von der naturwüchsigen sozialisatorischen Praxis, insofern es gezielt auf eine zusätzliche Erziehung und Bildung außerhalb dieser Praxis aus ist. Rollenspezialisierung und Expertisierung der Agenturen pädagogischen Handelns führen zu einer Differenzierung, aus der sich notwendiger- weise eine Lehre der Begründung und Rechtfertigung dieses Handelns ergibt. Eltern, als Normalagenturen der primären sozialisatorischen Praxis, müssen bezüglich der Ziele und Funktionen ihre Nichtzuständigkeit eingestehen und daher Teile ihrer soziali- satorischen Autorität abgeben bzw. delegieren. Hierin besteht die strukturelle Wurzel für 180 eine latente Konkurrenz zwischen Erziehern und Eltern. Diese Bestimmungen verdeutlichen Parallelen zwischen Therapie und Pädagogik, die Prinzipien pädagogischer Praxis werden der naturwüchsigen Sozialisation entnommen und durch bewusste methodische Prüfung gesteigert und geklärt. Ähnlich wie in der Therapie besteht ein spezifisch-eigenes Problem der expliziten Überprüfung der Geltung konstitutiver Prinzipien und Verfahren der Praxis, bezogen auf das Grundproblem der körperlich-seelischen und sozialen Integrität der Person und des gesellschaftlichen Nachwuchses. Es bedarf nicht nur der theoretischen Begründung einer Handlungslehre, sondern auch einer „...spezifischen, in sich praktischen kunstlehrehaft fixierbaren Ver- mittlung von theoretischer Begründung und fallspezifischer konkreter Anwendung des theoretischen Wissens in einer in sich autonomen Aktion (Oevermann 1996, S.142).“ Ähnlich wie bei der Therapie besteht beim pädagogischen Handeln das Grundproblem darin, bei der theoretisch und methodisch ausgewiesenen Hilfe nicht jene Autonomie wieder zu nehmen, die den Strukturkern einer in sich autonomen Praxis des Arbeits- bündnisses mit dem Klienten bildet. Die Gesellschaft muss für ihre Reproduktion Instanzen der Vermittlung durch methodische Unterweisung bereitstellen, die Pädagogik vermittelt Wissen, Traditionen und Techniken, deren Weitergabe durch die Sozialisation in den Herkunftsmilieus nicht mehr gewährleistet ist. Dies findet statt im Kontext der oft als „Hidden Curriculum“ bezeichneten, als selbstverständlich genommenen Einbettung der Pädagogik in das Ganze der Sozialisation, im Kontext einer technokratischen Pädagogisierung. Eine zweite zentrale Funktion der Pädagogik ist die der Normenvermittlung, die Verinner- lichung von Normen und die Reflexion ihrer Geltungsgründe ist zentraler Bestandteil herausgehobener Tätigkeiten, da in der Regel implizit erfolgend, können Normen- und Wissensvermittlung nicht mehr scharf getrennt werden. Die Wissensvermittlung beschränkte sich in der vormodernen Gesellschaft auf gehobene Stände und Gruppen, als sie in die institutionelle Erziehung der universalistischen Bürgergesellschaft überging, musste der Staat die Wissensvermittlung in seine Obhut nehmen. Hierbei besteht zwangsläufig eine Kongruenz mit den Normen des gesellschaftlichen Zusammenlebens und mit der Ausbildung des guten Untertanen oder des späteren Citoyen. Oevermann geht trotz dieser „Amalgamierung“ der Wissens- und Normenvermittlung von einem Primat der Wissensvermittlung bei der Aus- 181 differenzierung und Verselbständigung der institutionellen Erziehung aus, weil es ja die Vermittlung des komplexen, spezialisierten Wissens ist, die eine Erziehung außerhalb der naturwüchsigen Sozialisation erfordert. Eine Beschränkung auf die Wissens- vermittlung wäre unter der Gegebenheit einer eigenen institutionellen Erziehung problematisch und brüchig, weil beim sozialen Vorgang der Wissensvermittlung permanent kooperiert und normierungsbedürftig gehandelt werden muss. „Normenvermittlung läuft also immer auf die Vermittlung eines Habitus und insofern auf Bildung hinaus - heutzutage auf die Bildung des mündigen Bürgers in der Befähigung zur selbstverantwortlichen Verfolgung des Eigeninteresses unter der Bedingung der Achtung des anderen in seiner Eigenart und Würde einerseits und der Verpflichtung gegenüber dem Gemeinwohl andererseits (Oevermann 1996, S. 145).“ 5.3.9.2 Die therapeutische Dimension pädagogischer Praxis im Sinne einer Prophylaxe pathogener Entwicklungen Die dritte Funktion pädagogischen Handelns, die implizit therapeutische, ist in der Regel nicht thematisiert, den objektiven Strukturgesetzlichkeiten pädagogischen Handelns gemäß wird sie jedoch in der Praxis wahrgenommen. Neben den Funktionen der Wissens- und Normenvermittlung ergibt sich im „Normalfall“ pädagogischen Handelns im Schüleralter eine therapeutische Dimension dadurch, dass die Interaktionspraxis zwischen Lehrer und Schülern das zu erziehende Kind als ganze Person erfasst und von daher folgenreich für die Konstitution der psychosozialen Gesundheit des Kindes wird. In der Regel liegt eine manifeste Psychopathologie mit Leidensdruck nicht vor, die therapeutische Dimension bezieht sich auf eine pathogene Entwicklung, hier findet durch das pädagogische Handeln eine massive Beeinflussung des Soziali- sationsprozesses statt. Unter dem Aspekt der therapeutischen Dimension ist pädagogisches Handeln ein prophylaktisches, im Hinblick auf eine Weichenstellung der Biografie von Schülern in Richtung auf psychosoziale Normalität oder Pathologie. Beim verkürzten Selbstbild des Pädagogen erschöpft sich sein berufliches Handeln auf Wissens- und Normenvermittlung, psychosoziale Störungen des Schülers werden auto- matisch dem häuslichen Milieu kausal attribuiert. Daher ist nach Oevermann für die Strukturbestimmung pädagogischen Handelns die Berücksichtigung der gegebenen 182 therapeutischen Dimension konstitutiv. Die Professionalisierungsbedürftigkeit ergibt sich aus dem Gesichtspunkt der Prophylaxe und nicht aus der Wahrnehmung der Wissens- und Normenvermittlung. Aus der Reduzierung der Normalpädagogik auf ein Selbstverständnis der Wissens- und Normenvermittlung entsteht die Differenz zwischen Normal- und Sonderpädagogik. Tendenzen der Professionalisierung sind am ehesten im Bereich der Heil- und Sonderpädagogik zu beobachten, die sogenannte Normal- pädagogik entzieht sich von ihrem Selbstverständnis her der objektiv gegebenen Professionalisierungsbedürftigkeit. 5.3.10 Die potentielle Struktur des pädagogischen Arbeitsbündnisses als Rahmung einer professionalisierten Praxis Struktureller Ausgangspunkt für ein solches Arbeitsbündnis zwischen dem Lehrer und dem einzelnen Schüler innerhalb des Klassenverbandes ist, in der widersprüchlichen Einheit diffuser und spezifischer Beziehungskomponenten, die Notwendigkeit der „Hilfe zur Selbsthilfe“. Hierbei kann nicht, wie beim Patienten, zwischen gesunden und kranken Anteilen differenziert werden, sondern es besteht eine nicht klar trennbare Form von Teilen relativer Autonomie und heteronomen Anteilen. Oevermann konstatiert eine fehlende Professionalisierung der Praxis pädagogischen Handelns vor allem daran, dass Lehrer die widersprüchliche Einheit diffuser und spezifischer Sozialbeziehungen im Klassenverband nicht aufrechterhalten können, sondern zu einer distanzlosen Verkindlichung oder einem „...technologischen, wissensmäßigen und verwaltungs- rechtlichen Expertentum..(Oevermann 1996, S. 155)“ tendieren. „Die unzureichende Professionalisierung pädagogischen Handelns zeigt sich nach Oevermann vor allem darin, dass eine mäeutische Pädagogik vermieden wird, dass heißt, dass ein systematisches Abdrängen einer quasi-therapeutischen Komponente aus der normalpädagogischen Situation in den sonderpädagogischen Bereich stattfindet, ,...in der systematischen Vermeidung der stellvertretenden Deutung der individuellen Praxis einerseits und der Achtung und Autonomie des einzelnen Kindes (...) andererseits48 .'“ Voraussetzung einer mäeutischen Pädagogik ist eine entwicklungspsychologisch ange- leitete Deutung des Lehrers, in der er den Umgang des Schülers mit einer Problem- 48 Aufenanger/Garz/Kraimer 1994, S. 229, Oevermann 1983, S. 152, zit.n. Aufenanger/Garz/Kraimer 1994, S. 229 183 konstellation zu rekonstruieren versucht, um dann durch eine problematisierende Konfrontation dessen Aufmerksamkeit auf die Sachzusammenhänge der tatsächlichen Problemkonstellation zu lenken. Die so charakterisierte pädagogische Ausformung, auch im Sinne fächerübergreifender ganzheitlicher Lernprozesse, wird von Oevermann als Analogie zu den Übertragungs- und Gegenübertragungsprozessen im therapeutischen Arbeitsbündnis gesehen. Die Verpflichtung zum Schulbesuch ist eine fremdbestimmte, durch externe Autoritäten erzwungene, vergleichbar der Militärpflicht und daher wird die Schule tendenziell zur totalen Institution. Nach Oevermanns Anspruch an ein gutes fachliches Verhalten des Lehrers wäre dieser in der Lage, auf Grund seiner Kenntnis der Strukturproblematik, erzieherisches Handeln, als auch ein widerspenstiges Schülerhandeln, als authentischen Ausdruck dieser Rahmenstruktur zu deuten. Mit dieser stellvertretenden Deutung entfällt die kumpaneihafte Solidarität des „Müsli“- Lehrers, die stellvertretende Deutung bezieht die konkrete biografische Situation einschließlich der Herkunft als je motivierend ein. Vor allem aber kann der Lehrer mit dieser Deutung die objektive Sinnstruktur jenseits des subjektiv Gemeinten und Inten- dierten entziffern, er kann seine eigene Beteiligung an der Interaktionsdynamik reflexiv mitthematisieren und so kann vermieden werden, die aus der pädagogischen Interaktion resultierende Kooperation kausal auf den Schüler zu reduzieren. Das Prinzip der stellvertretenden Deutung des latenten Sinns der Interaktion hilft, ein unkontrolliertes Agieren des Lehrers zu vermeiden und entfaltet eine zusätzliche Fruchtbarkeit bei der Wissens- und Normenvermittlung, dies dadurch, dass der Lernende durch eigene Problemlösungen auf sachliche Zusammenhänge gestoßen wird. Oevermann plädiert für eine mäeutische bzw. sokratische Pädagogik. Eine mäeutische Pädagogik ist darauf ausgerichtet, ein Problembewusstsein durch Konfrontation mit unerwarteten Konstella- tionen oder Folgen zu wecken, um eingefahrene Gewohnheiten an der empirischen und logischen Evidenz zu brechen und auf dieser Folie eine eigentätige Lösungssuche zu initiieren. Notwendige Voraussetzung dieser sokratischen Hinführung ist eine entwicklungspsychologisch angeleitete Deutung des Umgangs des Schülers mit einer Problemkonstellation, die untersucht, von welchen Konzepten und Überzeugungen er sich naturwüchsig leiten lässt, um den Schüler mit einer problematisierenden Konfrontation auf Inkompatibilitäten seines Denkens aufmerksam zu machen. Die sokratische Hinführung zu einer selbsttätigen Einsicht ist nur möglich durch die 184 stellvertretende Deutung des Lehrers, die zu einem konkreten Bild von dessen konzeptueller Denkstruktur führt. Auch die Normenvermittlung wird erst glaubwürdig, wenn die Prinzipien der Kooperation und der gemeinsamen Problembewältigung in der auf Sachhaltigkeit basierenden Achtung vor dem Wert der Eigentätigkeit des Einzelnen sachlogisch folgen. Soziales Lernen als eigenlogisches Curriculum ohne Verbindung mit der konkreten Sachlogik des Lernens bezeichnet Oevermann als Widerspruch in sich. „Dieses Prinzip der Verknüpfung von deutender und rekonstruierender Beobachtung und indirekter Problemexposition in einer mäeutischen Pädagogik lebt natürlich davon, dass der Schüler als konkreter Fall und als ganze Person für den Lehrer thematisch ist und ist deshalb in seiner Realisierung auf das Funktionieren eines pädagogischen Arbeitsbündnisses angewiesen (Oevermann 1996, S. 158).“ 5.3.11 Zur Verknüpfung zentraler Strukturelementen pädagogischer Professionalisierung: mäeutische Pädagogik, therapeutische Praxis und pädagogisches Arbeitsbündnis Die Übertragung in der pädagogischen Interaktion erfolgt aus der noch nicht abge- schlossenen psychosozialen Entwicklung des Schülers. Bis zum Abschluss der Adoles- zenzkrise muss der Schüler Gefühle aus seiner primären Lebenspraxis reinszenierend auf den Lehrer übertragen. Konstitutiv für ein professionelles Lehrerhandeln wäre es, ähnlich dem Therapeuten Gegenübertragungsgefühle innerlich zuzulassen, diese weder abzuwehren, noch auszuagieren. Gerade an diesem Punkt entstehen in der pädago- gischen Praxis Strukturfehler aufgrund fehlender Professionalisierung. Der Lehrer muss zwischen drei grundsätzlich verschiedenen Konstellationen unter- scheiden. Diese werden deutlich im Unterschied zwischen der objektiv-latenten Sinnstruktur des Handelns und dem subjektiv-intentional repräsentierten Handlungs- sinn, wobei letzterer immer eine Verkürzung des ersteren darstellt. Zwischen den Ebenen des objektiven und des subjektiven Handlungssinns besteht eine Deckungsun- gleichheit, die durch ganz unterschiedliche Parameter bedingt ist. Die Differenz zwischen objektivem und subjektivem Handlungssinn ist zum einen Bedingung gelingender normaler Alltagspraxis. Ohne die äußerst effiziente Abkürzungsleistung unseres psychischen Apparates wären wir nicht in der Lage, die Alltagspraxis erfolgreich zu bewältigen. Erst die Abkürzung in der Sacherfassung, als auch in der 185 Motivinterpretation macht uns überlebensfähig. Die übertragende Analogisierung von neuartigen Situationskonstellationen zu prägenden Szenen und Situationskonfigura- tionen der Kindheit ermöglicht einen nützlichen Abkürzungseffekt. Solange das Subjekt im primären Bildungsprozess noch nicht über die volle Sinninterpretationskapazität verfügt, ist es in seiner Fähigkeit, latente Sinnstrukturen zu entziffern, beschränkt. Es findet eine entwicklungsbedingte Verkürzung statt, diese ist dann keine für die Normalität konstitutive Abkürzung, noch eine pathologische Verzerrung, sondern sie ist eine entwicklungsbedingte perspektivische Einschränkung, an der das Subjekt im Schutz seiner sozialisatorischen Umgebung keinen Schaden nimmt. „Eine pathologische Verkürzung und Verzerrung liegt natürlich dann vor, wenn auf- grund neurotischer Dispositionen Widerstände und Abwehrmechanismen eine gestalt- fehlerlose Vergegenwärtigung des Sinns einer Handlungssituation behindern (Oever- mann 1996, S. 160).