SCHRIFTEN DER HOCHSCHULE FÜR MUSIK MAINZ Band 1 Immanuel O / Birger Petersen (Hg.) ».. weit schärfer und gründlicher nachgedacht .. « Zur Musiktheorie Johann Philipp Kirnbergers Schriften der Hochschule für Musik Mainz Herausgegeben von Valerie Krupp Immanuel Ott Birger Petersen Band 1 »... weit schärfer und gründlicher nachgedacht ... « Zur Musiktheorie Johann Philipp Kirnbergers Herausgegeben von Immanuel Ott und Birger Petersen Mainz 2023 Patrick Boenke Kirnbergers Überlegungen zur musikalischen Form http://doi.org/10.25358/openscience-8743 https://openscience.ub.uni-mainz.de/handle/20.500.12030/8759 Dieser Text erscheint im Open Access unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz. Patrick Boenke Kirnbergers Überlegungen zur musikalischen Form Dass eine musikalische Satzlehre, die »den Weg von der Harmonie zur Melodie«1 wei- sen möchte, Fragen der formalen Gestaltung nicht selbstverständlich ins Zentrum ih- rer Abhandlung rückt, dürfte kaum verwundern. Die Schriften Johann Philipp Kirnbergers legen denn auch den Schwerpunkt auf das Gebiet der Generalbass- und Harmonielehre. Äußerungen zur musikalischen Form fallen an verschiedenen Orten in unterschiedlichen Zusammenhängen, bleiben jedoch als nachgeordnete Gedanken stets an Kirnbergers didaktisches Hauptanliegen, die Einführung in den ›reinen‹ Satz als harmonische Grundlage der Komposition, geknüpft. Ziel des vorliegenden Beitrags ist es, die verstreuten Äußerungen Kirnbergers zur musikalischen Form zusammen- zutragen und – soweit es möglich erscheint – zu einem Gesamtbild zusammenzufü- gen.2 Die Accorde sind in der Musik das, was die Wörter in der Sprache: wie aus etlichen zusammenhangenden und einen völligen Sinn ausdruckenden Wörtern ein Satz in der Rede entsteht, so entsteht in der Musik ein harmonischer Satz, oder eine Periode aus einigen verbundenen Accorden, die sich mit einem Schluß endigen. Und wie viel mit einander verbundene Sätze eine ganze Rede ausmachen, so besteht ein Tonstück aus viel verbundenen Perioden.3 Mit diesem Absatz eröffnet Kirnberger den sechsten Abschnitt »Von den harmoni- schen Perioden und den Cadenzen« des ersten Teils seines Hauptwerks Die Kunst des reinen Satzes in der Musik und umreißt mit Rekurs auf eine rhetorische Begriffstradi- tion eine harmonisch fundierte und hierarchisch gestufte Vorstellung von musikali- scher Form. Ausgehend von einer mittleren Gliederungsebene, der Abteilung harmonischer ›Sätze‹ oder ›Perioden‹ durch musikalische Endigungsformeln, wird die formale Gestaltung eines Tonstücks sowohl im Kleinen entlang der Verbindung einzelner Akkorde zu einer Periode wie auch im Großen anhand des 1 Johann Philipp Kirnberger, Die Kunst des reinen Satzes in der Musik, 1. Teil, (Berlin 1771) Berlin und Königsberg 1774, Danksagung, o. S. 2 Vor allem der erste Teil (Berlin 1771) sowie die erste Abteilung des zweiten Teils (Berlin und Kö- nigsberg 1776) von Kirnbergers Opus magnum Die Kunst des reinen Satzes in der Musik widmen sich in längeren Passagen Fragen der Gestaltung musikalischer Form. Wichtige Ergänzungen liefern ein- schlägige Artikel in Johann Georg Sulzers Allgemeine Theorie der schönen Künste (zwei Teile, Leipzig 1771 und 1774), für die Kirnberger sämtliche auf musikalische Begriffe bezogenen Artikel bis S bei- steuerte und darüber hinaus auch für die übrigen Einträge beratend tätig blieb. 3 Kirnberger, Kunst des reinen Satzes (wie Anm. 1), 1. Teil, S. 91. 163 Zusammenschlusses von Perioden zum Satzganzen in den Blick genommen.4 Diese drei Gliederungsebenen behandelt Kirnberger im Rahmen einer Kadenzlehre, einer harmonisch fundierten Rhythmustheorie sowie einer differenzierten Tonarten- und Modulationslehre, d. h. im Zusammenhang zentraler Säulen seiner Musiktheorie. Formen des harmonischen und melodischen Schließens Eine ›Rede‹ setzt sich nach Kirnberger aus »mancherley Gliedern«5 zusammen, die zum einen begrifflich durch Zusammenschluss der Worte zu mehr oder weniger voll- ständigen Sinneinheiten und zum anderen sprachmelodisch (im Vortrag) durch Ab- senken der Stimme bzw. ein längeres oder kürzeres Verweilen auf Schlusssilben entstehen. Übertragen auf die ›Sprache‹ der Musik, entspricht der formbildenden »Ordnung der Begriffe« eine harmonische »Ordnung der Accorde« und dem sprach- melodischen Stimmschluss eine »Ordnung der einzeln Töne der Melodie«.6 Die har- monische Ordnung der Akkorde erachtet Kirnberger als essenziell, die melodische Ordnung der Töne dagegen der harmonischen als unterstellt.7 Harmonische und me- lodische Satzzeichen können unabhängig voneinander gesetzt werden, bedürfen je- doch für eine starke Gliederungswirkung ihrer Koordination. Als »die vollkommenste Art des Schlusses« erachtet Kirnberger die »Finalcadenz« (oder den »Hauptschluß«), harmonisch artikuliert durch Auflösung des Septakkords der fünften Stufe in den Dreiklang der ersten (siehe Beispiel a in Abbildung 1).8 4 Markus Waldura wies auf Kirnbergers inkonsistenten, bisweilen sogar verwirrenden Begriffsge- brauch hin. Nicht nur schwankt die Anzahl an unterschiedenen syntaktischen Ebenen, häufig bleiben auch die Beziehungen und Verhältnisse zwischen Formgliedern wie ›Hauptteil‹, ›Periode‹, ›Ab- schnitt‹ oder ›Einschnitt‹ ungeklärt, zumal sich diese Begriffe für Kirnberger auf musikalische Sinneinheiten von sehr verschiedener Länge beziehen konnten. Erschwerend kommt hinzu, dass Kirnberger in seiner Adaption der Kadenz- und Formbegriffe Ideen der deutschen und französischen Theorietradition (vor allem Marpurg und Rameau) miteinander verwob – siehe dazu eingehend Wal- dura, Von Rameau und Riepel zu Koch. Zum Zusammenhang zwischen theoretischem Ansatz, Kadenz- lehre und Periodenbegriff in der Musiktheorie des 18. Jahrhunderts (= Musikwissenschaftliche Publikationen 21, hg. von Herbert Schneider), Hildesheim 2002, S. 550–567, sowie zusammenfassend ders., »Musical Rhetoric and the Modern Concept of Musical Period – A New Perspective on 18th Century German Theories of Musical Periodicity. Part two: The Theories of Kirnberger and Koch«, in: Theoria. Historical Aspects of Music Theory 14 (2007), S. 125–147, hier: S. 126f. Mit gewisser Nach- sicht und unter Berücksichtigung wichtiger Ergänzungen im zweiten Teil der Kunst des reinen Satzes kann einstweilen von einer Gliederung in vier Ebenen gesprochen werden: Die ›Hauptteile‹ eines Tonstücks fügen sich aus ›Perioden‹ oder ›Abschnitten‹ zusammen, die sich ihrerseits in ›Einschnitte‹ und diese wiederum in ›kleinere Glieder‹ unterteilen. 5 Kirnberger, Art. »Cadenz«, in: Sulzer, Allgemeine Theorie (wie Anm. 2), 1. Teil, S. 182–188, hier: S. 182. 6 Ebd., S. 183. 7 Ebd. 8 Kirnberger, Kunst des reinen Satzes (wie Anm. 1), 1. Teil, S. 94. 164 Abbildung 1: Vollkommene und unvollkommene Schlussformen.9 In dieser wichtigsten Schlussform werden beide ›Grundakkorde‹ der Musik – der kon- sonante Dreiklang sowie der dissonante Septakkord – in Form eines charakteristi- schen Spannungsgefälles kombiniert. Anstoß zur Akkordfortschreitung gibt die Akkordseptime des Oberdominantklangs als ›wesentliche‹ Dissonanz.10 Ihre Auflö- sung erfolgt mit Quintfall im Fundament in den konsonanten Dreiklang, der allein un- ter allen möglichen Folgeklängen einen völligen ›Ruhepunkt‹ zu setzen vermag.11 Über den harmonischen Vorgang hinaus bedarf es für eine befriedigende Schlusswir- kung auch melodischer Zäsuren. Im besten Fall wird jede Stimme eine melodische Klausel ergreifen, ihren Zielton im Niederschlag des Takts erreichen und abschlie- ßend länger auf ihm verweilen.12 Weniger schlusskräftig, aber immer noch zu den vollkommenen Schlüssen zählend, stellt Kirnberger der Finalkadenz den Plagalschluss (im Kontext von Moll obligatorisch zu einem Dur-Dreiklang führend) an die Seite (siehe Beispiel b in Abbildung 1). Ergänzt und bereichert wird das Repertoire an harmonischen Satzzeichen durch Halb- und Trugschluss als unvollkommene Endi- gungsformen (siehe Beispiele c und d in Abbildung 1). Ein neues Moment der Kirnbergerschen Satzlehre besteht für Oliver Wiener darin, »die zuvor in der deutschen Musiktheorie (z. B. bei Marpurg) klassifikatorisch 9 Ebd., S. 94–96 und 98. Harmonische Sachverhalte demonstriert Kirnberger nicht selten nur durch Angabe einer Generalbassstimme. 