“ In der Regel findet hier eine pathologische Übertragung aus primären Beziehungs- konstellationen in überfordernde aktuelle Konflikt- und Problemkonstellationen, entsprechend einer Reinszenierung traumatisierender Konfigurationen aus der kind- lichen Sozialisation statt. Während in der therapeutischen Praxis nur die letzte Bedingung thematisch ist, müssen in der pädagogischen Praxis alle drei Bedingungen bedacht und differenziert werden: Der schwierige Fall der neurotischen Verzerrung bildet den Grenzfall, da in der Praxis alle drei Möglichkeiten in Rechnung gestellt werden müssen, empfiehlt Oevermann dem Lehrer, vom gesunden Menschenverstand ausgehend das Schülerhandeln zu beobachten und nicht permanent in Erwartung versteckter oder neurotischer Dispositionen zu interpretieren. Oevermann kommt zu dem Schluss, dass die Ausbildung des Pädagogen daher nicht etwa mit der des Therapeuten vergleichbar sein muss oder analog der Lehranalyse mit einer weitreichenden Aufdeckung des Unbewussten operieren muss. Vielmehr reiche es, die Dignität der naturwüchsigen Interpretationsfähigkeit und der Intuition zu stärken gegen eine mechanische Subsumtion unter szientische Prozeduren und Methoden. Für den Lehrer sei es wichtig, darin geübt zu sein, den Schüler ernst zu nehmen und auf die detaillierte Beobachtung seines Handeln zu vertrauen. Dies geschehe am besten in einer Kombination mit einer starken Komponente fall- exemplarischer und fallbezogener Aufschließungen von Materialien aus der Unterrichts- 186 praxis und gute Kenntnisse der Entwicklungspsychologie seien von nütze. Diesem Modell einer mäeutischen Pädagogik kommen verschiedene pädagogische Ansätze, wie beispielsweise die Montessori-Pädagogik, sehr nahe. Nicht nur das Motto „Hilf mir, es selbst zu tun“, sondern auch die große Gewichtung der Sachhaltigkeit, die Wert darauf legt, jeden Schüler intensiv und individuell zu betreuen sowie die Aus- richtung auf eine produktive Problemexposition und Lösung. Oevermann verweist auf die Didaktiken von Wagenschein, vor allem für den Physikunterricht und von Bauersfeld für den Mathematikunterricht. Diese Didaktiken entsprächen einer mäeutischen Pädagogik in dem hier von Oevermann entwickelten Sinne und die Ablehnung bzw. das in Vergessenheit geraten dieser Didaktik sei ein Ausdruck fehlender Professionali- siertheit. Prämisse eines gängigen Urteils ist, dass der Lehrer nicht Initiator eines eine autonome Praxis bildende Arbeitsbündnisses ist, sondern Exekutant eines szientistischen, auf Standardisierung beruhenden Programms, an Stelle des Professionshandelns tritt eine technologische Selbstsubsumtion unter ein standardisiertes Schema. 5.3.12 Paradoxien und strukturelle Ambivalenzen gesetzlicher Schul- pflicht gegenüber der Strukturlogik des Arbeitsbündnisses Das pädagogische Arbeitsbündnis enthält derart folgenreiche strukturlogische Implika- tionen, dass diese radikal mit der Realität des institutionalisierten Schulsystems in allen modernen Gesellschaften kollidieren. Die mit der Arbeitsbündnisdefinition korrespon- dierende Definition des Schülers bricht vor allem mit der, die der gesetzlichen Schul- pflicht innewohnt. Bei jener wird in modernen Gesellschaften präsupponiert, Kinder würden von sich aus nicht oder nicht regelmäßig die Schule besuchen. Hiermit wird den Kindern im Normalfall eine hinreichende Neugierde als eigenständige Lernmotivation für die Beteiligung am pädagogischen Arbeitsbündnis abgesprochen. Der Schulbesuch wird zu einer durch externe Autoritäten erzwungene Verpflichtung, vergleichbar dem Militärbesuch und somit wird die Schule tendenziell zu einer totalen Institution. Die strukturelle Negation von Neugierde und Lernmotivation durch die Schulpflicht forciert eine Pädagogik, die den Schüler als im Normalfall lernfaul und desinteressiert betrachtet, hinzu kommen spezifische Motivationstheorien und -praktiken, durch die nach dieser Anthropologie die Kinder bzw. Schüler eigens motiviert werden müssen. 187 „Die Pädagogik wird so paradox und strukturell ambivalent, um nicht zu sagen: verlogen, mit ihren scheinbar im Dienst und im Interesse der Kinder auftretenden Motivationstechniken zum heimlichen Komplizen der Denunziation der Kinder als grundsätzlich lernfaul, wie sie die gesetzliche Schulpflicht enthält (Oevermann 1996, S. 163).“ Daher plädiert Oevermann für die Abschaffung der gesetzlichen Schulpflicht, um die Möglichkeit für ein autonomes pädagogisches Arbeitsbündnis zu schaffen, stellt diese Position jedoch angesichts des „...erdrückenden Traditions- und Realitätsgewichts der gesetzlichen Schulpflicht“ in Frage (Oevermann 1996, S. 163). Oevermann differenziert die Aspekte der fehlenden Professionalisierung: Die Folge der Etikettierung der Schüler als im Normalfall lernunwillig ist, dass ihre Lernwilligkeit sanktionsbewehrt erzwungen oder durch Konditionierung und den Wechsel von Belohnung und Bestrafung herbeigeführt wird. Statt einer freien und autonomen Entfaltung durch Selbst- bekräftigung ist Lernwilligkeit dann im Normalfall Ausdruck einer streberhaften Konformität mit der Autorität des Lehrers. Dies wird jeder Lernleistung anhängen, auch wenn sie aufgrund einer intrinsischen Motivation erfolgte und nicht aus einer an Noten orientierten extrinsischen Motivation heraus49. Unter diesen Bedingungen wird jeder Lernstoff zum Teil schulischen Drills und schulischer Pflicht, so dass gerade besonders interessante Lerninhalte an Suggestivität für ein selbstbestimmtes und autonomes Lernen einbüßen. Deshalb kann nur bedingt die Rede davon sein, dass die Schule die großen Stoffe einer Bildungskultur erst vermittelt, denn sie hat diese zugleich auch negativ stigmatisiert. Gute Schüler werden den Lehrern zu Garanten für die Legitimität der Lehrpläne, sie verleihen dem falschen Arbeitsbündnis den Schein der Freiwilligkeit, „schlechte“, abweichende Schüler müssen stigmatisiert werden, diese Stigmatisierung ist verbunden mit der Anerziehung einer inneren Feindschaft zu den Lernstoffen. Am Ende dieser stukturlogischen Dynamik einer Trichterpädagogik steht ein notorisches Disziplin- ierungsproblem. Der Schulbesuch wird in dieser Strukturlogik zu einer Last, vergleichbar der entfremdeten Lohnarbeit, in die der Schüler gezwungen werden muss. Basierte das Arbeitsbündnis dagegen trotz der Schwierigkeiten auf einer Lehrer- Schüler-Beziehung der reziproken Kooperaration und der Praxis einer gemeinsamen 49 darüber hinaus wird durch diese Strukturkonstellation für die Schüler ein normativer Konflikt zwischen kooperativen und konkurrenzorientierten Werten und Normen hervorgerufen. 188 Verabredung, so wäre diese Beziehung nicht primär disziplinarisch, sondern sachhaltig. Der Lehrer würde zum Stellvertreter der Logik des besseren Arguments, mit seinem Wissens- und Erfahrungsvorsprung würde er zum Initiator von Problemlösungs- prozessen, die der Schüler letztlich aus sich selbst heraus entwickeln soll. In einer solchen mäeutischen Pädagogik könnte es keine grundsätzlichen Disziplinierungs- probleme geben, sondern Dissense, die eine Kooperativität des Arbeitsbündnisses präsupponieren. Die Strukturlogik des pädagogischen Handelns könnte durch den Wegfall der gesetzlichen Schulpflicht geändert werden. Diese war historisch sicher unumgänglich, als im Zuge des Aufbruchs der Moderne der universalistischen Bürgergesellschaft eine Minimalbildung des Bürgers für die Universitäten gewährleistet werden musste. In der durchrationalisierten Industrie und Dienstleistungsgesellschaft hingegen muss niemand mehr gegen traditionale oder partikularistische Milieuverhaftungen auf die Notwendig- keit der Schulpflicht gestoßen werden. Gegenüber einer Auflösung der Schulpflicht besteht der Einwand, dass der Schüler in seinem Entwicklungsprozess durch die noch unvollständige, sich entwickelnde Autonomie noch nicht befähigt wäre, die Funktion der Schulpflicht durch eine Ich-Leistung zu erfüllen und damit abzulösen, die Schulpflicht als eine heteronome Bestimmung ersetzt also die fehlende Autonomie des Kindes. Gerade diese Konstellation beinhaltet nach Oevermanns Analyse eine paradoxale Regressivität, einerseits soll der Schüler durch Wissens- und Normenvermittlung zur Autonomie befähigt werden, andererseits wird eben diese Autonomie durch den Zwang der pädagogischen Aktion permanent wieder genommen. Dieses Dilemma könne durch die von Oevermann vorgeschlagene Konstruktion einer professionalisierten sokratischen Pädagogik umgangen werden, ein lernendes Probehandeln werde zum Zugriff auf die spätere, in der Selbstverantwortlichkeit als Rechtsperson verkörperten Autonomie. Da die Kinder noch nicht zur autonomen Lebenspraxis befähigt sind, stellt Oevermann die Frage nach der thematischen Beteiligung der Eltern am pädagogischen Arbeitsbündnis. 189 5.3.13 Aufgaben und Funktionen der Eltern bei gesetzlicher Schulpflicht und im pädagogischen Arbeitsbündnis Für die Eltern als stellvertretende Partner im Pädagogischen Arbeitsbündnis ist einerseits die Existenzproblematik der Kinder Gegenstand, andererseits sind sie für die Ableistung gesetzlicher Pflichten verantwortlich. Die Untersuchung des Aspekts der struktur- logischen Funktion der Eltern im pädagogischen Arbeitsbündnis mündet in der Frage, ob die Eltern zur Wahrnehmung ihrer Autorität der gesetzlichen Schulpflicht unterworfen sein müssen oder ob diese mit der Strukturlogik des pädagogischen Arbeitsbündnisses kollidiert. Oevermann kommt zu der Schlussfolgerung, dass, insofern nicht eine pathogene familiäre Konstellation vorliegt, die den Eltern die Wahrnehmung ihrer Autorität unmöglich macht, eine Aufhebung der pädagogischen Schulpflicht im Sinne des von Oevermann skizzierten Modells einer professionalisierten mäeutischen Pädagogik von Nutzen wäre. So könnte die paradoxale Situation, dass Eltern und Lehrer wechselseitig sozialisatorisches Funktionieren delegieren und sich wechselseitig negative Folgen ihrer pädagogischen Praxis anlasten, vermieden werden. 5.3.14 Das Ausbleiben einer Professionalisierung der Praxis - Gründe und Konsequenzen Dass pädagogisches Handeln im Zuge der gesellschaftlichen Modernisierung nirgendwo institutionell abgesichert wurde, dass auch von der Pädagogik, als an den Universitäten und pädagogischen Hochschulen institutionalisierter Disziplin keine nennenswerte Impulse in dieser Richtungen ausgingen, wurde hier bisher wie selbstverständlich unterstellt und im Bezug auf ein pädagogisches Selbstbild im Sinne der „Normal- pädagogik“ begründet. Die Berufsverbände der Lehrer wenden sich zwar kontinuierlich gegen Verschlechterungen bzw. ausbleibende Verbesserungen der Qualität pädago- gisch-schulischer Bildung, eine Differenzierung zwischen einem professionalisierten Engagement für die Qualität der pädagogischen Arbeit und dem gewerkschaftlich orientierten Interesse, wie der Verringerung der beruflichen Belastung und der Arbeitszeit hingegen ist noch nicht gelungen. Ein weiterer Indikator fehlender Professionalisiertheit ist die hierarchische Kontrolle durch die Schulverwaltung als Folge der gesetzlichen Schulpflicht, deren Eigenlogik eine pädagogische Eigeninitiative erschwert. Die Reaktion der Lehrer ist häufig eine Gewöhnung an diese Restriktion, der 190 Verweis auf die einengende Verwaltung wird rituell eingesetzt als eine verallgemeiner- bare Rationalisierung der eigenen Unbeweglichkeit. Gleichzeitig ist die zu bewältigende pädagogische Aufgabe ohne eine Souveränität gewährleistende Professionalisierung nicht einlösbar. Dies steht dem Pädagogen kontinuierlich vor Augen, so dass er in Routinen flüchten oder aber seine Ideale in „...Zynismen der Vergeblichkeit“, der „...Arroganz pädagogischer Machtausübung“, und des „...berufserfahrenen Durch- blickertums“ zu ertränken sucht oder aufgezehrt wird im Teufelskreis seiner Überforderung (Oevermann 1996, S. 179). So wird der pädagogische Mittagsschlaf zum Sinnbild für die Permanenz von Vergeblichkeit und Dauerbelastung eines nicht einlösbaren Anspruchs. Wo die Entlastung durch eine Professionalisierung angesichts dieser komplizierten, in sich widersprüchlichen und nach der Logik von Gift und Gegengift konzipierten Aufgabenstellung fehlt, kann es keine Kollegialität und keine Differenzierung von Außen- und Binnenkritik geben. Die Interaktion zwischen den Lehrern einer Schule ist daher geprägt von Sticheleien bei einer problemlosen Aufhebung der kollegialen Solidarität und einem offenen Druck zur Übereinstimmung. Auch bei der Einführung der Berufsnovizen durch ältere Kollegen ist eine kollegiale Einführung in die Praxis nicht gegeben. Seitens der Eltern, als Agenten einer naturwüchsigen sozialisatorischen Praxis, wird die Professionalisierungsbedürftigkeit der pädagogischen Praxis vor allem hinsichtlich der therapeutischen Dimension nicht wahrgenommen, die pädagogische Aufgabe bleibt mehr noch als im Selbstbild der „Normalpädagogen“ auf die Funktion der Wissens- und Normenvermittlung beschränkt. Darüber hinaus wird die pädagogische Praxis tendenziell als Kompetenzkonkurrenz empfunden. Diese Sachverhalte werden zu Barrieren für die Abschaffung der gesetzlichen Schulpflicht und selbst wenn dies realisiert würde, wäre die Ausformung einer professionalisierten pädagogischen Praxis schwierig und würde auf wenig Bereitschaft seitens der Mehrzahl der Eltern treffen. Im Sinne eines Komplements zu Oevermanns Professionstheorie sind im Folgenden seine Überlegungen zum Professionalisierungsbedarf sozialverwalterischer Dienstleistungen zusammengefasst. 191 5.4 Professionstheoretische Überlegungen zu Dienstleistungen der Sozialverwaltung, Ulrich Oevermann 5.4.1 Standardisierbarkeit und Nicht-Standardisierbarkeit von Dienstleistungen Oevermann exploriert seine Revision soziologischer Professionstheorie für jene Dienst- leistungen, die zum einen die „Standards der formalen Rationalität staatlicher Büro- kratien“ entsprechen müssen und deren Arbeitserfolg abhängt von einem möglichst guten Passungsverhältnis des spezifischen Spielraums jener ,formalen Standards’ zu den je konkreten Lebensbedingungen der Klienten (Oevermann 1999). Gemeinsam mit anderen sozialen Praxen ist, dass der Arbeitserfolg verknüpft ist mit dem Passungs- verhältnis zu der Lebenspraxis der Klienten und damit, wie prägnant die Besonderheiten des konkreten Einzelfalls erfasst werden. Der Diskurs des öffentlichen Betriebsbereiches, in dem die darin Tätigen gehalten werden, ihre Dienstleistungen als „Produkte“ zu bestimmen und „kundenorientiert“ an einem simulierten „Markt“ anzubieten, basiert auf einem betriebswirtschaftlich begrün- deten Rationalisierungsschub, motiviert unter anderem mit der Intention einer höheren formalen Außenevaluierbarkeit. So wird der klassische Klient, der aus einer spezi- fischen existentiellen Situation heraus eine je spezifisierte Dienstleistung erhält, zum „Kunden“, dem man etwas anbietet, das er nach Möglichkeit kaufen soll. „Dass es sich dabei um eine gänzlich unangemessene, zynische Metaphorik und Rhetorik handelt, liegt ja offen zutage: Als „Kunde“ müsste der Klient der Sozial- verwaltung aus seiner privaten Schatulle zahlen. Dass er das ökonomisch nicht kann, macht ihn aber definitionsmäßig gerade zum Klienten der Sozialverwaltung (Oevermann 2000a, S. 1).