10 ›Wesentliche‹ (Sept-)Dissonanzen sind »den consonirenden Intervallen beygefüget« und lösen sich notwendigerweise mit Wechsel im Bassfundament auf. ›Zufällige‹ Dissonanzen dagegen halten einen Ton vor, »an dessen Stelle sie stehen« und in den sie sich über beibehaltenem Bassfundament auflö- sen können (Kirnberger, Die wahren Grundsätze zum Gebrauch der Harmonie, Berlin und Königsberg 1773, S. 12). Welche Form von Dissonanz vorliegt, lässt sich häufig erst im übergreifenden harmoni- schen Zusammenhang erschließen. Denkbar wäre etwa der Fall, dass eine ›zufällige‹ Dissonanz so lange ausgehalten wird, so dass ihre Auflösung ebenfalls erst mit neuem Bassfundament erfolgt (siehe ebd., S. 17f.) 11 Kirnberger, Kunst des reinen Satzes (wie Anm. 1), 1. Teil, S. 93: »Die Ruhe oder das völlige End in einer Folge von Klängen, kann nicht anders, als durch die vollkommene Harmonie, durch das vollkommene Consoniren erhalten werden.« 12 Kirnberger, Art. »Cadenz« (wie Anm. 5), S. 186. 165 getrennt behandelten Akkordtypen nach einer qualitativen Stufung (von unvollkom- men zu vollkommen) zu ordnen und auf der Grundlage des basse fondamentale zu dynamisieren«.13 Dur-, Moll- und verminderter Dreiklang nehmen für Kirnberger in eben dieser Reihenfolge an klanglicher Vollkommenheit ab. Die unterschiedlichen Qualitäten der Septakkorde werden nach ihrer formalen Stellung in der Kadenz be- messen. Der vollkommenste unter den dissonanten Septakkorden ist der Domi- nantseptakkord, da er natürlicherweise mit Quintfall im Bassfundament zum konsonanten Dreiklang der Tonika führt (siehe Abbildung 2 unter a). Weniger voll- kommen dagegen ist der Moll-Septakkord, der nur über den Zwischenschritt der Auf- lösung in den Dominantseptakkord zu einem befriedigenden Ruhepunkt geführt werden kann (siehe b). Die Übertragung der Verhältnisse auf Moll führt zum graduell weiter abgestuften halbverminderten Septakkord‹ (siehe c). Der Dur-Dreiklang mit hinzugefügter großer Septime ist schließlich unter allen Septakkorden der am we- nigsten vollkommene, da es ganzer drei Quintfälle im Bassfundament bedarf, um ihn in den konsonanten Dreiklang zu überführen (siehe d).14 Der verminderte Septakkord schließlich als fünfte mögliche Vierklangsform bleibt in dieser Betrachtung ausge- klammert, da Kirnberger ihn nicht als selbstständigen Grundakkord anerkennt, son- dern seine vermeintlich ›wesentliche‹ Akkordseptime als ›zufällige‹ Nonendissonanz bezogen auf ein verschwiegenes Bassfundament erklärt.15 Abbildung 2: Septakkorde und ihre formale Stellung in der Kadenz. Die ›Verwechslungen‹ oder Umkehrungen der Grundakkorde weisen ihrerseits unter- schiedliche Spannungen auf. Ausgehend von der Grundstellung eines Septakkordes – ähnliches gilt auch für den einfachen Dreiklang – nimmt der Grad an klanglicher Voll- kommenheit im Quintsext-, Terzquart- und Sekundakkord schrittweise ab. Werden Umkehrungen der Akkorde in die bekannten Schlussformen einbezogen, nimmt dem- entsprechend auch die erzielte Ruhewirkung bzw. Schlusskraft ab (siehe Abbildung 3).16 Abbildung 3: Qualitative Abstufungen der Kadenz. 13 Oliver Wiener, Art. »Johann Philipp Kirnberger. Die Kunst des reinen Satzes in der Musik«, in: Lexikon Schriften über Musik, Bd. 1, hg. von Ullrich Scheideler und Felix Wörner, Kassel 2017, S. 258–260, hier: S. 259. 14 Kirnberger, Die wahren Grundsätze (wie Anm. 10), S. 6, Fußnote 1. 15 Ebd., S. 18f. 16 Ebd., S. 7, Fußnote 2. 166 Durch derlei Möglichkeiten der Modifikation und graduellen Abstufung aller Schluss- formen, »wodurch das Gefühl der Ruhe, die sie verschaffen mehr oder weniger ge- schwächt wird«,17 entsteht ein umfangreiches Repertoire an (harmonischen) Satzzeichen, aus dem für die formale Gliederung eines Tonstücks geschöpft werden kann. So wie »in der Rede ein Hauptabschnitt aus kleinern Einschnitten, Abschnitten und Perioden besteht, welche man durch verschiedene Zeichen, als das Comma (,) das halbe Colon (;) das Colon (:) und den Punkt (.) andeutet; so kann auch der harmonische Hauptabschnitt aus mehrern Einschnitten[,] Abschnitten und Perioden bestehen«.18 Im Allgemeinen werden dabei Hauptteile mit vollkommenen Kadenzen abgeschlos- sen. Halb- und Trugschluss dagegen, die selbst »keine völlige Ruhe« herzustellen ver- mögen, bieten sich an, »[Haupt-]Theile in Perioden zu theilen«.19 Harmonische ›Sätze‹ oder ›Perioden‹ Die harmonischen ›Sätze‹ oder ›Perioden‹ eines Tonstücks bestehen nach Kirnberger »aus verbundenen, oder einen natürlichen Zusammenhang habenden Accorden […], die sich mit einem Schluß endigen«.20 Die Akkorde sollen für das Ohr nachvollziehbar aus einer Tonart entstammen und ganz besonders dann, wenn sie sich zur ersten Pe- riode eines Stücks formieren. Neben dieser allgemeinen Verbindung durch das Band der Tonart sollen die Akkorde auch »nähere Verbindung« eingehen.21 »[J]e besser die [Grund-]Töne mit einander harmoniren«,22 desto enger besteht ein harmonischer Konnex. Am leichtesten gestaltet sich folglich die Akkordverbindung, wenn die Grundtöne im Quint-, Quart- oder Terzabstand aufeinander folgen.23 Das Problem, dass inmitten einer Periode vollkommene Dreiklänge in Grundstellung einen verfrüh- ten Eindruck von Ruhe erwecken, kann vor allem auf zwei Wegen umgangen werden, einerseits durch reichlichen Gebrauch der instabileren Akkordumkehrungen und an- dererseits durch lineares Verknüpfen der Zusammenklänge mittels Vorhalten, d. h. ›zufälligen‹ Dissonanzen.24 Der Zusammenschluss der Akkorde zu einer Periode wäre schließlich dann geglückt, wenn »das Gehör in beständiger Erwartung einer vollkom- menern Harmonie erhalten wird, die doch nicht eher, als am Ende der ganzen Periode erfolget«.25 17 Kirnberger, Kunst des reinen Satzes (wie Anm. 1), 1. Teil, S. 98. 18 Ebd., S. 96 (Kursivsetzungen im Original). 19 Ebd., S. 98. 20 Ebd., S. 91. 21 Ebd., S. 92. 22 Ebd. 23 Ebd. 24 Ebd., S. 93. 25 Ebd. 167 Seine Ausführungen zur Kadenz- und Periodenbildung illustriert Kirnberger mit vier harmonischen Sätzen von sieben bzw. acht Takten Umfang. Das vierte dieser Bei- spiele (siehe Abbildung 4) präsentiert Kirnberger in zwei Ausarbeitungsstufen.26 Abbildung 4: Beispiele einer achttaktigen Periode. Die rein diatonische Fassung schöpft, mit Ausnahme nur des verminderten Drei- klangs der siebten Stufe, aus dem gesamten Vorrat an diatonischen Stufenakkorden der zugrunde liegenden Tonart C-Dur. Mit Ausnahme des Takts 4 (siehe dort die Bass- töne g und c) wird ein verfrühter Halt der Bewegung durch Vorhalte bzw. Wahl von Umkehrungsakkorden vermieden. Strukturell basiert die Periode auf einem nahezu vollständigen Quintfall durch die Tonart C-Dur, beginnend mit dem e-Moll-Sextak- kord in Takt 1 und endend mit dem F-Dur-Dreiklang in Takt 5. Zwar haben die Fun- damentschritte D–G (Takt 3 und 4) und G–C (Takt 4) vollkommen konsonierende Dreiklänge zum Ziel, allerdings wird G-Dur in Takt 4 ohne Leittonauflösung von einem d-Moll-Septakkord aus erreicht. Und C-Dur in Takt 4 steht auf metrisch leichterer zweiter Takthälfte und wird obendrein von seiner Oberdominante aus erreicht, der gerade nicht ihre wesentliche Akkordseptime beigegeben wurde. Allein die letzte Ak- kordfortschreitung erfüllt alle Maßgaben eines förmlichen ›Hauptschlusses‹ bzw. ei- ner ›Finalkadenz‹. Die alternative Fassung bezieht chromatische Durchgangstöne und Zwischendomi- nanten ein, ohne dass, wie Kirnberger bemerkt, der tonartliche Rahmen von C-Dur in Frage gestellt wird.27 In Folge der chromatischen Bereicherung erscheint jetzt die Kette an Quintfällen mit einem Halt auf dem G-Dur-Dreiklang in Takt 4 untergliedert. In der korrespondierenden Anordnung von Halb- und Ganzschluss und der symmet- rischen Teilung von acht Takten in zwei viertaktige Hälften deutet sich damit bereits ein syntaktisches Grundmuster der Formtheorie im 19. Jahrhundert an: der achttak- tigen Periode. 26 Ebd., S. 102. 27 Ebd. David Beach misst Kirnbergers beiläufiger Bemerkung größeres Gewicht bei, zeige sich doch, dass Kirnberger zwischen einer Modulation und einer »practice of stressing harmonies through their dominants within a single key« deutlich unterscheidet (David Beach, The Harmonic Theories of Jo- hann Philipp Kirnberger; Their Origins and Influences, Dissertation Yale University 1974, S. 110f., Fuß- note 10). 