“ Das Wesen der Sozialverwaltung macht ja gerade aus, dass an diejenigen, die sich nicht mehr vollständig versorgen können, öffentliche Subventionen gezahlt werden, die sie in die Lage versetzen, dass sie an einem wirklichen Markt lebensnotwendige Waren (Lebensmittel) und Dienste erhalten können, was sie sonst aufgrund ihrer Armut nicht könnten. Oevermann bezeichnet es als Sprachspiel, die Empfänger solcher Subven- tionen als „Kunden“ zu bezeichnen, vergleichbar mit der von Amtsträgern mit Kontroll- aufgaben häufig gebrauchten Rede über ihre „Pappenheimer“ oder eben ihre „Kundschaft“. Zum Zynismus wird diese Metapher, wenn sie im spezifischen Sprach- 192 gebrauch die Funktion einer Destigmatisierung durch eine distanzierende formale Rationalisierung übernehmen soll. Der Empfänger dieser begrenzt standardisierbaren Dienstleistungen ist nach gesetzlich vorgegebenen Kriterien der Berechtigung Klient, weil er sich in einer von ihm selbst nicht mehr eigenständig lösbaren Krise befindet und somit alles andere als ein Kunde, der am Markt etwas tauschen möchte. Dieses Sprachspiel setzt eine Tendenz fort, die von jeher mit dem Begriff der Dienstleistungen oder des tertiären Sektors verbunden war, die der Angleichung der organisatorisch, disponierend und formale Bestimmungen exekutierend tätigen Berufe an den sogenann- ten primären und sekundären Sektor. Die Begrifflichkeiten hierfür sind der Arbeits- und Industriesoziologie entlehnt. Oevermanns Argumentation hierzu ist die, dass diese Prämisse nur für „taylorisierbare“ Tätigkeitsvollzüge, konkret für standardisierbare und somit formal rationalisierbare Abläufe in Dienstleistungsfunktionen zutreffen kann. Leicht gerät hierbei aus dem Blick, dass Dienstleistungen in diesem Tätigkeitsfeld generell nicht und tendenziell immer weniger auf diesen Tätigkeitstypus beschränkt sind. Wesentlich ist daher die Unter- scheidung zwischen „taylorisierbaren“ Tätigkeitstypen und solchen, für die dieses Prinzip ausgeschlossen ist, wobei unter „taylorisierbar“ zu verstehen ist, dass beruflich gebündelte Tätigkeitstypen in selbstständige Komponenten beziehungsweise Sub- systeme zerlegt werden können, die sich für eine technische Formalisierung oder Standardisierung eignen. Sie können dann in einer technisch-maschinenförmigen Prozedur vollzogen werden, im Kontext der beschleunigten Entwicklung der Computer als symbolischen Maschinen weitet sich dieser Bereich enorm aus. Dieser Bereich ist in Oevermanns kategorialer Unterscheidung der der standardisierbaren Dienstleistungen, wobei der Unterschied zwischen Standardisierung und Routinisierung mitgedacht werden muss, zu dem Tätigkeitsfelder gehören, wie typischerweise die an Schaltern von Behörden und Banken erbrachten Dienstleistungen sowie Funktionen routinisierter Instandhaltung, der Informationsübermittlung und -archivierung. „Dagegen sind alle Dienstleistungen nicht standardisierbar, die sowohl (1) diagnostisch die nur fallverstehend, d.h. rekonstruktionslogisch erschließbare Fassung der je einzig- artigen Charakteristik und Prägnanz der Fallstruktur des jeweiligen Klienten erfordern als auch (2) in der interventionspraktischen Anwendung von methodischem Problem- lösungs-Wissen nicht nur die (a) fallangemessene, ihrerseits Rekonstruktion statt Sub- 193 sumtion erzwingenden Übersetzung der allgemeingültigen Lösungsmodelle zur Vor- aussetzung haben, sondern (b) vor allem auch die fallspezifisch zu vollziehende Weckung der krisenbewältigenden Eigenkräfte des Klienten notwendig machen (Oevermann 2000a, S. 2-3).“ Das Prädikat der Nicht-Standardisierbarkeit kann sich sowohl auf Problemlösungen, deren Ablauf im Prinzip standardisierbar ist, jedoch aufgrund mangelnden Wissens im Allgemeinen oder bezüglich der technologischen Umsetzung dieses Wissens noch nicht standardisiert werden kann, als auch auf Problemstellungen, deren Lösungen prinzipiell nicht standardisierbar sind, beziehen50. Entsprechend kann eine faktisch standardisier- bare Problemlösung unangemessen sein, wenn sie einer nicht-standardisierbaren Praxis aus Gründen der formalen Rationalität aufgezwungen wird, wie es bei jener Umdefinition zu einer Kunden- und Produktorientierung der Fall zu sein scheint. „Strikte nicht standardisierbar im kategorialen Sinne sind alle jene Tätigkeiten, die professionalisierungsbedürftig sind. Die Nicht-Standardisierbarkeit von Dienstleistun- gen lässt sich geradezu zum entscheidenden Kriterium für die Professionalisierungs- bedürftigkeit einer mit ihm befassten Berufspraxis erheben (Oevermann, 2000a, S. 3).“ Dieser Bestimmung kommt eine zentrale Bedeutung zu, weil sie die konstitutive primäre Lebenspraxis, die die Krisenbewältigung material ausmacht, als Ausgangspunkt jeglicher Analyse zugrundelegt. Stellvertretende Krisenbewältigung durch professio- nalisierte Praxis bedeutet in der einen Komponente die Verankerung in der wissen- schaftlichen Begründetheit, sie wird dann wirksam als routinisierte Rationalität von Hilfe und zieht paradoxal eine gegenläufige Beschränkung der somit gestärkten Autonomie der Lebenspraxis des Klienten nach sich. Diese paradoxale Folge experten- hafter Hilfestellung kann nur aufgehoben werden, wenn die Hilfemaßnahmen fallspezifisch übersetzt werden und als eine autonome Interventions- und Lebenspraxis innerhalb des Arbeitsbündnisses die gesunden Anteile des Klienten sokratisch hervor- bringt, bindet und deren Krisenhaftigkeit als Normalfall gelten lässt. Für professionalisierte Berufe, im Sinne Oevermanns für Tätigkeiten der stellver- tretenden Krisenbewältigung, wird die Nicht-Standardisierbarkeit der konkreten Tätigkeit in der entsprechenden Professionsethik legitimiert und begründet durch 50 Oevermann weist darauf hin, dass die Nicht-Standardisierbarkeit eine Nicht-Falsifizierbarkeit nicht einschließt. 194 kollegiale Anerkennung und Kontrolle. Jene ethische Bindung und die entsprechende Anerkennung entfallen weitgehend für die Tätigkeiten der Sozialverwaltung, wo doch fallorientiert gehandelt wird, ist die Motiviertheit in einer ethischen Verpflichtung außerhalb der bürokratisch organisierten Tätigkeit begründet. Die Erbringung fall- orientierter sachhaltiger Sonderleistungen erweist sich als für das Fortkommen im Statusgefüge einflusslos, tendenziell kontraproduktiv, hierin liegt das strukturelle Ausgangsproblem für die Berufe der Sozialverwaltung begründet. (Oevermann 2000a, S. 6) 5.4.2 Professionalisierungsbedarf sozialverwalterischer Dienstleistungen Eine Nicht-Professionalisiertheit angenommen, ist der Ausgangspunkt die Situation des typischen Klienten der Sozialverwaltung seine Betroffenheit von einer mehr oder minder lang dauernden, unterschiedlich bedingten Armut. Für diese folgenreiche Lebenskrise, die er mit eigenen Mitteln und Ressourcen nicht lösen kann, ist der Gang zur Sozialverwaltung innerhalb der eng eingeschränkten Möglichkeiten ein erster Schritt eigenständiger Krisenbewältigung. Somit ist, aufgrund dieser gemeinsamen Praxis- eröffnung durch den Klienten, die Möglichkeit der Initiierung eines Arbeitsbündnisses für eine professionalisierte Praxis gegeben. Insoweit die Armut Ausdruck dahinterliegender biografischer Krisen ist, motivgeschichtlich hineinreichend bis in die psychische Konstitution der betroffenen Person, nähert sich die Problemlage den Ausgangsbedingungen eines therapeutischen Arbeitsbündnisses. Hiervon unterscheiden sich kategorial die von beispielsweise Arbeitsmarkt- oder Kriegsentwicklungen hervorgerufenen Formen von Armut, bei denen eine Überschreitung der formal- rationalen Gesetzesexekutierung hin zu einer fallbetreuenden stellvertretenden Krisenbewältigung faktisch kontraproduktiv wäre, indem von der therapeutischen Zuwendung nur die Stigmatisierung des Klienten als in seiner Autonomie psychisch eingeschränkt bliebe. Anschließende Überlegungen zur Professionalisierungsbedürftigkeit der Sozialver- waltung nähern sich dem Typus der Rechtspflege an, in dem es wesentlich darum geht, vom Gesetzgeber getroffene Entscheidungen je fallspezifisch zu vollziehen, die Welt der Faktizität im Sinne der hypothetisch konstruierten rechtlichen zu beeinflussen. In diesem 195 Fall wird die Sozialverwaltung zu einem öffentlichen, Recht und Gesetz realisierenden Organ. Die vom Klienten nicht eigenständig lösbare Krise materieller Hilfebedürftigkeit ist im rechtlichen Sinne eine Diskrepanz zwischen dem empirischen Sachverhalt und dem gesetzlich garantierten Minimum. Daher gilt auch in der Rechtspflege Oevermanns professionstheoretischer Fokus der stellvertretenden Krisenbewältigung, darauf bezogen, dass im weitesten Sinne ein gesellschaftlich geltender institutionalisierter Gerechtig- keitsentwurf verletzt ist und unter diesen Voraussetzungen ein rechtliches Verfahren in Gang gesetzt wird, dem sich alle Beteiligten innerhalb der Zuständigkeit des geltenden Rechts, in dem sich praktisches Leben einer politischen Vergemeinschaftung verkörpert, unterwerfen. 5.4.3 Das Verhältnis der professionalisierungsbedürftigen Praxis der Sozialverwaltung zur Rechtspflege - Legitimationsbedarf und stellvertretende Krisenbewältigung Die Organe der Rechtspflege vollziehen je fallspezifisch, sie entscheiden nicht, denn die vom Gesetzgeber getroffene Entscheidung ist per Definition allgemeingültig, fall- übergreifend, mit dem fiktiv geltenden Anspruch der Universalität, das heißt auch mit dem Anspruch, bis auf weiteres gültig zu sein. Die geltenden Rechte müssen auf den konkreten Sachverhalt im Sinne der ursprünglichen legislativen Entscheidung ausgelegt werden und der Sachverhalt muss im Hinblick auf seinen rechtlichen Status so rekonstruiert werden, dass er unter die Allgemeingültigkeit der Gesetze subsumiert werden kann und der Grundsatz der Allgemeingültigkeit nicht verletzt wird. Dabei geht es um die Explikation hypothetischer Tatbestände der Nicht-Übereinstimmung mit geltendem Recht, einschließlich der dazu gehörigen Sanktionsmaßnahmen. Die Sub- sumierbarkeit unter ein abstraktes Gesetz ist nur gewährleistet, wenn, wie in der juristischen Methodenlehre formuliert, eine doppelte gegenläufige Bewegung zugleich formuliert wird: Zum einen muss das geltende Gesetz in Kenntnis des Sachverhalts im Sinne des Gesetzgebers ausgelegt werden, gleichzeitig muss der Sachverhalt im Licht der geltenden Bestimmungen auf seine Relevanz hin rekonstruiert werden, bis am Ende dieses Verfahrens ein feststellbarer und subsumierbarer Tatbestand steht. Das für die Sozialverwaltung vorliegende Verfahren ist eine Maßnahme der staatlichen Exekution der gesetzlich aufgegeben Fürsorgepflicht gegenüber dem Bürger, der sich in 196 einer von ihm selbst nicht mehr lösbaren Krise befindet. Der zu klärende Sachverhalt ist die Diskrepanz zwischen gesetzlich garantiertem Mindeststandard und der jeweiligen konkreten Lebenslage, daher liegt meist nicht ein offener Dissens zwischen Parteien zugrunde, vielmehr liegt die Bedingung einer Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit hinsichtlich lebensnotwendiger Minimalia vor. Der bei einer Streitigkeit zwischen Parteien wiederherzustellende Konsens über zuvor strittige Rechtsaus- legungen entfällt für gewöhnlich, rechtspflegerisches Handeln zielt auf den Vergleich der allgemeingültigen Bestimmungen mit der Konkretion der Lebensbedingungen des Klienten, mit der dem Verfahren innewohnenden Absicht, das Sein dem Sollen anzugleichen. „Aber dennoch enthält diese Vergleichsoperation im Kern, wenn auch in reduzierter Form, die Strukturlogik stellvertretender Krisenbewältigung. Und die Initiative dazu geht ebenfalls, wie in der professionalisierten Praxis nicht von der Verwaltung, sondern vom Klienten aus. Wer seine Sozialhilfe nicht beantragt, erhält sie auch nicht, selbst wenn sie ihm zusteht (Oevermann 2000a, S. 11).“ Professionalisierungsbedürftigkeit besteht vor allem dort, wo die Hilfsbedürftigkeit des Klienten eine therapeutische Maßnahme einschließt. Die Praxis der Sozialverwaltung mit ihrer Einbindung in die formale, auf das Prinzip der Loyalität verpflichteten Exekutive erlaubt dem einzelnen Mitarbeiter kaum, ein Arbeitsbündnis mit dem Klienten mit der dazugehörigen Sanktionsfreiheit einzugehen. Fraglich ist, inwieweit bei dieser institutionellen Rahmenstruktur Möglichkeiten gegeben sind, die objektive Professionalisierungsbedürftigkeit im Falle einer erforderlichen therapeutischen Inter- ventionspraxis einzulösen. 197 5.4.4 Auswirkungen des Strukturdilemmas von Sozialverwaltung und Sozialarbeit Beiden ist das Strukturdilemma gemeinsam, dass sie in den beiden Foki der Rechtspflege und der Therapie professionalisierungsbedürftig sind, wobei die hieraus resultierenden Widersprüche nicht auflösbar sind. In der Eigenschaft als Organ der Rechtspflege nimmt die Sozialverwaltung das Interesse der Rechtsgemeinschaft gegen Partikularinteressen war. Thematisch ist von diesem Auftrag her die Nicht-Erfüllung materiellen Rechts und nicht fallspezifisch die Wiederherstellung einer Beschädigung von Autonomie und Integrität. Das Verhältnis der ärztlich-therapeutischen Tätigkeit zur rechtspflegerischen ist ein spannungsreiches, begründet in zwei gegensätzlichen Loyalitätsbindungen, die an das Recht der Gemein- schaft gegen den partikularen Einzelnen und umgekehrt. Oevermann folgend ist hieraus auch erklärbar, warum strukturlogisch betrachtet Angebote wie ‚Therapie statt Strafe’ nicht funktionieren, denn wenn jemand aus strafvermeidungsstrategischen Gründen die Therapie wählt, ist er kaum in der Lage, die selbstbindende Verpflichtung eines Arbeitsbündnisses, das wesentlich die Vorannahme eines Leidensdrucks beinhaltet, zu übernehmen. Oevermann exemplifiziert dieses auf die Sozialverwaltung zu übertragende Struktur- dilemma der Sozialarbeit professionstheoretisch am Beispiel der Bezeichnung Kinder- und Jugendhilfe-Gesetz. Nur für den ersten Fall trifft die Bezeichnung tatsächlich zu, im zweiten ist es ja ein Kinder- und Jugendkontroll-Gesetz, das heißt, der in der Terminologie eingebaute manipulierende Euphemismus dient dazu, dieses Struktur- dilemma abzuwehren. Entsprechend offenbart sich diese Abwehrhaltung, wenn diesbezüglich befragt Sozialarbeiter das Strukturdilemma mit dem Hinweis auf ihre Verpflichtung und ihr Engagement von sich weisen. Die Nicht-Realisierung dieses Strukturdilemmas wird zur persönlichen Verpflichtung und Erfolgsbedingung gemacht, die Sozialarbeiter werden so doppelt zum Opfer des Strukturdilemmas, zum einen indem sie effektiv mit ihm konfrontiert sind und indem sie, es verleugnend und seine Normalität wie selbstverständlich übernehmend, notwendig an dessen Maßstäben scheitern. Für eine Professionalisierung ist es notwendig, dieses Dilemma aufzuheben, seine inkompatiblen Komponenten aufzulösen. 