168 ›Rhythmus‹ Wer Perioden längeren Umfangs entwerfen wollte, hätte unausweichlich auch für de- ren Unterteilung in kleinere Teile zu sorgen. Im zweiten Teil von Die Kunst des reinen Satzes in der Musik verhandelt Kirnberger diesbezügliche Fragen der Unterteilung von Perioden unter dem Begriff von ›Rhythmus‹. Dabei unterscheidet er im Vorfeld zwei unterschiedliche Bedeutungen des Wortes, ›Rhythmus‹ zum einen als »rhythmi- sche Beschaffenheit« eines Stücks im Sinne der Wahl von rhythmischen Werten, Takt und Metrum,28 ›Rhythmus‹ zum anderen »as a structural force that organizes the phrases, periods and sections that go to make up the form of a complete composi- tion«.29 ›Rhythmus‹ in letztgenannter Bedeutung schreibt Kirnberger eine große Ähn- lichkeit zur metrischen Gliederung in gebundener Sprache zu. Den ›Einschnitten‹ der Melodie entsprechen die ›Verse‹ in der Dichtkunst, den größeren ›Abschnitten‹ oder ›Perioden‹ die aus Versen zusammengesetzten ›Strophen‹.30 Die größeren ›Ab- schnitte‹ oder ›Perioden‹, d. h. Sätze, in denen sich mehr oder weniger ein musikali- scher Sinn erfüllt, werden mit einem »förmlichen Schluß« beendigt, die kleineren und für sich unvollständigen ›Einschnitte‹ oder ›Rhythmen‹ dagegen nur mit einem »me- lodischen Abfall« (bzw. einer Klausel) oder einer (mehr oder weniger) »befriedigen- den Harmonie«.31 Insbesondere im freien Entwurf eines Tonstücks, d. h. ohne Bindung an einen Text oder anderweitige rhythmische Vorgaben (man denke an die Tanzmusik), sind einige Maßgaben die Dimensionierung und Proportionierung der Formglieder betreffend zu respektieren: ›Perioden‹ oder ›Abschnitte‹ sollen nicht weniger als sechs bis acht Takte und längs- tens 32 Takte umfassen.32 Zu lange Abschnitte liefen Gefahr, nicht mehr als »ein ein- ziges Ganzes« wahrgenommen zu werden.33 Zu kurze Abschnitte dagegen verwehrten dem Ohr ausreichende Zeit zum Verweilen und versetzten es zum Nachteil »alle Au- genblicke gleichsam in eine neue Spannung«.34 Insbesondere zu Beginn eines 28 Kirnberger, Kunst des reinen Satzes (wie Anm. 2), 2. Teil, 1. Abteilung, S. 137, Fußnote 8. 29 Putnam Aldrich, »›Rhythmic Harmony‹ as Taught by Johann Philipp Kirnberger«, in: Studies in Eigh- teenth-Century Music. A Tribute to Karl Geiringer on His Seventieth Birthday, hg. von H. C. Robbins Landon in Zusammenarbeit mit Roger E. Chapman, London 1970, S. 37–52, hier: S. 38. 30 Kirnberger, Kunst des reinen Satzes (wie Anm. 2), 2. Teil, 1. Abteilung, S. 137. 31 Ebd., S. 138. Siehe dazu auch den wenige Seiten später folgenden wichtigen Passus (ebd., S. 142): »Jeder Abschnitt [bzw. jede Periode] bestehet gemeiniglich aus einer größern oder kleinern Anzahl Einschnitte, die durch kleinere Ruhepunkte, als die Schlüße geben, von einander, zwar nicht abge- schnitten oder getrennt, aber doch etwas abgesondert sind. Diese kleinen Ruhepunkte werden in der Melodie entweder durch melodische Clauseln, oder durch Pausen, in der Harmonie aber durch beru- higende Accorde, besonders durch Dominanten-Accorde, bewürkt: wenigstens muß allemal da, wo der kleine Ruhepunkt seyn soll, ein neuer consonirender Accord gehört werden. Man kann auch Schluß-Accorde dazu brauchen, aber sie müssen durch Verwechslungen oder durch Dissonanzen ge- schwächt werden, damit die Ruhe nicht zu merklich sey und das Gehör in naher Erwartung des fol- genden unterhalten werde.« 32 Ebd., S. 141. 33 Ebd. 34 Ebd. 169 Tonstücks dürfe der erste Abschnitt nicht zu kurz geraten, da ihm die besondere Auf- gabe der Festsetzung der Haupttonart zukomme35 und damit verbunden auch der Einstimmung auf den Hauptaffekt. Aus Gründen der »Einheit der Melodie« sollten alle Abschnitte auf gleicher Taktzählzeit beginnen.36 Die Anzahl von Takten eines Ab- schnitts sollte bestenfalls durch 4 teilbar sein. Eine Teilbarkeit durch 3 wäre tolerier- bar. Zumindest aber sollten alle Abschnitte von geradtaktiger Länge sein. Asymmetrien bzw. Abweichungen vom geradtaktigen Längenmaß können aus der Verschränkung von Abschnitten im Sinne einer ›Takterstickung‹ hervorgehen.37 ›Einschnitte‹, d. h. die kleineren Unterteilungen der ›Abschnitte‹, können ebenso un- terschiedlich lang sein (ein Takt bis fünf Takte und mehr). Längere ›Einschnitte‹ von vier oder mehr Takten unterteilen sich »gemeiniglich in zwey, oder noch mehr klei- nere Glieder […], die durch ganz kleine Ruhepunkte« fühlbar werden.38 Es sollten glei- che Längen der Einschnitte und damit ein gleichmäßiger Phrasenrhythmus angestrebt werden. Abweichungen von der Norm sind allerdings »eines besondern Ausdrucks halber« möglich.39 ›Kleinere Glieder‹ können angehängt oder eingescho- ben werden, ohne dass sie »das Abzählen der übrigen gleich langen Einschnitte« un- terbrechen, d. h. die Wahrnehmung eines ansonsten gleichmäßigen Phrasenrhythmus stören.40 Ein irregulärer Einschnitt von fünf Takten Länge kann durch Dehnung eines Takts aus einem regulären Viertakter hervorgehen (siehe Abbildung 5).41 Längere Einschnitte mit ungerader Anzahl von Takten müssen allerdings durch »schickliche Cäsuren in kleinere Glieder eingetheilt« und dadurch dem Ohr »faßlich« gemacht werden.42 Anfang und Ende der Einschnitte sind an keine Taktposition gebunden, ins- besondere können kleinere Ruhepunkte wie auch Zäsuren zur Trennung der kleine- ren Glieder auf beliebige Taktzählzeiten fallen.43 Abbildung 5: Erweiterung eines Viertakters durch Dehnung. Die »besten Melodien«, so Kirnbergers Rat, wären »allemal die, deren Einschnitte vier Tackte haben«44 und deren kleinere Teile sich paar- oder gruppenweise zu 35 Ebd. 36 Ebd., S. 140. 37 Ebd., S. 141. 38 Ebd., S. 142. 39 Ebd. 40 Ebd., S. 143. 41 Ebd., S. 145f. 42 Ebd., S. 146. 43 Ebd., S. 147f. 44 Ebd., S. 143. 170 Viertaktern zusammenschließen. Das hier angedachte Ideal rhythmischen Gleichma- ßes und symmetrischer Entsprechung – grundlegende Aspekte eines modernen und für das 19. Jahrhundert kennzeichnenden Periodenbegriffs – exemplifiziert Kirnber- ger an folgender Melodie: 45 Abbildung 6: Gliederung einer achttaktigen Melodie. Der achttaktige ›Abschnitt‹ unterteilt sich in zwei viertaktige ›Einschnitte‹ oder ›Rhythmen‹, deren Enden mit harmonischen Satzzeichen (schwächerer Ganzschluss in Takt 4 und gewichtiger Halbschluss in Takt 8) kenntlich gemacht sind. Der zweite Einschnitt unterteilt sich in drei ›kleinere Glieder‹ von einem Takt bzw. zwei Takten Länge, die sich paarweise zu geradtaktigen Phrasen (1+1=2 Takte bzw. 2+2=4 Takte) ergänzen. Die Abgrenzung der kleineren Teile erfolgt vor allem mit melodischen Zä- suren. Der Zusammenschluss der beiden kleinsten Glieder wird durch Bezugnahmen im Motivischen gestärkt (Takt 6 ist eine Sequenz des Takts 5). Dass der erste Ein- schnitt im Niederschlag eröffnet wird, die Fortsetzung hingegen mit Auftakt erfolgt, wird an anderer Stelle ausdrücklich von Kirnberger als Möglichkeit gebilligt.46 Der Abschnitt im Ganzen wäre leicht vorstellbar als Vordersatz einer sechzehntaktigen Periode und diese wiederum als ein erster ›Hauptteil‹ eines Tonstücks, womit sämt- liche Gliederungsebenen, die Kirnbergers rhetorische Formbegriffe zu fassen versu- chen, an einem Beispiel berührt wären. Richtet Kirnberger im ›Rhythmus‹-Kapitel der Kunst des reinen Satzes sein Augen- merk hauptsächlich auf melodische Aspekte der Phrasenbildung, so war er bereits an früherer Stelle im Zusammenhang der Harmonisierung einer Choralmelodie auf den harmonischen Aspekt formaler ›Einschnitte‹ eingegangen. Zur Demonstration der mannigfaltigen Möglichkeiten, einer gegebenen Melodie mit harmonischen Mitteln ›Ausdruck‹ und ›Affekt‹ zu verleihen, hatte Kirnberger insgesamt 26 bezifferte Gene- ralbässe zu den ersten drei Zeilen des Chorals »Ach Gott und Herr« erfunden.47 Die verschiedenen Harmonisierungen, von schlichter Dreiklangsharmonik und homo- phoner Setzweise bis hin zu weitgehender Chromatisierung und polyphoner Satz- struktur reichend, differenzieren die melodischen Klauseln an den Zeilenschlüssen zu ›kleineren Ruhepunkten‹ von je verschiedenem Gewicht aus. Da es Kirnberger an die- ser Stelle nicht um die Frage geht, welche Harmonisierung »sich am vollkommensten 45 Ebd., S. 144. Die Klammerung der Formglieder ist nicht original und deckt sich mit der Analyse des Beispiels durch David Beach (siehe Harmonic Theories of Kirnberger [wie Anm. 27], S. 112). 46 Kirnberger, Kunst des reinen Satzes (wie Anm. 2), 2. Teil, 1. Abteilung, S. 149: »Wenn der erste Ein- schnitt mit dem Niederschlag anfängt, so können doch die folgenden im Aufschlag anfangen: fängt aber das Stück im Aufschlag an; so müssen ordentlicher Weise auch die folgenden im Aufschlag an- fangen«. 47 Ebd., S. 22–29. 171 zu den Worten der Melodie« fügt,48 finden sich mitunter auch Lösungen, die der syn- taktischen Gliederung des Textes bzw. dem Wortsinn zuwiderlaufen. Die Abbildun- gen 7 und 8 zeigen die Choralmelodie zusammen mit einer kleinen Auswahl von Kirnbergers Harmonisierungsvorschlägen. Abbildung 7: Kirnbergers erste Harmonisierung des Chorals »Ach Gott und Herr«. Die erste Harmonisierung bleibt noch auf eine schlichte Dreiklangsharmonik be- schränkt. Alle drei Zeilenenden erfahren eine relativ starke und dabei untereinander wenig abgestufte Gewichtung durch Ganzschlüsse, mit dem Resultat – wie Kirnberger eingesteht – eines problematischen Halts auf dem Wort ›schwer‹.49 Der zweite Vor- schlag schafft dagegen nicht nur eine größere und reizvollere »Mannigfaltigkeit von Accorden«,50 sondern stimmt darüber hinaus auch Text und harmonische Satzzeichen in überzeugenderer Weise aufeinander ab. Am Ende von erster und zweiter Zeile wird auf allzu starke Ruhepunkte verzichtet. Mehr sogar noch wird durch zweimaligen Trugschluss in besonderer Weise die Erwartung einer Fortsetzung geschürt, bis schließlich, übereinstimmend mit dem Schluss des sprachlichen Gedankens, die dritte Zeile mit einem relativ gewichtigen Ganzschluss beendet wird. An der vierten Harmo- nisierung erscheint besonders ein Halt auf einem dissonanten Quintsextakkord (siehe das Ende der ersten Zeile) erwähnenswert. Kirnberger demonstriert, wie entgegen der melodischen Zäsur ein ›Einschnitt‹ »gänzlich vernichtet« und die Fortsetzung »noch nothwendiger gemacht« werden kann.51 Die ausdrucksvolle zweitaktige Um- spielung der Dominante am Ende der fünften Harmonisierung zeigt dagegen eine wei- tere Möglichkeit, einer Kadenz für den Periodenschluss größeres Gewicht zu verleihen. Im Hinblick auf den Text erachtet Kirnberger diese Lösung als besonders geglückt, da so der Zusammenhang der Worte ›begangne Sünden‹ harmonisch sinn- fällig wird.52 48 Ebd., S. 21. 49 Ebd., S. 30. 50 Ebd. 51 Ebd. 52 Ebd. 172 Abbildung 8: Alternative Harmonisierungen. Modulation Wer ein längeres Tonstück verfertigen wollte, das sich aus mehreren Perioden zusam- mensetzt, hätte als wichtige kompositorische Maßgabe auch für »Mannigfaltigkeit der Töne« zu sorgen.53 Die Tonarten aber, »durch welche die Harmonie [im Stück] geführt wird«, müssen »zusammengehängt oder verbunden werden«.54 Ausgehend von dem Gedanken, dass alle Formglieder eines Tonstücks nur im Rahmen einer schlüssigen harmonischen Gesamtdisposition zusammengeschlossen werden können, entwickelt Kirnberger eine nach Verwandtschaftsgrad und Qualität des harmonischen Über- gangs differenzierte Modulationslehre.55 Den Begriff ›Modulation‹ versteht Kirnber- ger dabei in zweifacher Bedeutung, zum einen als die Art, eine gewählte Tonart in Melodie und Harmonie zu entfalten, zum anderen als »die Kunst[,] den Gesang und die Harmonie aus dem Hauptton durch andre Tonarten vermittelst schiklicher Aus- weichungen durchzuführen«.56 Der Begriff ›Ausweichung‹ zielt dabei für Kirnberger auf den technischen Aspekt der Gestaltung des Übergangs von einer Tonart in eine andere ab. Grundsätzlich fordert Kirnberger, ein Tonstück so zu entwerfen, dass die Ausgangs- tonart »nie völlig ausgelöscht werde«. »Wo dieses versäumt wird, da ist es schweer die Einheit der Harmonie zu erhalten«.57 Dass zu Beginn des Stücks der Hauptton etabliert und schließlich am Ende auch wieder bekräftigt werden muss, gehört für Kirnberger zu den selbstverständlichen kompositorischen Voraussetzungen. ›Aus- weichungen‹ in andere Tonarten bleiben aus Gründen der harmonischen Einheit folg- lich vor allem den Binnenteilen vorbehalten. Typisch für das 18. Jahrhundert, gründet Kirnbergers Modulationslehre auf der prag- matischen Vorstellung, dass eine Tonart primär aus der Wahl eines bestimmten Klangmaterials hervorgeht. Ganz in diesem Sinne wird konstatiert, dass eine Tonart 53 Kirnberger, Kunst des reinen Satzes (wie Anm. 1), 1. Teil, S. 103. 54 Ebd., S. 109. 55 Stephan Zirwes hat sie jüngst eingehend erörtert und kontextualisiert – siehe Von Ton zu Ton. Die Ausweichung in den musiktheoretischen Schriften des 18. Jahrhunderts (= Schweizer Beiträge zur Mu- sikforschung 26), Kassel 2018, insbesondere S. 183–193. 56 Kirnberger, Art. »Modulation«, in: Sulzer, Allgemeine Theorie (wie Anm. 2), 2. Teil, S. 773–775, hier: S. 773. 57 Kirnberger, Kunst des reinen Satzes (wie Anm. 1), 1. Teil, S. 107. 