198 5.4.5 Teilprofessionalisierung von Sozialarbeit und Sozialverwaltung - institutionelle Trennung des Rechtspflegerischen und des Therapeutischen Diese Trennung zu realisieren wird nicht leicht sein, wird auf Widerstände, auch aus den Traditionen und aus der Sache heraus stoßen, zwar wäre eine Konzentration sozial- arbeiterischer und sozialverwalterischer Tätigkeiten auf die rechtspflegerischen Tätig- keiten vorstellbar, doch eine verselbständigte therapeutische Form sozialarbeiterischer und sozialadministrativer Betreuung wäre ohne gewichtige Anteile von Selbständigkeit der Freiberuflichkeit nur schwer umzusetzen (Oevermann 2000a, S. 13). Ein allgemeines Modell könnte zu Teilen in der Form der Organisation von Beratern und Therapeuten bei freien Trägern gemacht werden, in der die Entrichtung eines Honorars wesentliches Moment einer am Arbeitsbündnis orientierten therapeutischen Beziehung ist. Die Strukturlogik des Arbeitsbündnisses ließe sich unter den Bedingungen einer zukunftsoffenen und für den Klienten folgenreichen Bindung, implizit des das für das Arbeitbündnis im Sinne der Eigenverantwortlichkeit wichtige Moment einer Honorarzahlung an den Experten verwirklichen. Jenes erste Hindernis, dass die Mehrzahl der Klienten der Sozialverwaltung die Entrichtung eines Honorars aus eigenen Mitteln nicht einhalten können, der Sache nach eine entscheidende Bedingung, ist in der Mehrzahl der Arzt-Patienten-Beziehung in stark eingeschränkter, jedoch durch die solidargemeinschaftliche Kompensation der Krankenkassenabrechnung, die zumindest die Bedingung eigener Beiträge erfüllt und durch die symbolisch bedeutsamere Selbstbeteiligung immer noch erhalten geblieben. Dennoch ließe sich eine Implementierung dieses Moments von Eigenverantwortlichkeit in einem Arbeitsbündnis denken. Für die Sozialverwaltung könnte dieses Modell verwirklicht werden, sozialgesetzgeberisch verankert auf verschiedene Aggregierungsstufen gestaffelt in Wohngebiet, Familie, Person durch mit öffentlichen Mitteln eingerichtete Budgets, die den Klienten für eine eigenverantwortliche Verwendung für therapeutische und Beratungsfunktionen zur Verfügung gestellt werden. Nach einer Trennung des Kinder- und Jugendhilfe-Gesetzes entsprechend den faktischen Aufgaben, könnte es zu einer Trennung kommen zwischen den sozialverwalterischen Funktionen, in der Mehrzahl der sozialen Kontrolle und der Aufgabe dort, wo eine Notwendigkeit besteht, zu beraten hinsichtlich einer Inanspruchnahme einer 199 therapeutisch-beratenden Praxis. Diese ihrerseits verweist im Falle einer unzulänglichen Ausschöpfung der Rechtsansprüche für ihre Klienten an die Instanzen sozialer Kontrolle. Nimmt man die Professionalisierungsbedürftigkeit im Vergleich zu den ,full- professions’ ernst, so sind Elemente der Professionalisierung notwendig in die Aus- bildung sozialadministrativer Tätigkeiten einzubauen. „Dabei gilt, was für die Berufsausbildung aller Professionen richtig ist. Einerseits eignet man sich den professionalisierten Habits nicht durch ein Buchwissen über die Professionalisierungstheorie an, andererseits muss man schon in der Ausbildung in einem kollegialen Noviziat exemplarisch in die Kunstlehre professionalisierter Praxis eingeführt werden durch erprobenden Vollzug. Dieser einübende Vollzug muss von den geeigneten Methoden der begleitenden exemplarischen und fallbezogenen Methoden unterstützt werden, wofür Thomas Ley für den Bereich der Polizeiarbeit ein richtungs- weisendes Modell vorstellt. Dieser fallspezifische Ausbildungsteil ist m. E. viel wichtiger als eine dem pädagogischen Trichtermodell eher entsprechende Indoktrination von Theorien und subsumtionslogischem Fachwissen (Oevermann 2000a, S. 14).“ Hinzu kommt ergänzend eine Einführung in die Professionalisierungstheorie, für die professionalisierte Praxis ist hierbei eine Sensibilisierung für deren Strukturlogik und Praxis nützlich, zum Beispiel das Wissen um das Strukturdilemma gegenwärtiger Sozialarbeit. Daher kommt dem berufseinführendem Teil der Praktika per exempla- rischer Rekonstruktion fallbezogenen Erfahrungsmaterials eine hohe Bedeutung zu. Innerhalb der Ausbildung wäre eine Trennung der rechtspflegerischen und thera- peutischen Funktionsbereiche nicht notwenig, im Gegenteil eröffnet eine späte Entscheidung des Sozialverwalters gegen Ende der Ausbildung die Möglichkeit einer ganzheitlichen Sicht der sozialadministrativen Betreuung. 5.4.6 Künftige Aufgaben der Sozialadministration - Krise der Erwerbsarbeit und internationale Arbeitsmigration Künftige Beschäftigungskrisen werden einerseits durch den Wandel der Erwerbs- strukturen und andererseits durch internationale Arbeitsmigration hervorgerufen. Die Folgen einer beschleunigten Zunahme der Beschäftigungskrise und der Arbeits- migration werden in ihrer Auswirkung auf den Einzelnen und Familien vermehrt zu 200 Aufgaben der Sozialverwaltung. In Oevermanns andernorts niedergelegten Position ist die Beschäftigungskrise nicht primär ein ökonomisch bedingtes Strukturproblem, weil das generell abnehmende Volumen gesamtgesellschaftlich notwendiger Arbeit ab- nehmen wird und daher als Quelle von Wertschöpfung an Bedeutung abnimmt.51 Ein großer Teil der Bevölkerung wird ein ohne Erwerbsarbeit normales und nicht mehr als arbeitslos stigmatisiertes Leben führen müssen. Der geschöpfte Wert muss nur anders als über Arbeitsleistung vermittelt und die Berechtigung der Teilhabe nicht von nachweisbaren Kriterien unverschuldeter Arbeitslosigkeit abhängig gemacht werden. „Es zeigt sich daran, dass das Problem der Beschäftigungskrise sich transformiert in ein Problem der Bewährungskrise. Die Leistungsethik als bisher einzig operierender säkularer Bewährungsmythos kann nur noch für einen Teil der Bevölkerung maßgeblich sein. Derjenige Teil, der mit dem Anspruch auf Normalität entweder phasenweise oder lebenslang ohne Erwerbsarbeit leben muss oder will, muss andere Bewährungsethiken entwickeln, die eine Form der Selbstverwirklichung durch Hingabe an eine Sache außerhalb bezahlter Arbeit zum Inhalt haben (Oevermann 2000a, S. 15).“ Diese Transformation, die sich vollziehen muss, entlastet zugleich die Sozialverwaltung, indem die ökonomischen Folgen der biografischen Krisen durch Erwerbslosigkeit durch einen bedingungslosen Anspruch jedes Staatsbürgers auf ein Basiseinkommen entschärft sind. Die Problematik der mit der Arbeitslosigkeit verknüpften biografischen psychosozialen Krisen einer Bewältigungs- und Selbstverwirklichungsethik erfordert einen Lösungsrahmen, der unabhängig von der Sozialverwaltung in einem kulturell zu erzeugenden gesamtgesellschaftlichen Diskurs eingebettet sein muss. „Voraussetzung dafür ist allerdings ganz stark, dass die alte Bewährungsethik in Gestalt einer nur über Erwerbsarbeit erfüllbaren Leistungsethik mit den daran hängenden Folgen von Normalitätstypisierungen in ihrem ‚Alleinvertretungsanspruch’ überwunden wird. Dazu gehört auch ihre sukzessive Ablösung per Kriterienkatalog für die Zugangs- berechtigung der Sozialverwaltung (Oevermann, 2000a, S. 15).“ Als Berechtigungskriterium für ein sonst bedingungsloses Basiseinkommen muss die Staatsbürgerschaft bleiben in einer bis auf weiteres nationalstaatlich konkreten politischen Vergemeinschaftung. Entscheidende Vorgabe für die sozialadministrative 51 zur Position Oevermanns zur Beschäftigungskrise der modernen Gesellschaft vgl.: „Die Krise der modernen Gesellschaft und das Bewährungsproblem des modernen Subjekts, Vortrag Sommerakademie der Studienstiftung des deutschen Volkes, St. Johann, 15.9.1999 201 Behandlung der Arbeitsmigration wird eine klare und souveräne Regelung der Staatsbürgerschaftszugehörigkeit sein, so dass die Sozialverwaltung je fallspezifisch beratend und betreuend zuständig ist für die Folgen unzureichender Integration und vorurteilsvoller Diskriminierung und sich selbst als zentralen Ort der Gewährleistung von Anerkennung begreifen muss. In einer kategorialen Unterscheidung zum Primat der pädagogisierenden Zuschreibung einer kulturellen Identität in einer „multikulturellen Gesellschaft“ ist bei einer im Sinne stellvertretender Krisenbewältigung operierenden Einrichtung, das Arbeitsbündnis ganz wesentlich auf die Fallspezifizität einer kulturell je verschiedenen zu integrierenden Lebensgeschichte ausgerichtet. Der Kontrastierung der Einzelfallrekonstruktionen ist eine kurze Darstellung der Untersuchungsergebnisse zweier qualitativ-empirischer Studien vorangestellt, die methodisch und inhaltlich sehr nahe am Profil dieser Arbeit liegen. Ulrike Nagel untersucht die Statuspassage des Übergangs vom Studium der Sozialarbeit zum Beruf, ein wesentlicher Befund ihrer Studie ist der Typus engagierter Rollendistanz. Friedhelm Ackermann untersucht das professionelle Selbstverständnis von Studenten des Studiengangs Sozialwesen einer Fachhochschule, seine Forschungsinteresse gilt der Rekonstruktion der beruflichen Habitualisierung. 202 6 Qualitativ-empirische Studien zur Berufseinmündung in die sozialpädagogische Praxis 6.1 Professionalität in biografischer Perspektive - Die Statuspassage vom Studium zum sozialen Beruf, Ergebnisse der Studie von Ulrike Nagel Eine qualitative Studie zur sozialpädagogischen Professionalität im Übergang vom Studium zur Berufspraxis veröffentlichte Ulrike Nagel 199752. Zur Rekonstruktion des Verhältnisses zur sozialen Arbeit legt sie die Vergleichsdimensionen des Verhältnisses zu Aus- und Weiterbildung, der Orientierung an Arbeitslosengeld, -hilfe, ABM etc. an. Für den Vergleich der Fallstrukturrekonstruktionen werden die Haltung zu den Strukturproblemen des Berufs, die Verarbeitung von Krisenerfahrungen, die Reaktion auf die Arbeitsmarktbedingungen, die biografischen Kontextuierung der Statuspassage und das berufliche Selbstverständnis bzw. die Idee der Selbstverwirklichung berücksichtigt. Ulrike Nagel rekonstruiert drei Strukturtypen im Übergang zur sozial- pädagogischen Praxis, den Typus der Statuspassage als Berufsrisiko, den Typus der Statuspassage als Gestaltungsspielraum sowie jenen des Übergangs als Orientierungs- krise..53 „Für das Handeln in der Statuspassage gilt, dass das Individuum einen Wechsel im Status hinnehmen muss, der als eindeutig (und punktförmig) gelten kann, was das Verlassen des StudentInnen-Status betrifft, der andererseits durch ein hohes Maß an Ungewissheit gekennzeichnet ist, was die Dauer bis zum Erreichen einer zukünftigen beruflichen Position und eines zukünftigen Erwerbsstatus betrifft ( Nagel 1997, S. 94).“ 6.1.1.1 Statuspassage als Berufsrisiko - Professionalisierung mit Risikokompetenz, variablen Handlungsstrategien und Relevanzstrukturen Bei einer Interpretation der Statuspassage als Berufsrisiko wird die Risikobewältigung zum eigenen Unternehmen mit entsprechenden Strategien. Für alle Fälle dieses Typus rekonstruiert Ulrike Nagel ein professionelles Selbstverständnis und ein hohes Niveau beruflicher Selbstreflexion. Die Risikolage der Statuspassage wird antizipiert, mit der Strukturierung dieses Übergangs werden prophylaktisch Verunsicherungen und 52 Nagel, Ulrike 1997, Engagierte Rollendistanz. Professionalität in biografischer Perspektive 53 vgl. Nagel 1997, S. 93 203 Labilisierungen des Verhältnisses zur Umwelt verhindert. „Gegenüber dem Einmündungsrisiko werden hier nicht etwa kompensatorische Strate- gien beobachtbar, sondern im Gegenteil Strategien der Professionalisierung des Handelns und der Risikoprävention, Strategien des berufsbiografischen Timings von Arbeits-, Fortbildungs- und Arbeitslosigkeitssequenzen unter Berücksichtigung sozial- staatlicher Rechtsansprüche (Nagel 1997, S. 100).“ Den Pädagogen dieses Typs gilt die abgeschlossene Berufsausbildung als Kapital, mit dem es zu arbeiten gilt, entsprechend werden Weiterbildungsprozesse als notwendige Ergänzung im Studium erworbener Kompetenzen gesehen und sind motiviert durch die Rückbindung an ein konkretes Arbeitsfeld. Kennzeichnend für die Passagenverläufe des Strukturtyps Berufsrisiko sind eine hohe Variabilität der Handlungsstrategien, eine spezifische Mischung von beruflichem Engagement und Rollendistanz sowie eine auf unmittelbare Klientenberatung zielende Berufsauffassung.54 6.1.1.2 Kontextuierung der Statuspassage als Gestaltungsspielraum Liegt ein Verständnis des Übergangs vom Studium zur Sozialarbeit als Gestaltungs- spielraum vor, bilden nicht das Risiko und der Umgang mit diesem den Fokus von Aufmerksamkeit und Aktivität, vielmehr die Gestaltung von Möglichkeiten jenseits der traditionellen Träger sozialer Arbeit. Strukturiert wird vorrangig die Verwirklichung eigener Interessen, hierbei zielt eine Haltung des Hoffens auf einen glücklichen Zufall ab, eine Arbeitsstelle zu finden, in der spezifische Sozialarbeits- und Rollenkonzepte verwirklicht werden können. Arbeitsmarktsituation und Karriereinteressen bleiben nachrangig gegenüber der eigenen Rollenkonzeption einer allerdings gering konturier- ten Sozialanwaltschaft. Die Idee der Sozialarbeit wird beispielsweise als praktisch- kooperative Tätigkeit in einer Werkstatt gestaltet, als Anspruch, etwas zu verändern, als menschliche und ,wirkliche' Sozialarbeit. In der beruflichen Tätigkeit soll es möglich sein, ohne eine starke Bindung an starre Organisationsformen solidarisch mit Menschen zu arbeiten. Die Vorstellung zur Sozialarbeit entspricht der einer Sozialanwaltschaft, ohne dass diese Konzeption deutlich ausgestaltet wird. Werden beim Strukturtyp Berufsrisiko von Beginn an Berufsrisiken, Ressourcen, 54 vgl. Nagel 1997, S. 101 204 Hobbys, Karriere usf. mit einbezogen, kommt es bei diesem Typus, in einem stufenförmigen Verlauf und u. U. krisenhaften Prozess von Offenbarungen im Verlauf der Statuspassage, zu einer allmählichen Erweiterung von Rationalitäten. Für den Strukturtyp Gestaltungsspielraum gilt, dass, wenn die Nische nicht gefunden wurde, bei dauerhaft problematischen Arbeitsverhältnissen, die Gefahr eines Verlaufs bis zum Burnout, zum Helfersyndrom, zur Abstumpfung, Verbitterung oder Abkehr vom Beruf besteht. „Die Typik dieser Statuspassage als Gestaltungsspielraum entfaltet sich insbesondere bei der Thematisierung der Rolle des/der SozialarbeiterIn im Sinne des/der AdvokatIn und seiner/ihrer Funktion als Medium der Aufhebung von sozialer Benachteiligung. Im Kontext dieser Berufsauffassung und der Suche nach einer Nische für deren Verwirklichung gerät die Einmündung als Risiko in den Hintergrund, und die Offenheit der Statuspassage bildet gleichsam die Voraussetzung für die Schaffung und/oder Gestaltung beruflicher Arbeitsbedingungen (Nagel 1997, S. 111).“ 6.1.1.3 Das Scheitern der Berufseinmündung – die Statuspassage als Orientierungskrise Signifikant für diesen Typus ist jene allgemeine Verunsicherung, die Schmidtke 1963 und Fürstenberg 1966, 1972 herausarbeiten. Die Autoren führen aus, dass mit dem Eintritt ins Berufsleben vielfach eine allgemeine Verunsicherung und Labilisierung des Verhältnisses zur Umwelt einhergeht, die erst in einem mühsamen Prozess des Aufbaus eines neuen Bezugssystems kompensiert werden kann.55 Ungewisse Vorstellungen zu Arbeit und Leben, die Selbstdeutung fehlender beruflicher Kompetenzen und das Fehlen von Plänen für die Zukunft werden zum „Allgemeinzustand der Orientierungs- unsicherheit“ und zu Ängsten bezüglich beruflicher und biografischer Anschlüsse (Nagel 1997, S. 112). Angst vor Überforderung, vor Problemen mit dem Klientel und Berührungsängste gegenüber dem Beruf münden in einer Flucht ins Private, die Beschäftigung mit sich selbst, z. B. mit Beziehungsproblemen findet in einem teils durch berufsfremde Jobs, teils durch Eltern finanzierten Schutzraum statt. Charakteristisch für diese Konturierung der Statuspassage ist eine erhöhte Orientierungsoffenheit im Sinne einer Vermeidung biografischer Festlegungen. 55 vgl. Nagel 1997, S.100 205 Verantwortung für die eigene Person wird nicht übernommen, befangen in Problemen mit sich selbst gelingt es den Akteuren dieses Typus nicht, ihren berufsbiografischen Entwurf und Eigenitiative zu entwickeln. Die Erfahrung der Überforderung zum Berufsanfang kann nur unter günstigen Begleitumständen wie einem solidarischen Team oder Teilzeittätigkeit vermieden werden. Im Falle solch günstiger Bedingungen kann das Selbstbild beruflicher Inkompetenz aufgegeben und eine ausbalancierte Identität der Berufsrolle aufgebaut werden. 6.1.2 Berufskonzeptionen der Statuspassage Ulrike Nagel rekonstruiert zu den Entwürfen der Berufskonzeptionen die folgende Typik: Der Typus der Sozialanwaltschaft ist eine Lesart der Deutung von Hilfe zwar nicht im Sinne des sozialutopischen Postulats der Aufhebung von Ungleichheiten der frühen siebziger Jahre, jedoch in der Gestalt einer späteren kompensatorischen Lesart dieses Gleichheitsideals56. Der Typus des Krisenmanagements wird von Ulrike Nagel zeitlich in den achziger Jahren verortet, dieser sei Ausdruck einer sozialräumlich und lebenszeitlich entgrenzenden Ungleichheitsproblematik. 6.1.2.1 Identitätsmanagement der Statuspassage - Sozialarbeit als Sozialanwaltschaft Klare Komponenten und Konturen einer sozialadvokatorischen Konzeption der sozial- pädagogischen Berufsrolle, deren Entstehung zum Ende der siebziger Jahre hin anzusiedeln ist, können Ulrike Nagel zufolge mit dem zu Beginn der neunziger Jahre erhobenen empirischen Material nicht vorgenommen werden. Eine innere Unbestimmt- heit der Berufskonzeption geht zurück auf die faktische Unvereinbarkeit der Berufsidee und der empirischen Praxis des Berufs; sie wird im Einzelfall sichtbar als Ringen um Authentizität gegenüber bürokratischen Autoritäts- und Konkurrenzstrukturen des sozialen Betriebes. Entsprechend wird die Suche nach einer Nische, die Raum lässt für eine authentische Gestaltung der Arbeit, basal für die Motiviertheit im Berufsalltag und für die Wahrung beruflichen Engagements. Diese Nischensuche geht einher mit der Abarbeitung der Rollenidee an den Interpretationen von Realität; bei einer Nähe zu 56 vgl. Nagel 1997, S.140 206 Orientierungs- und Identitätskrisen kann es mit einer rein abstrakten Bearbeitung des Passagenthemas zu einer Nichtausübung des Berufs kommen, am anderen Ende der Skala potentieller Passagenverläufe auch zu einer Integration des Musters Berufsrisiko als handlungsleitender Prämisse.57 „Bei den SozialadvokatorInnen gerät Professionalität in Abhängigkeit von der Identifikation mit der jeweiligen konkreten Arbeitssituation, d. h. sie wird zu einer Frage der Nähe zwischen Person und beruflich konkreter Aufgabe. Ein Maximum an Nähe bedeutet aber zugleich das Verschwinden des Selbst hinter der Rollenfigur, berufliche Probleme führen dann tendenziell zu Identitätskrisen der gesamten Person (Nagel 1997, S. 144).“ 6.1.2.2 Konzeption der Sozialarbeit als Krisenmanagement Zu den Interpretationen der Berufskonzeption sozialer Arbeit wie der Sozialanwalt- schaft58, des fürsorgerisch-pflegerischen, der Polizeifunktion usf. führt Ulrike Nagel die Konzeption des Krisenmanagements ein. Hilfebedürftigkeit gilt den Akteuren dieses Berufskonzepts als Normalität der Gegenwartsgesellschaft, ihre sozialarbeiterische Alltagstheorie geht von je besonderen Einzelfällen, für die ein Bündel ebenso je individueller Hilfeleistungen zu erbringen ist, aus. Für die Vertreter dieser Berufskonzeption gilt soziale Arbeit als ein Instrument gesellschaftlicher Problem- bearbeitung. Zentraler Gegenstand der Krisenmanagementkonzeption ist „effektiveres Helfen“, von Ulrike Nagel rekonstruiert als eine Form der Hilfe zur Selbsthilfe. Entsprechend ist die berufliche Alltagstheorie nicht auf soziale Ungleichheit und gesellschaftliche Ungerechtigkeit gerichtet, sondern auf das Missverhältnis zwischen Strukturpotentialen sozialer Institutionen und ihrer faktisch wenig ökonomischen Nutzung.59 Die konzeptionelle und praktische Bearbeitung der Konfliktlinien des Problems beruf- licher Identität, von Autoritätskonflikten, der Versöhnung mit den Aufgaben sozialer Arbeit und dem Laufbahnproblem wird mit der Strukturierung eines professionalisierten 57 Grabke, Erika Zwischenräume – Über die Problematik der Einmündung in die sozialarbeiterische Berufspraxis. Fallanalysen eines biografisch orientierten Interviews. unv. Man., zit.n. Nagel 1997, S. 141 ff. 58 der sozialpädagogische Typus des Sozialanwalts wird von Ulrike Nagels Interpretation im zeitlichen Kontext neu bestimmt 59 vgl. Nagel, 1997, S. 126 f. 207 Handelns gelöst. Das zentrale Problem des Niederschlags der Strukturschwächen des Berufs auf der Ebene Berufsbiografie und Identitätsentwicklung wird von den Vertretern des Typus Krisenmanagements mit den Konzeptionen des beruflichen Bildungs- prozesses und des praxisgesättigten Expertentums sowie dem Ziel des „effektiveren Helfens“60 erfolgreich bearbeitet. 6.1.3 Das Professionalisierungsprojekt engagierte Rollendistanz In der Statuspassage besteht das strukturelle Grundproblem, eine Balance zwischen Engagement und Distanz zur Berufsrolle herzustellen, im professionstheoretischen Sinne ist dies ein zentraler Aspekt der Bildung eines professionalisierten Habitus. Dieser Habitus engagierter Rollendistanz ist bei Ulrike Nagel typenübergreifend, wird in der Studie als Strukturhypothese zur conditio sine qua non eines professionellen Verhältnisses zum Beruf, an der folglich auch das Scheitern von Professionalisierung rekonstruiert werden kann. Auf der Basis jener Daten, die die Statuspassage als Berufsrisiko und die Berufskonzeption Krisenmanagement enthalten, der Schnittmenge des Materials von Berufsangehörigen, die sich offen mit den Grundproblemen des professionalisierten Handelns auseinandersetzen, rekonstruiert Ulrike Nagel den Habitus engagierter Rollendistanz. Theoretische Bestimmungsmerkmale dieses Habitus sind die folgenden beiden Elemente: (1) „Im professionellen Engagement ist die intuitive Hinwendung des Selbst zum Beruf mit dem Kern der Sozialarbeit, dem professionellen Hilfehandeln verbunden. Das Image, das so entsteht, ist das des Professionals. Indem die intuitive Hinwendung an die „Technik und Rationalität“ (Adorno) des professionellen Handlungstyps gebunden wird, wird Professionalität im Sinne der „Gewinnung und Behauptung von Identität“ (Erikson) als Professional abhängig von der kontrollierten Nutzung der subjektiven und professionstheoretischen Ressourcen (Nagel 1997, S. 226).“ (2)Adäquate Realisierung des Entwurf der professionellen Berufsrolle ist eine regelmäßige Fehlerkontrolle. Die Gewohnheit zur Fehlerkontrolle wurzelt im Handlungsschema der Rollendistanz, einer distanzierten Hinwendung zur Berufs- rolle, mit der ein Aktionsfeld eröffnet und nicht eine Haltung eingeübt wird. Hierbei 60 vgl. Nagel, 1997, S. 131ff. 208 kommt der Supervision eine besondere Stellung im Projekt der Professionalisierung zu als topos, an dem das biografisch gewachsene, intuitive Verhältnis der Person zu ihrem Beruf durch Supervision objektiviert wird, hier wird das „innere Regelwerk der Person“ Gegenstand von Fremdkontrolle und eigenen Lernprozessen. Autonomie beruflichen Handelns und professionelle Selbstkontrolle entstehen durch die gewohn- heitsmäßige Rekonstruktion der rollentypischen Reaktionen.61 Diese gewohnheits- mäßige Rekonstruktion der rollentypischen Reaktionen wäre der Ort der Herstellung von Autonomie, von professioneller Selbstkontrolle, hierbei birgt die Differenz von Theorie und Praxis jene Krisenkonstellation in sich, die in jedem Fall bearbeitet und deren Fehlerpotential immer wieder neu bewältigt werden muss. Hierzu sei, so führt Ulrike Nagel aus, die Fixierung als Gewohnheit unabdingbar. 61 vgl. Nagel 1997, S. 227 209 6.2 Handlungsmuster und Deutungskompetenz von Fachhochschul- studenten und -absolventen, eine qualitativ-empirische Studie von Friedhelm Ackermann Eine der basalen theoretischen Vorannahmen der qualitativ-empirischen Studie zur Habitualisierung sozialpädagogischer Handlungsvollzüge in der Praxis von Friedhelm Ackermann ist die eines zweifachen Theoriedefizits sozialer Arbeit. Hierbei bezieht sich Ackermann auf die von Bernd Haupert und Klaus Kraimer62 1991 veröffentlichte Analyse eines Mangels an eigenständiger, wissenschaftlicher Fundierung von For- schung und Lehre, einhergehend mit einem Defizit an wissenschaftlicher Orientierung der Absolventen und Praktiker. Dies führe in der Konsequenz zu einer „theoretischen und disziplinären Heimatlosigkeit“ in den je beruflichen Handlungsvollzügen.63 Die zweite grundlegende theoretische Vorannahme ist, dass zwar die Verberuflichung des Studienganges Erziehungswissenschaften geglückt sei, wie auch die der Praxisfelder sozialer Arbeit, eine Professionalisierung hingegen noch ausstehe. Das Forschungs- interesse gilt der Rekonstruktion der beruflichen Habitualisierung, als Erhebungsinstru- ment kommt das leitfadenstrukturierte Experteninterview nach Meuser/Nagel64 zur Anwendung. Ackermann geht der Frage nach, ob in der Praxis sozialer Arbeit empirisch Deutungsmuster nachweisbar sind, die einem eigenständigen Professionsverständnis und einer „je eigenen Deutungs- und Handlungslogik“ entsprechen oder ob klassische Deutungen staatlicher Fürsorge, orientiert an Almosen, Hilfe und Kontrolle weiterhin dominieren.65 Methodisch ist Ackermanns Studie keine biografische Rekonstruktion der Formation des sozialpädagogischen Habitus, vielmehr wird der Status quo beruflicher Habitualisierungen in verschiedenen Kohorten untersucht. „Es geht - speziell - um die Qualität sozialer Arbeit am Beispiel von drei unter- schiedlichen AbsolventInnen-Kohorten des Fachbereichs Sozialwesen der Fach- hochschule Ostfriesland. Über diese prinzipielle Fragestellung hinaus soll durch die Analyse des professionellen Selbstverständnisses der MitarbeiterInnen in einer Insti- 62 Haupert, Bernd/Kraimer, Klaus 1991: Die Disziplinäre Heimatlosigkeit der Sozialarbeit/ Sozialpädagogik, in: Neue Praxis 21, S. 106 – 121; 63 ebenda, vgl. Ackermann 1999, S. 11 64 vgl.: Garz, Detlef/ Kraimer, Klaus (Hg.) 1991: Qualitativ- empirische Sozialforschung. Konzepte, Methoden, Analysen, Opladen Meuser, M., Nagel, Ulrike 1997: Das Experteninterview – Wissensoziologische Voraussetzungen und methodische Durchführung. In: Friebertshäuser/A. Prengel (Hg.) Handbuch Qualitative Forschungsmethoden in der Erziehungswissenschaft, Weinheim/ München 65 vgl. Ackermann 1999, S. 13 210 tution sozialer Arbeit Aufschluss darüber gewonnen werden, inwieweit die hier empirisch aufweisbaren Deutungs- und Handlungsmuster Auswirkungen auf innovative Projekte und auf die Förderung von Planungsprozessen etwa im Rahmen der Jugendhilfeplanung haben (Ackermann 1999, S.14).“ Zur Erhebung wurde ein offenes leitfadenstrukturiertes Experteninterview genutzt. Die Daten wurden in einer modifizierten Form nach dem Verfahren von Meuser/Nagel ausgewertet, nicht eindeutig interpretierbare Textstellen wurden ergänzend objektiv- hermeneutisch rekonstruiert. Die Studie ist angelegt als Kohortenvergleich der drei Gruppen: • Studierende der Fachrichtung Sozialwesen, Fachhochschule Ostfriesland in höheren Semestern, d. h. im Projektstudium oder der Phase der Abschlussarbeit; • SozialarbeiterInnen und Sozialpädagogen im Anerkennungsjahr; • angestellte und diplomierte SozialarbeiterInnen und SozialpädagogInnen mit mindestens drei Jahren Berufspraxis; Die Typik von Friedhelm Ackermann ist keine „reine Typik“ in dem Sinne, dass die charakteristische Motivlage ausschließlich bei dem hiernach aufgestellten Typ vorzufinden wäre, so enthält zum Beispiel auch der Typus des Pragmatikers das Element einer Erfahrungssättigung, allerdings nicht als Hauptmerkmal, in diesem Sinne ist das Motiv der Selbstverwirklichung auch ein Element der objektiven Motiviertheit des Pragmatischen Idealisten der Kohorte der Berufspraktikannten. 6.2.1 Typik der Studierenden - Pragmatiker, Selbstverwirklicher, Erfahrungsgesättigte, Zertifikatsorientierte Die Befunde der Interviews mit den Studierenden der Fachhochschule Ostfriesland vergleicht Ackermann anhand der Kategorien der Studienmotivation, des Theorie- Praxis-Verständnisses und der berufsbezogenen Orientierungen. Aus diesen drei Vergleichsebenen ergibt sich die folgende Typik: • Der Pragmatiker verfügt nach langjähriger Tätigkeit in sozialen Handlungsfeldern über einen Erfahrungsfundus, seine Berufsorientierungen sind pragmatisch und basieren auf einem Ensemble aus Lebenserfahrungen, Bedürfnissen und Erwar- tungen. Bei einer hohen fachlichen Motiviertheit und einer reflexiven Identifikation mit Studium und Sozialpädagogik ist für diesen Typus die Orientierung an einem 211 theoretischen Bezugssystem charakteristisch. Gegenüber dem Studium besteht das Bedürfnis einer theoretischen Fundierung der eigenen Erfahrungen, gegenüber der Praxis greift der Anspruch, durch eigenes Handeln Veränderungen zu bewirken. • Für den Selbstverwirklicher steht die Sorge um sich selbst im Vordergrund. Sein primäres Interesse ist, sich über Studium und Beruf selbst zu verwirklichen. Mit dieser Motivation geht eine Aufstiegsorientierung einher, mit der, neben dem Wunsch mit Menschen zu arbeiten, die zentralen Bedürfnisse des selbständigen Arbeitens und einer selbstrukturierten Arbeitszeit verwirklicht werden sollen. Friedhelm Ackermann rekonstruiert für den Typus des Selbstverwirklichers eine begrenzte Offenheit für Neues, im Studium dominiert die Suche nach Rezepten gegenüber dem Wunsch, soziale Wirklichkeit zu verstehen. • Für den zertifikatsorientierten Studenten sind Interessen der Selbstverwirklichung Mittel, Bedürfnisse nach Anerkennung abzudecken und/oder einen Aufstieg am alten Arbeitsplatz zu realisieren. Die Option eines sozialpädagogischen Studiums kann auch wahrgenommen werden, um eine prekäre Lebenssituation besser zu bewältigen. Mit „minimalistischen Studienstrategien“ wird das gesetzte Ziel eines Zertifikats, des Diploms angestrebt (Ackermann 1999, S. 80). Entsprechend dieser formalen Bildungsaspiration ist die Lernhaltung eine geschlossene, Theorien werden abgelehnt, gelten dem zertifikatsorientierten Studenten als irrelevant, allein Praxis und Alltag sind die Lehrmeister dieses Typus. Dem persönlichen Auftreten wird große Bedeutung beigemessen, die beruflichen Handlungsmuster sind beziehungsorientiert. 6.2.2 Typik der Berufspraktikanten – pragmatische Idealisten, alte Hasen, der Profi, Selbstverwirklicher, Nicht-Angekommene Analyseebenen zu den Interviews der Berufspraktikanten sind die Motivation zur sozialen Arbeit, der berufliche Habitus, das Wissen und Können sowie die Haltung zur Phase der staatlichen Anerkennung, die Sicht als sozialpädagogisches Probehandeln oder einer Quasi-Berufsrolle. • Der pragmatische Idealist hält an gesellschaftspolitischen Reformgedanken fest, auch wenn diese im Berufsalltag starken Restriktionen durch gesellschaftliche und institutionelle Rahmenbedingungen unterliegen. Das Spannungsverhältnis aus einer 212 Gleichzeitigkeit von Utopie und Realität, dem Einlassen auf institutionelle Rahmen- bedingungen und der Bewahrung ursprünglicher Motive und Ideale mündet in einer Politik der kleinen Schritte. Ackermanns Rekonstruktion verdeutlicht, dass Dis- krepanzen durch Bezugnahme auf ursprüngliche Ideale bewältigt werden, im Falle eines Scheiterns dieser Verarbeitung werden alternative Lebenskonzepte, die eher mit den Ursprungsidealen vereinbar sind, entworfen. • Alte Hasen sind all diejenigen, die vor dem Studium mit sozialer Arbeit befasst waren, auch beispielsweise durch eine ehrenamtliche Tätigkeit. Die berufliche Einsozialisation ist vor Studienbeginn bereits erfolgt, das Studium hinterlässt über die formale Qualifikation hinaus keine nennenswerten Spuren. Zur Zeit des Studiums bereits biografisch geschlossen, ist den Vertretern dieses Typus ein zur Fachlichkeit geronnenes Erfahrungswissen zu eigen, das über das Studium bestenfalls geringfügig modifiziert wird. In der Praxis werden in der Regel Deutungsmuster reproduziert, die auf Erfahrungen vor dem Studium basieren, häufig aus pflegerisch-erzieherischen Ausbildungen. Das Fachhochschulstudium wird genutzt, um Handlungswissen und Kompetenz in „handwerklichen Wissensbeständen“, Rechts- und Methoden- kenntnisse zu erwerben. • Für den Profi ist der Bezug auf ein wissenschaftliches Referenzsystem bei einer prinzipiellen Offenheit gegenüber dem Neuen charakteristisch. Ausgestattet mit wissenschaftlicher Kompetenz und der hermeneutischen Fallverstehens, ist dieser Sozialarbeiter Anwalt des Adressaten. Die Integration widersprüchlicher Rollen- anforderungen gelingt auf der Basis der Bereitschaft zur kontinuierlichen Selbst- reflexion, der Distanz zur eigenen Berufsrolle und dem Wissen um die unter- schiedliche Strukturlogik von Theorie und Praxis. Bei dieser Distanz begegnet der Sozialpädagoge auf der Beziehungsebene dem Klientel mit Empathie und mit Respektierung ihrer Lebenspraxis. • SelbstverwirklicherInnen gilt die persönliche Entfaltung im Beruf als oberste Priorität, auf den Ebenen des beruflichen Selbstverständnisses und der Motivation zur sozialen Arbeit bleibt die Handlungsorientierung gerichtet auf die Sorge um sich selbst. Ein auf die eigenen Person gerichtetes Arrangement wird genährt durch die Vorstellung beruflicher Ohnmacht, die Hilfesuchenden werden zum Mittel der Selbstverwirklichung. 213 „So ist für diesen Typus eine Struktur signifikant, die einerseits zwar qua Berufsrolle auf die Gemeinschaft ausgerichtet ist, andererseits aber selbstbezogen bleibt (Ackermann, 1999, S. 156).“ • Die Nicht-Angekommenen fühlen sich im Interview nicht als Experten ange- sprochen. In ihrer Praxis versuchen sie nicht, sich Handlungsspielräume zu erarbeiten, zu Veränderungen kommt es erst, wenn diese von außen an sie herangetragen werden. Kompetenzdefizite werden nicht bearbeitet, sondern durch Autorität oder Orientierung an anderen Professionen ersetzt. Dieser Typus bildet den maximalen Kontrast zu den „Profis“, die für diese charakteristische widersprüchliche Einheit von Theorie- und Fallverstehen fehlt gänzlich, weder ein theoretisches Referenzsystem, noch Sensibilität gegenüber dem Einzelfall sind vorhanden. 6.2.3 Typik der Praktiker - Fachlich-Profilierte, Fachlich-Erfahrungs- gesättigte, Resignativ-Angepasste • Der von Ackermann rekonstruierte Typus der Fachlich-Profilierten entspricht auf der Analyseebene des Habitus in der Praxis einer Ausformung des Profis der Kohorte der Berufspraktikanten. Die Entscheidung für den Beruf des Sozialarbeiters ist nach einer kritischen Selbsteinschätzung getroffen worden, die Identifikation mit dem Beruf ist eine hohe. Im untersuchten Berufsfeld des sozialen Dienstes liegt eine kritisch- konstruktive Handhabung des Kinder- und Jugendhilfegesetzes vor, der Umgang mit der Verwaltung ist selbstbewusst und basiert auf in Theorien begründeten fachlichen Kompetenzen. • Fachlich-Erfahrungsgesättigte sind jene, die vor dem Hintergrund einer Unzufriedenheit mit der alten beruflichen Situation motiviert sind, sich durch Studium und Beruf weiterzuentwickeln. Die Grundhaltung zur eigenen Tätigkeit ist positiv; ohne über ein ausgewiesenes theoretisches Referenzsystem zu verfügen, ist das fachliche Selbstverständnis erfahrungsorientiert und die Selbstsicht ist die des positiv motivierten Praktikers, mit der Intention sich in der Praxis selbst zu verwirklichen. • Der Typus der Resignativ-Angepassten funktioniert fachlich und im Sinne der Verwaltung. Über ein theoretisches Bezugssystem verfügt er nicht, mangelnde Aner- kennung im Arbeitsfeld mündet in einen Motivationsverlust. Die Berufswahl basiert 214 auf Zufälligkeit und dem Bedürfnis nach sozialer Absicherung, keinesfalls auf einer intrinisischen Motiviertheit. Hierauf setzt das berufliche Selbstverständnis eines begrenzten Engagements und einer geringen Identifkation mit dem Beruf auf. Resigniert und an bestehende Verhältnisse angepasst, ist sein berufliches Selbst- verständnis erfahrungsbezogen und das fachliche Handeln überlebenspragmatisch ausgerichtet. 6.2.4 Zusammenfassung der Befunde von Friedhelm Ackermann Zentraler Befund dieser qualitativ-empirischen Studie ist Ackermann zufolge, dass für das Sozialpädagogikstudium hinsichtlich der Bildung beruflicher Qualifikation keine Habitus formierende Wirkung nachweisbar ist. Vielmehr sei das sozialpädagogische Fachhochschulstudium ein Mittel, nicht akademisch vorgebildeten Arbeitnehmern die durch die Bildungsreform konstituierte Option des „Aufstiegs durch Bildung“ zu eröffnen. Zur Zeit der Gründung der Fachhochschulen, in der Folge der 68er Generation, war das Interesse an gesellschaftlicher Reform eine leitende Studien- motivation, soziale Arbeit galt als Hilfe zur Selbstverwirklichung des Menschen. Dieses Motiv einer adressatenorientierten Hilfe zur Selbstverwirklichung scheine heute nur noch vereinzelt auf, Selbstverwirklichung in der Ausgestaltung der „Sorge um sich selbst“(Foceault) hingegen sei in einem Großteil des Interviewmaterials präsent. Ackermanns Analyse zufolge fehlt es nicht nur an einer gesellschaftlichen Gegenstands- beziehung der sozialen Arbeit, sondern auch deren gesellschaftliche Fokus verschwindet hinter einer Dominanz des Privaten. „Die Privatisierung von Sinn führt zu privaten Karrierestrategien, in denen 'Selbstver- wirklichung' auf der motivationalen Ebene und das 'Irgendwie-Bewältigen' der jeweiligen Praxis die zwei Pole sind, die soziales Handeln konstituieren; für Fachlichkeit oder die Einbeziehung gesellschaftlicher Dimensionen bleibt da kaum Platz (Ackermann 1999, S. 226).“ 215 7 Kontrastierung und Konvergierung der Untersuchungsergebnisse Tabelle 1 Interpretation I Interpretation II Interpretation III Interpretation IV Martin Claudia Michaela Ulrich Berufspraktikant Diplomandin, Diplomandin Diplomand Bedürfnisse an das Bedürfnisse an das Bedürfnisse an das Bedürfnisse an das Studium, biografisch Studium, biografisch Studium, biografisch Studium, biografisch relevante Bedürfnisse relevante Bedürfnisse relevante Bedürfnisse relevante Bedürfnisse Starke Bedürfnisse Ein überwertiges Zwischen den Optionen Die erste Berufsaus- nach Sicherheit, Sicherheitsbedürfnis Erzieherpraxis und bildung zum Hotelfach- vorgegebener Struktur und das Bestreben, sich Bildung wird mit dem mann ist gestützt auf den und Handlungsan- Optionen offen zu Fachhhochschulstudium elterlichen Gastronomie- leitung ziehen sich als halten werden für letztere entschieden. betrieb. Politische roter Faden durch reproduziert. Die Die Wahl des Faches ist Aktivität, Anschauung Kindheit und Jugend, Haltung zum Studium eine latente Entscheidung und Erfahrung im Zivil- sie werden als entspricht einer Sicht für eine Berufsbiografie in dienst münden in der Erwartungshaltung an des Studiums als einer den Fußspuren der Eltern. Perspektive soziale die Fachhochschule Berufsschulausbildung. Arbeit. herangetragen. Studienverlauf, Studienverlauf, Studienverlauf, Studienverlauf, Fallstruktur Fallstruktur Fallstruktur Fallstruktur Die frühe Erfahrung Entscheidungen werden Im Sinne einer bruchlosen Für Ulrich werden die einer Betreuertätigkeit nicht rational und Biografie schließen vermittelten gesell- für Kinder und selbstreflexiv, sondern Erzieherausbildung und schaftskritischen Jugendliche wird gefühlsbasiert Fachhochschulstudium Theorien zum Überbau signifikant für den getroffen. Dieses nahtlos an die Schulzeit der eigenen sozial- berufsbiografischen Entscheidungs- an. Zum Studienbeginn politischen Überzeu- Entwurf und führt zu kriterium findet sich in münden die neuen gungen. Im Studium einem eindimensional den verschiedensten unerwarteten Anfor- entstehen neue ausgerichteten Studium. Passagen des derungen in einer Krise. Präferenzen, vorrangig Interviews, auch Mit Hilfe einer positiven die eines weiter- gerade an biografischen und stützenden Struktur führenden Studiums. Weichen, an denen wird diese zum Kataly- Dieses ist verknüpft mit Rationalität und sator von Bildungs- und dem Wunsch einer Selbstreflexion Transformationsprozessen späteren Tätigkeit in angemessen wären. Forschung und Lehre. Praxisinteresse Praxisinteresse Praxisinteresse Praxisinteresse Jugendarbeit Sozialpädagogische Die Wahl der Praktika in 1) Aufbaustudium Begleitung im den Feldern Sozialdienst Freiwilligen Sozialen der Justiz, 2) Lehrtätigkeit / Jahr Schulsozialarbeit und Forschung (entsprechend den Kindergarten weist auf ein 3) Offene Jugendarbeit eigenen Erfahrungen, breit gefächertes Interesse FSJ) hin. Arbeit mit erwerbslosen Jugendlichen 216 Für die Rekonstruktion der Fallstrukturen und deren Kontrastierung sind nicht nur die unmittelbar auf berufliches Handeln gerichteten Strategien Gegenstand der Betrachtung, vielmehr werden auch biografietypische Strukturen, lebenspolitische, interpersonelle und intrapsychische Strategien rekonstruiert. Im weiteren Sinne befinden sich die Personen hinter den rekonstruierten Fallstrukturen in einer Statuspassage, sie stehen am Ende ihres Studiums, kurz vor dem Übergang in den Beruf. Ihre Situationsdefinition, ihre Antizipierung der künftigen beruflichen Anforderungen dienen der Schließung von Zukunftsoffenheit; dieser spezifischen Situation soll unsere Aufmerksamkeit im Besonderen gelten. Hierbei müssen die Studenten, wie Ulrike Nagel formuliert, gleichsam Strukturinterpretationen legen, im Vergleich zu anderen Professionen auf eine Berufswelt mit einem notorischen Strukturdefizit hin. (Nagel 1997, S. 82 f.) Den Empfehlungen von Oevermann, Garz und Kraimer zur Einbettung von Fallrekonstruk- tionen in eine Fallstudie folgend, werden im ersten Arbeitsschritt die maximal kontrastierenden Fälle auf der Basis der je zentralen Fallstrukturhypothesen miteinander verglichen. 7.1 Maximaler Kontrast Fall 1 „Martin“ - Fall 3 „Michaela“ Vergleichsdimension biografietypischer Strukturen Als eine biografietypische und in gewisser Hinsicht generelle Struktur ist die "Startposition" der beiden Studenten in Bezug auf das von den Herkunftsfamilien bereit- gestellte kulturelle und ökonomische Kapital sehr unterschiedlich. Martins Vater ist Augenoptiker, die Mutter verdient durch Betreuung und Pflege zum Familienein- kommen dazu. Für Martins Familie war bereits die Gewährleistung des Abiturs nicht einfach, die Haltung der Eltern zum Studium des Sohnes ist mutmaßlich ambivalent, zwar soll der Sohn Bildung erhalten, doch ist dies für die Familie eine spürbare Belastung. In der Konsequenz sieht Martins erster Ausbildungsentwurf ein elternunab- hängiges, über die Bundeswehr gefördertes Studium vor. Michaela hingegen kommt aus einem pädagogischen Milieu, der Vater ist Lehrer, die Mutter Erzieherin, von ihnen wird ein Bildungsanspruch an die Tochter herangetragen und via naturwüchsiger Sozialisation werden ihr Teile des pädagogischen Habitus übereignet. 217 Biografische Brüche versus Kontinuität Der Student Martin entdeckt nach dem Scheitern seiner Planung eines Studiums über die Bundeswehr sein soziales Interesse neu. Ein Prozess des Trudelns mündet in der Entscheidung, Sozialpädagogik zu studieren. Diese wird nachträglich mit Sinn aufge- laden, die frühe Erfahrung der Mitbetreuung im Fussballverein dominiert das Studien- interesse. Im Studium erhält via Selbstdeutung die frühe Erfahrung als Hilfe bei der Betreuung eines Kinderfußballteams eine neue Sinnqualität, der Student erzeugt eine objektiv nicht gegebene Kontinuität sozialen Handelns und Interesses, die er als individuellen Entstehungsmythos und als Bindemittel zwischen Persönlichkeit, Biografie und Habitus benötigt. Diese Mitbetreuung einer Kindermannschaft wird zur signifikanten und leitenden Vorstellung der künftigen sozialen Praxis, an ihr wird die Sinnhaftigkeit der angebotenen Studieninhalte gemessen. Im Fall Michaela schließt sich an die Schulzeit nahtlos eine Erzieherausbildung an, sie trifft bereits in der Adoleszenz die Entscheidung zu einer Erzieherausbildung. Dieses frühe Interesse an einem sozialen Beruf wird genährt durch den pädagogischen Hintergrund der Eltern. Das Strukturbild, das von Michaela entsteht, beinhaltet eine Kontinuität sozialen Interesses, die Studienaufnahme wird zur Fortführung des roten Fadens ihrer Biografie. Bei der Wahl zwischen Bildung (Fachhochschulstudium) und Praxis (Erziehertätigkeit) entscheidet Michaela sich für das Studium Sozialarbeit/ Sozialpädagogik und stellt sich hiermit zwischen dem Lehrerberuf des Vaters und der Erziehertätigkeit der Mutter auf. Als eine zweite Struktur ist die Differenz der Bedürfnisse an Studium und Praxis, beziehungsweise der Strategien, die zur Gewähr- leistung dieser Bedürfnisse führen soll, auffällig. Sekundäre Strategien des Umgangs mit dem Bedürfnis nach Sicherheit Die Differenz liegt im Umgang mit der anthropologischen Konstante eines Bedürfnisses beziehungsweise Strebens nach Sicherheit. (Adler, Maslow) Im Fall des Studenten Martin zieht sich das Bedürfnis nach Handlungsanleitung und vorgegebener Struktur als roter Faden durch die Biografie, wird explizit als Erwartungshaltung an die Studien- stätte herangetragen und mündet in einem beharrlichen Anklammern an dem, was sich als erfolgreich bewährt hat, den Erfahrungen als Cobetreuer einer Kinderfußball- mannschaft. Lernoffenheit des Studenten und transformatorisches Potential sind durch die Strategie restringiert, dass Sicherheit in der Praxis bedeutet, einmal bewährte Muster 218 im immer gleichen Ereignisfeld zu reproduzieren. Bei der Wahl zwischen Reproduktion und Emergenz sequentieller Anschlüsse glaubt er sich mit der Reproduktion auf der sicheren Seite. Michaela geht nach ihrer Erzieherausbildung mit der Vorannahme ins Studium, auf eine ihr vertraute Fachkultur zu treffen. Das so erzeugte Sicherheitsgefühl schlägt in der Konfrontation mit den unvorhergesehenen Anforderungen in eine Krise um, deren aktive Bewältigung zum Katalysator von Bildungsprozessen wird. Vergleichsdimension des studentischer Habitus Auf der Vergleichsebene des studentischen Habitus (vgl. Tabelle 1, Seite 206) finden wir die mechanistischen und deterministischen Modelle des Studenten Martin, dessen Bedürfnis nach Vermittlung von Handlungsstrukturen im Studium einen scharfen Kontrast bildet zum Fall Michaela, die sich nach einem selektiven Theoriestudium den Methoden zuwendet und als objektive Hermeneutin vorrangig an einem struktur- analytischen und rekonstruktionslogischen Verstehen des Einzelfalls interessiert ist. Hinsichtlich des „Doppel-Aspektes der Beschließung und Eröffnung von Möglichkeiten jedes Sequenzelementes“ (Oevermann, 2000, S. 70) erweisen sich fehlende Regelkennt- nisse für Martin als nachteilig. Intentional schließt er jedwede probatorische Erfahrungs- und Anschlussmöglichkeit neben der praktischen Kinder- und Jugendarbeit aus, faktisch ist zur Zeit der Interviewerhebung nicht absehbar, ob er dieses Ziel erreichen oder sich anderen Arbeitsfeldern mit ihm unbekannten Anforderungen zuwenden wird. Martin ist der Auffassung, dass er mit seinen Erfahrungen und seiner Affinität zur Kinder- und Jugendarbeit im Wesentlichen bestens für die Praxis gerüstet ist, im Studium ist die Wandlung von einer naturwüchsigen, auf die Erfahrung ausgerichteten Lernhaltung zu in theoretischen Interessen fundierten Bildungsprozessen nur partiell gelungen. Im Kontext der von Beck als Risikogesellschaft charakterisierten Situation der westlichen Industrienationen, der Enttraditionalisierung und Individualisierung von Lebens- verläufen, verhält sich das regressive Verharren in Sinnstrukturen, die sich in der Pubertät bewährten, diametral zu einem Projekt der eigenen Professionalisierung. So addieren sich im Fall Martin ausbleibendes Theorie- und Fallverstehen und unangemessene biografietypische Strukturen zum doppelten Scheitern der Habitus- und Persönlichkeitsbildung. Der studentische Habitus entspricht dem eines auf seine praktische Neigung stolzen Handwerkers. 219 7.2 Minimaler Kontrast Fall 1 „Martin“ - Fall 2 „Claudia“ In ihrer Rekonstruktion von Bildungsprozessen und Verläufen im universitären Studiengang Sozialpädagogik legt Cornelia Schweppe66 die Vergleichsdimension des Verhältnisses von Biografie und Studium an. Die aus sechs Einzelfallinterpretationen rekonstruierte Strukturtypik umfasst die folgenden Typen: • die biografische Abweisung des Studiums • das Studiums als biografischer Transformationsprozess • die biografische Überformung des Studiums Der Strukturtyp einer biografischen Überformung des Studiums strebt eine konfliktfreie Synthese sozialpädagogischen Wissens und eigener lebensgeschichtlicher Entwicklung an. Die Selektion unter sozialpädagogischen Inhalte erfolgt unter dem Primat, potentielle Krisen, Konflikte und Verunsicherungen zu vermeiden, die Offenheit gegenüber Erfahrungen, die zur biografischen Sinnwelt kontrastieren, ist begrenzt.67 Biografieanalytisch ist für den Typus des „Studiums als Transformationsprozess“ eine Verstrickung mit Problematiken und Dynamiken der Herkunftsfamilie charakteristisch. Im Studienverlauf treten massive Krisen mit den Ausdrucksgestalten einer psychischen Überlastung und von Lern- und Schreibblockaden auf. Eine aktive, studienimmanente Bearbeitung des Krisenpotentials führt zu einer dichten Verknüpfung von Studium und Biografie, zunächst auf der Ebene gewählter Inhalte, im Weiteren auf der Ebene der Lösung von Verstrickungen des Selbst. Die Entwicklung professioneller Orientierungen schließt an biografische Sinnquellen an, diese sind reflektiert und fachlich fundiert.68 Charakteristisch für die biografische Abweisung des Studiums ist eine wenig selbst- gesteuerte, kaum intentionale Lebensgestaltung. Getrieben durch eine Lebens- problematik, die sich der eigenen Kontrolle entzieht, werden biografische Planungen auf die Orientierung an Dritten gestützt, die eigene Gestaltung von Handlungsspielräumen ist problematisch. Die Selbstdeutung der Lebensgeschichte verschleiert faktische Ereignisabläufe, deckt Ambivalenzen der Verläufe, besonders Krisen- und Verlaufs- kurvenpotentiale zu.69 Zu diesem Typus liegen Analogien mit Fallstrukturelementen der beiden im Folgenden gegenübergestellten Interpretationen vor. 66 Schweppe 2006 67 vgl. Schweppe 2006, S. 85-89 68 vgl. Schweppe 2006, S. 112 -115 69 vgl. Schweppe 2006, S. 51-54 220 Vergleichsdimension biografietypischer Strukturen - Dominanz des Sicher- heitsbedürfnisses gegenüber einer Erweiterung des Fach- und Weltbezugs Ein überwertiges latentes Sicherheitsbedürfnis ist für diese beiden Fallstrukturen charakteristisch. Als zentrale Figur der Interpretation des Interviews „Martin“ manifestiert sich dieses im Festhalten an den Strategien, die sich in der bisherigen Lebensgeschichte bewährten, in dem Anspruch an die Ausbildungsstätte, im Studium eine vorgefertigte Struktur geliefert zu bekommen, beziehungsweise auch Handlungs- schemata für spezifische Situationen der Praxis der Jugendarbeit. Dieses Bedürfnis ist dominierend, für die studentische Praxis soll ein Leitfaden das Abarbeiten einer vorge- gebenen Struktur ermöglichen. Analog sieht das für die Praxis entworfene Modell sozialpädagogischer Handlungskompetenz vor, mit im Studium vermittelten Handlungs- schemata den jeweils gültigen Regeln zu folgen. Eine reflexive Vergegenwärtigung dieser jeweils geltenden Regeln ist hierbei nicht intendiert. In einer biografieorientierten Betrachtung zeichnet sich das folgende Muster ab: Eine intentionale Gestaltung der eigenen Biografie gelingt nicht oder nur partiell. Der Zugang zum Studium erfolgt fremdbestimmt, vermittelt über die Orientierung an signifikanten Ratgebern. Im Fall „Martin“ wird die Einschreibung im Fach Sozialpädagogik nach dem Scheitern eines geplanten Studiums über die Bundewehr, im Rückgriff auf positive Erfahrungen der Jugendzeit, zum Alternativentwurf. Vergleichsdimension des studentischen Habitus Für die Studentin Claudia bedeutet die autonome Gestaltung von Lernprozessen, sich auf eine diffuse Suchbewegung nach einem Fundamentalsystem sozialer Arbeit zu begeben, dieses Grundmotiv bleibt über das Studium bis zur Datenerhebung kurz vor dem Abschluss erhalten. Im Sinne eines idealisierten Selbstbildes legt sie sehr früh im Studium das Modell der hochspezialisierten Expertin an sich an, so entsteht eine Diskrepanz zwischen dem Faktischen und ihrem nicht einlösbaren Anspruch. Auf der Ebene der Aneignung von Wissensbeständen erhält sie auf ihre globale Fragestellung nicht die erwünschte Antwort, bereits durch biografische Vorerfahrungen an rationalen Problemlösungen entmutigt, bleibt eine Transformation latenter Sinnstrukturen von der Dominanz gefühlsbasierter Orientierungen hin zu Rationalität, Entscheidungszwang und Begründungsverpflichtung aus. Bei Martin ersetzen mechanistische, aus der Primärsozialisation übernommene und auf 221 die soziale Praxis übertragene Strategien die Bildung eines sozialpädagogischen Habitus. Chancen und Risiken des Neuen vermeidend, hält er konservierend an dem fest, was sich in der Vergangenheit bewährt hat, den Erfahrungen in der Verbandsarbeit des Fußballvereins. Für beide Fälle gilt, dass sie Parallelen aufweisen zu latenten Sinnstrukturen, die Ackermann (1999) beim studentischen Typus des Selbstver- wirklichers verortet, die begrenzte Offenheit für Neues und die Dominanz einer Suche nach Rezepten sozialer Arbeit im Kontrast zu einem Lerninteresse, soziale Wirklichkeit zu verstehen. Parallelen bestehen auch zu dem von Cornelia Schweppe aufgestellten Strukturtyp der„biografische Überformung des Studiums“70. 7.3 Kontraste und Konvergenzen der Fallstrukturen „Michaela“ und „Ulrich“ Eine mehrheitliche Konvergenz der rekonstruierten falltypischen Strukturen liegt bei diesen beiden Interpretationen nur begrenzt vor. Die Fallstrukturen „Ulrich“ und „Michaela“ weisen Gemeinsamkeiten auf hinsichtlich der Bildungs- und Transforma- tionsprozesse im Studium. Beide Studenten lassen sich vertieft auf das Studium ein, das Wandlungspotential der Bildungsprozesse im Studium kann entfaltet werden und ruht als Habitusformation und als Erweiterung bisheriger Wahrnehmungs-, Interpretations-, Handlungs- und Gestaltungsspielräume auf den biografietypischen Strukturen und Strategien auf. Die Möglichkeit, Krisen zulassen zu können und die aktive Bearbeitung dieser Krisen schließen das transformatorische Potential auf, aus dem in einem Akt der Emergenz eine neue Selbst- und Weltsicht hervorgehen. Vergleichsdimension biografietypischer Strukturen Einen eher starken Kontrast bildet der Vergleich der Biografien bis zum Studium. Über den Abschluss einer Fachoberschule qualifiziert, beginnen beide ihr Studium mit einer relativen Distanz zu Studienanforderungen und -inhalten. Aus einem tendenziell bildungsfernen Milieu kommend, beginnt Ulrich das Studium mit ersten Eindrücken sozialpädagogischen Handelns durch den Zivildienst im Anschluss an einen einjährigen Besuch der Fachoberschule für Erzieher. Die Studentin Michaela verfügt zwar mit dem Hintergrund des pädagogischen Elternhauses und der Erzieherausbildung über Erzählungen zum Studium, doch mit bisher unbekannten Themenangeboten wie 70 vgl. Schweppe 2006, S. 51-54 222 Methodenlehre und Biografieforschung wird der Studienbeginn zum Sprung in neue Arbeitsweisen und Inhalte. Krisenbewältigung und Transformationsprozess Im Fall „Michaela“ ist im Studienbeginn eine Krise angelegt, Michaela gelingt die aktive Bearbeitung des krisenhaften Potentials, in einem Prozess der Emergenz erarbeitet sie sich neue Lernstrategien und strukturiert ihr Studium mit einem breit gefächerten und später ausdifferenzierten Interesse. Die Studentin verfügt über die benötigten biografischen Ressourcen einer erfolgreichen Krisenbewältigung, hierbei wirkt eine positive Struktur an der Fachhochschule und im familialen Umfeld unterstützend. Wie schon Michaela, spricht Ulrich Krisen im Studium an, in seiner Selbstdeutung werden diese normalisiert und bleiben in seiner Rückschau eher die Ausnahme, denn der Normalfall. „Also ich hab' wirklich selten 'ne richtige Krise jetzt gehabt, wo ich dann also gar nicht 'rauskam oder so vor unlösbaren theoretischen Problemen gestanden.“ Diese Krisen markieren die Freisetzung des transformatorischen Potentials des Studiums, in der Sequenziertheit der studentischen Praxis jene Übergänge, an denen bewährte Routinen nicht vorhanden sind oder nicht mehr greifen und in einem schöpferischen Prozess neue Strukturen geschaffen werden. Vergleichsdimension des studentischen Habitus Signifikant für diese Fallstruktur ist, dass Michaela intentional nicht mit einem Ensemble theoretischer Fragmente, noch mit naturwüchsigen biografisch gewachsenen Interpretationsfolien den jeweiligen Fall bearbeiten möchte. Vielmehr vertritt sie, in den immanenten Nachfragen des Interviews, in einer dezidierten Form die Notwendigkeit methodischer Kenntnisse: „Wir brauchen theoretisches Wissen und wir brauchen eine Methode. Aber es ist halt die Frage, wie ich was aufbaue. Also gehe ich hin und hab' meine Methode, die ich da im Kopf hab' und hab dann irgendwie noch 'ne Theorie und em versuche halt [Lachen], das so auf den Einzelfall zu pressen, bis es passt, oder guck' ich mir halt den Fall an und entscheide dann, was äh wie stellt sich der Fall in seiner Strukturiertheit da und welche Theorien passen.“ Im Fall Ulrich ist die Entscheidung für das Studium der Sozialpädagogik Teil des Lösungsprozesses einer biografischen Verstrickung mit der Herkunftsfamilie. Aus- gehend von einem antirassitischem Engagement und einer gesellschaftskritischen 223 Grundhaltung werden Fragestellungen wie die des gesellschaftlichen Wandels und der Konsequenzen für den Einzelnen, die Ulrich bewegen im Studium in ein theoretisches Bezugssystem gehoben (z.B. Anomietheorie). Eine ebenso gute Passung findet Ulrich in den angebotenen qualitativen Methoden, die ihm ein Instrument zur Rekonstruktion sozialer Wirklichkeiten werden und aufsetzten auf sein Interesse, Personen und Milieus zu beobachten und zu verstehen. Die probatorische Aneignung sozialarbeiterischer Handlungsfelder grenzt Ulrich auf offene Jugendarbeit ein, Erfahrungen der Begleitung von Familien mit Behinderten bleiben in seiner Erzählung ohne Nachhall. Die Hingabe an das Studium und die Identifikation mit den erfahrenen Ausschnitten des Wissenschaftsbetriebes führen zur Modifikation der beruflich gesetzten Ziele, ein sozialwissenschaftliches Studium und das bisher wenig konkrete Fernziel einer Tätigkeit in Lehre und Forschung dominieren gegenüber dem bisherigen Entwurf der offenen Jugendarbeit. Am Besonderen der Fallstruktur von Ulrich, konkret am Wandel der Fernziele und Motivationen im Zivildienst, mehrfach auch im Studium, wird als typisches Strukturelement die unmittelbare Wechselwirkung zwischen lebens- bzw. studienweltlichen Einflüssen und dem Wandels beruflicher Ziele deutlich. Für beide Studenten gilt, dass die biografietypischen Strategien und Strukturen durch das transformatorische Potential von Lernprozessen, das a priori zu den latenenten Angeboten eines Studiums gehört, um eine gelungene Bildung des sozialpädagogischen Habitus erweitert werden. 224 8 Strukturtypik Der Vergleich zentraler Strukturelemente, der Fallstrukturhypothesen der vier Einzel- fallrekonstruktionen, nach den Kriterien des minimalen und maximalen Kontrasts, mündet in der Ausformulierung zweier Strukturtypen. Einzelfallinterpretationen und Kontrastierungen werden, dem Primat der Logik des abduktiven Schließens folgend, dem im Sinne von Charles Sanders Peirce induktive und deduktive Schlüsse vorausgehen, auf verallgemeinerbare Strukturen und eine Strukturtypik hin untersucht. In den Kontrastierungen bilden sich jene Strukurdifferenzen ab, deren Trennschärfe die Formulierung der Strukturtypen ermöglicht. 8.1 Strukturtyp 1: Scheitern der Habitusformation durch Verweigerung von Emergenz Dieser Typ gerät über biografische Verstrickungen, per Zufall oder fremdbestimmt, nicht-intentional zum Fach Sozialpädagogik. Eine intentionale Weichenstellung des Berufslebens gelingt nicht. Das Studium wird in einer reduktionistischen Weise betrieben, Scheuklappen schützen vor dem potentiellen Scheitern an den Abgründen einer zu weiten Teilen fremdgebliebenen Fachkultur. Im Fall „Claudia“ münden das Fehlen einer Prozessorientierung (die verfrühte Selbstsicht der Expertin) und die globale Fragestellung zum Eigentlichen des Faches als Hauptthema des Studiums in einer diffusen Suchbewegung. Die Entscheidung für eine subjektiv erfahrungsfundierte Studienausrichtung (Kinder- und Jugendarbeit, Freiwilliges Soziales Jahr, erwerbslose Jugendliche) soll die Verbindung der Person zur künftigen Praxis verstärken. Dieser Rückgriff auf biografisches Kapital, als Versuch Zukunftsoffenheit zu schließen, ist Ausdruck eines starken Bedürfnisses nach Struktur und Sicherheit. Die in dieser Selektion intendierte biografische Kontinuität festigt identitätsbildende Prozesse im Studium um den Preis fehlender habitusbezogener Bildungsprozesse auf den Ebenen der Aneignung neuer Handlungsfelder, von Theorie- und Methodenangeboten sowie einer selbstbezüglichen Reflexion zur Verknüpfung von Person, Theorie und probatorischer Praxis. Die Bearbeitung von Studienanforderungen und studienbegleitenden Krisen erfolgt im Rückgriff auf biografisch angelegte Strategien, diese bewährte Routinen (die gefühlsbasierte Entscheidung, das mechanistische Interventionskonzept) werden, geringfügig modifiziert und um Theoriefragmente erweitert, in einem Akt subjektiv- 225 latenter Sinngebung in den Stand sozialpädagogischer Handlungs- und Entscheidungs- kompetenz gehoben. Die partielle Verweigerung, in einem Prozess der Emergenz neue fach- und personenbezogene Lern- und Sinnstrukturen aufzubauen, mündet im Scheitern einer Habitusformation. 8.2 Strukurtyp 2: Krisenbearbeitung und Transformation biografie- typischer Strukturen Person und Biografie sind in einer guten Passung zum Studium, sozialpädagogische Vorerfahrungen, Kenntnisse aus dem familialen Milieu, Bedürfnissen und Interessen, die über Lehrinhalte weiterentwickelt werden können, wirken motivationsverstärkend. Das Krisenpotential dieser Lebensübergangssituation wird aktiv bearbeitet, mit der Aneignung des bisher Neuen und Fremden wird die Transformation biografietypischer Strukturen möglich, diese werden um die Bildung des sozialpädagogischen Habitus erweitert. Das Krisenpotential liegt im Wesentlichen in der Lebensübergangssituation begründet und nicht, wie beispielweise beim Typus des „Studiums als biografischer Transformationsprozess“ (Schweppe, 2006, S. 112-115, S. 116-126), in einer bio- grafischen Verstrickung mit Problematiken der Herkunftsfamilie. Zwar sind auch im Fall „Ulrich“ Verstrickungen mit der Herkunftsfamilie gegeben, so ist der erste Berufs- entwurf zum Hotelfachmann auf die gastronomische Tätigkeit der Eltern aufgestützt, doch die entscheidenden Schritte zur Lösung finden bereits in der Adoleszenz statt. Ulrichs politisches Engagement gegen Rassismus verdeutlicht ebenso, dass er bereits vor Studienbeginn autonome Selbst- und Weltbezüge entwickelt hat, wie seine biografischen Weichenstellungen, die Entscheidungen für Zivildienst, Fachoberschule Soziales und anschließende Immatrikulation. Dieser Typus studiert mit einem hohen Maß an Offenheit für neue Inhalte und verfolgt nach einer Phase der Orientierung theoretische Interessen, die mit eigenen ethischen Positionen konvergieren. Methoden-kenntnisse werden zur Möglichkeit, soziale Wirklichkeiten zu verstehen und zum Medium fallangemessener pädagogischer Intervention. Das Vorhandensein biografi-scher Ressourcen, die es ermöglichen Krisen zulassen zu können und das krisenhafte Potential in den jeweiligen lebensgeschichtlichen Ereignisfeldern zu bearbeiten, wird basal für Bildungsprozesse im Studium, die über den Erwerb reproduzierbarer Wissensbestände hinausweisen. 226 9.1 Auf der Strukturtypik basierende explorative Aussagen zum Vergleich der Studienmodelle des wissenschaftlich gebildeten Praktikers und des qualitative Methoden vermittelnden Studiengangs Tabelle 2 Modell des wissenschaftlichen Praktikers Modell rekonstruktiven Fallverstehens Strukturtyp 1 Strukturtyp 2 Fall Martin Fall Michaela Fall Claudia Fall Ulrich Die Habitusformation findet statt im Feld heteronomer Regelsysteme in der Ausdrucks- gestalt von Studienordnung und Bildungsangeboten sowie der autonomen Fallstruktur- gesetzlichkeit, des Besonderen und Typischen einer studentischen Praxis. Die autonome Bearbeitung des studienimmanenten Krisenpotentials mit biografietypischen Strukturen kann von den Studenten in der krisenhaften Entscheidung prinzipiell jeder Sequenzstelle in einen subjektiv-sinnhaften Bezug zu den Lehrinhalten gesetzt werden. Exemplarisch sei hier auf eine ehemalige Punkerin verwiesen, die ihre Diplomarbeit über die Geschichte der Sex Pistols schreibt, den Esoteriker, dessen zentrales Studienthema mit der Geschichte der Kabbala gesetzt ist und den Studenten Martin, der in einer Vermeidungsstrategie alles links und rechts der praktischen Jugendarbeit liegende ausblendet und mit diesem Praxisziel eine subjektive biografische Kontinuität konstruiert. Ein zentraler Aspekt der gelingenden Bearbeitung studienimmanenter Krisen und des Aufbau des sozialpädagogischen Habitus liegt in fachbezogenen Klärungsprozessen. Im Prozess der Rekonstruktion einer spezifischen Lebenspraxis werden subjektiv-latente Sinnstrukturen im Bezug zum Raum regel- und lebens- gesetzlicher Optionen gesetzt, in dem diese Lebenspraxis ihre Entscheidungen trifft. Der durch die Einsozialisation in ein hermeneutisches Fallverstehen eröffnete Bildungs- prozess vermittelt Lebensgesetzlichkeiten und eine entmystifizierte Haltung zur Theorie als einer „verwissenschaftlichten Rationalität“, Theorien werden zum Instrument fallrekonstruktiven Verstehens. „Für den Bildungsprozess, der in den Studiengängen des Erziehungs- und Sozialwesens eröffnet werden soll, ist entscheidend, dass durch die Vermittlung fallrekonstruktiv gewonnener Theorien, durch die Arbeit am Fallmaterial dieses kritische Reflexions- wissen entstehen kann. So lassen sich charakteristische Orientierungsspuren in der 227 Habitusformation der Studierenden legen, mit deren Hilfe es möglich wird, Fälle eigenständig zu rekonstruieren und Lebensgesetzlichkeiten verstehen zu lernen (Kraimer 2000, S. 48).“ Im Vergleich der Interpretationen deutet sich an, dass vermittelte fallrekonstruktive Kompetenzen diesem Prozess förderlich sind; so verharrt Claudia (Strukturtyp 1, Scheitern der Habitusformation durch Verweigerung von Emergenz) in der Suche nach der wahren und eigentlichen Theorie sozialer Arbeit, während der Studentin Michaela (Strukturtyp 2, Krisenbearbeitung und Transformation biografietypischer Strukturen) ihre fundierten theoretischen Kenntisse zu verfügbaren Wissensbeständen im Prozess des Fallverstehens werden. Im Fall Ulrich (Strukturtyp 2) führen die Bildungsprozesse im Studium zu einer Erweiterung des Planungshorizonts. Er entdeckt neue Stärken und plant, durch seine Studienerfahrungen erfolgsmotiviert, als Nahziel ein sozialwissen- schaftliches Aufbaustudium, mit dem er die Hoffnung eines Absprungs vom Praxisfeld der offenen Jugendarbeit in Forschung und Lehre verbindet. Dieser Prozess einer finalen Zielbildung wird gefördert durch das Lehrangebot zur qualitativen Sozialforschung, das ihm einen Einblick in die Forschungspraxis gewährt. Für den Strukturtyp 1 sind Defizite hinsichtlich der Kenntnis allgemeingültiger Lebens- gesetzlichkeiten, studienimmanenter habitusformierender Prozesse und eines Verständ- nisses des Verhältnisses von Theorie und Praxis rekonstruiert. Für Martin besteht kein sinnhafter Zusammenhang zwischen den Theorieangeboten und seinem Praxismodell der Kinder- und Jugendarbeit, für die Studentin Claudia sind die fachübergreifenden Theorieangeote des Studienmodells des wissenschaftlich gebildeten Praktikers krisen- induzierend, in der Gerichtetheit ihrer Krisenbearbeitung formuliert sie für sich jenes Thema, das sich aus der Vermittlungspraxis dieses Studienmodells fast zwangsläufig ergibt: „Was ist denn nun das genuin sozialpädagogische, die übergeordnete Theorie?“ Eine Krisenlösung könnte eine mehrsemestrige Einsozialisation in ein struktur- analytisches Fallverstehen bieten, das ihr zwar nicht die gesuchte fundamentale Theorie liefert, aber den methodischen Rahmen, in dem Theorien im Prozess des Fallverstehens fruchtbar gemacht werden können. 228 9.2 Resümee Mit dem Begriff der Fallstrukturgesetzlichkeit charakterisiert Oevermann die inneren Gesetze der Transformation und Reproduktion von Fallstrukturen, in denen das durch Sprache und Kultur erzeugte Strukturpotential von Autonomie und Subjektivität zur Geltung kommt.71 Der studienimmanente Anspruch eines habitusbildenden Lern- prozesses, bei dem in einem Akt der Geltungsüberprüfung und Transformation die bisherigen biografietypischen Strukturen, wie auch die Selbst-, Fach- und Weltsicht erweitert werden können, bildet die heteronome Gesetzlichkeit, zu der jede studentische Praxis latent mit ihrer Fallstrukturgesetzlichkeit Stellung bezieht. An dieser Schnittstelle wird eine signifikante Differenz der beiden formulierten Strukturtypen deutlich: Die subjektive, autonome Bearbeitung der Krisen, die durch die Lebensübergangssituation und die Studienanforderungen induziert sind, erfolgt mit biografietypischen Strategien. Beim Strukturtyp 1, „Scheitern der Habitusformation durch Verweigerung von Emer- genz“, wird in den ersten Semestern eine auf ein, maximal zwei sozialpädagogische Handlungsfelder gerichtete Berufskonzeption ausgeformt. Neue Inhalte, die sich nicht widerspruchsfrei in dieses Konzept integrieren lassen, werden abgewehrt. In der autobiografischen Stegreiferzählung werden Habituselemente wie Deutungskompetenz und hermeneutisches Fallverstehen weder direkt noch mittelbar angesprochen, vielmehr werden Bedürfnisse nach einem heteronom vorstrukturierten Studium und der Vermittlung von Handlungsanleitungen für die antizipatorisch entworfenen Praxis artikuliert. Das Strukturpotential, das in dieser krisenhaften Übergangssituation angesprochen wird mit dem Anspruch, Routinen zu überschreiten, in einem Prozess der Emergenz neue perzeptions- und handlungsleitende Sinnstrukturen zu generieren, bleibt gerichtet auf biografisch bewährte Bearbeitungsstrategien. Als subjektive latente Sinnstruktur wird das antizipierte Modell sozialer Arbeit an biografisch verfügbare Routinen angepasst (Fall Martin) - wenn keine neuen Sinn- und Handlungsstrukturen gefordert sind, gibt es auch keine Krisen. Ulrike Nagel charakterisiert professionelles Engagement als intuitive Hinwendung des Selbst zum professionellen Hilfehandeln.72 Dieses leitende Motiv einer Hinwendung zum Zentralen der Sozialpädagogik richtet Claudia in ihrer studienbegleitenden Fragestellung nach dem Eigentlichen sozialer Praxis an die Theorieangebote, ihre Suche einer Struktur in Gestalt einer umfassenden 71 vgl. Oevermann 2000, S. 119 f. 72 vgl. Nagel 1997, S. 226 229 Theorie sozialer Arbeit, als Schließung der Offenheit der Fachkultur, bleibt ergebnislos. In der Unmittelbarkeit der Krise, als einer der Schließung bedürfenden Offenheit von Zukunft, ist, als eine autonome Gesetzlichkeit der je spezifischen Lebenspraxis, deren Strukturpotential gefordert. Für die Fallstrukturgesetzlichkeit des Strukturtyps 2, „Krisenbearbeitung und Transformation biografietypischer Strukturen“, ist ein hohes Potential, in einem Prozess der Emergenz Krisen durch neue Handlungs- und Sinnstrukturen zu lösen, signifikant. Die gelingende Habitusformation vollzieht sich dort, wo diese emergenten Strukturen in die Vermitteltheit einer professionalisierten Routine überführt werden. 230 10 Literatur Ackermann, Friedhelm/ Seeck, Dietmar/ Winter, Axel/ Owczarski, Silke/Mühlenstedt, Jan: Der steinige Weg zur Fachlichkeit. 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Eine explorative Studie zur Strukturtypik studentischer Professionalisierungsprozesse Die qualitativ-empirische Studie untersucht die als studentischen und pädagogischen Habitus bezeichnete pädagogische Professionalisierung im Studium. Das zugrunde gelegte strukturtheoretische Modell einer professionalisierten sozialpädagogischen Praxis ist eine widersprüchliche Einheit von Theorie- und Fallverstehen. Schütze (1996) analysiert das im Kern paradoxale Verhältnis zwischen Professionellen und Klientel, die widersprüchliche Handlungslogik der Profession und die Konsequenzen ihrer herrschaftlicher Kontexte. In Oevermanns Skizze einer revidierten Theorie professionalisierten Handelns (1996) werden wissenschaftliches Verstehen und hermeneutisches Fallverstehen zur Grundlage des professionalisierten Handelns. Von besonderer Bedeutung ist Oevermanns Konzeption der stellvertretenden Deutung, der Deutung des latenten Sinns einer Interaktion, einer Handlung, einer latenten Sinnstrukur. Aus objektiv-hermeneutischer Sicht sind die Handlungsspielräume einer je konkreten Lebenspraxis durch Regeln gesetzt, bereits die Welt sozialer Regeln bestimmt Möglichkeiten und Folgen einer Handlung, nicht erst die Lebenspraxis. Die Kontrastierung von vier Fallrekonstruktionen mündet in der Formulierung zweier Strukturtypen. Beim Strukturtyp 1, „Scheitern der Habitusformation durch Verweigerung von Emergenz“, wird eine auf ein, maximal zwei sozialpädagogische Handlungsfelder gerichtete Berufskonzeption ausgeformt. Neue Inhalte, die sich nicht widerspruchsfrei in dieses minimalistische Konzept sozialer Praxis integrieren lassen, werden abgewehrt. Das Strukturpotential, das in dieser krisenhaften Übergangssituation angesprochen wird mit dem Anspruch, neue perzeptions- und handlungsleitende Sinnstrukturen zu bilden, stagniert in biografisch bewährten Bearbeitungsstrategien. Für die Fallstrukturgesetzlichkeit des Strukturtyps 2, „Krisenbearbeitung und Transformation biografietypischer Strukturen“, ist ein hohes Potential, in einem Prozess der Emergenz Krisen durch neue Handlungs- und Sinnstrukturen zu lösen, signifikant. Die gelingende Habitusformation vollzieht sich dort, wo diese emergenten Strukturen in die Vermitteltheit einer professionalisierten Routine überführt werden. Die Rückbindung der Strukturtypen an die Studienmodelle des „wissenschaftlich gebildeten Praktikers“ und des fallrekonstruktiven Modells fundiert die These, dass der durch die Einsozialisation in ein hermeneutisches Fallverstehen eröffnete Bildungsprozess vertiefte Kenntnisse um Lebensgesetzlichkeiten, Regelkenntnisse und eine entmystifizierte Haltung zur Theorie als einer „verwissenschaftlichten Rationalität“ vermittelt.