173 so lange herrsche, als »man in dem Gesang und in der Harmonie keine andre Töne hören läßt, als die, welche in der diatonischen Tonleiter desselben Tones enthalten sind«.58 Um die harmonische Einheit in der Mannigfaltigkeit nicht zu gefährden, be- darf es für ein gekonntes Modulieren gewisser Rücksichtnahmen: Je entfernter eine Tonart zur Haupttonart steht, umso kürzer nur darf sie im Tonstück ausgebreitet werden.59 Zu den nächstverwandten Tonarten in Dur bzw. Moll zählt Kirnberger all jene, die auf den fünf übrigen Dur- bzw. Molldreiklängen des jeweiligen diatonischen Stufensystems gründen. Abbildung 9 zeigt beispielhaft für C-Dur und a- Moll ihre nächstverwandten Tonarten und gibt anhand der rhythmischen Werte und ihrer Verhältnisse zueinander eine ungefähre Orientierung für die Zeitdauern, die den Tonarten eingeräumt werden können.60 Der Verwandtschaftsgrad bestimmt sich da- bei nicht nur quantitativ durch Überschneidung bzw. Differenz in den Tonskalen. Dass etwa d-Moll von allen genannten Tonarten am entferntesten zu C-Dur stehen soll, hat für Kirnberger vor allem mit der Funktion der Töne zu tun, durch welche sich beide Tonarten unterscheiden: Um d-Moll aufzubauen, wären die Töne b und cis notwendig, durch die aber ausgerechnet Leit- und Grundton von C-Dur (die Töne h und c) »aus- gelöscht« werden.61 Abbildung 9: Nächstverwandte Tonarten in Dur und Moll. Weiterführende Ausweichungen können erst dann vollzogen werden, nachdem un- mittelbar oder näher verwandte Töne angesteuert wurden. Ein typischer Weg könnte sich etwa so gestalten, dass zunächst in einen unmittelbar verwandten Ton, »am na- türlichsten in seine Ober-Dominante«, ausgewichen, als Nächstes die Tonart der Ober- oder Untermediante und in weiterer Folge »andre dem Haupt[t]on verwandte Töne« anvisiert werden, bis zuletzt erst eine entlegenere Tonart aufgesucht, und schließlich in die Haupttonart über deren Dominante rückgeleitet wird.62 Neu etablierte Tonarten können ihrerseits als Referenzpunkt für weitergehende Aus- weichungen in ihr verwandte Töne dienen. In kürzeren Tonstücken sind allerdings kompliziertere harmonische Wege kaum realisierbar. Tiefer verschachtelte Auswei- chungen setzen für Kirnberger notwendig eine Expansion der Form voraus: 58 Ebd., S. 103. 59 Ebd., S. 108f. An späterer Stelle resümiert Kirnberger: »Nach den Regeln der Modulation muß ein Abschnitt um so viel kürzer seyn, je entfernter sein Ton von dem Hauptton ist« (Kirnberger, Kunst des reinen Satzes [wie Anm. 2], 2. Teil, 1. Abteilung, S. 141). 60 Kirnberger, Kunst des reinen Satzes (wie Anm. 1), 1. Teil, S. 109. 61 Kirnberger, Art. »Ausweichung«, in: Sulzer, Allgemeine Theorie (wie Anm. 2), 1. Teil, S. 117–120, hier: S. 119. 62 Kirnberger, Kunst des reinen Satzes (wie Anm. 1), 1. Teil, S. 119. 174 Nur in ganz langen Stücken geht es an, daß man sich in entferntern Tonarten so fest- setze, daß man sie gleichsam in die Stelle der Haupttonart treten läßt: in kurzen Stü- cken aber soll eigentlich keine Nebentonart so behandelt werden, als wenn sie eine Haupttonart wäre, aus der man wieder frey ausweicht.63 Sofern es der gewünschte Ausdruck nicht anders erfordert, sollen Ausweichungen all- mählich vollzogen werden. Zu diesem Zweck empfiehlt Kirnberger eine bestimmte Art der harmonischen Verkettung von Perioden: »Dieses wird am besten bewerkstel- liget, wenn jede Periode ihren Schluß in dem Tone der folgenden Periode macht. Denn auf diese Art hängen alsdenn die Perioden genau zusammen.«64 ›Einheit‹ im ›Ausdruck‹ Wie David Beach zutreffend pointierte, sind Kirnbergers Überlegungen zur musikali- schen Form primär angesiedelt »at the level of phrase structure«, entwickeln dagegen noch nicht im Sinne einer Formenlehre ein Verständnis von »larger formal designs«.65 Dieser Unterschied wird offensichtlich, wenn Kirnberger beispielsweise bemerkt, dass in Konzertsätzen oder Arien ein mehrfaches Schließen in der Haupttonart den Satz schlussendlich in eine Folge »für sich bestehende[r] Stücke« teilt.66 Das Satz- ganze begreift Kirnberger als Parataxe in gleichem Rang stehender (Haupt-)Teile und noch nicht als eine ›organisch‹, d. h. aus wechselseitig aufeinander bezogenen und hierarchisch gestuften Teilen gefügte Gesamtform. In der Frage, wie größere und mit- unter auch selbstständige Teile zusammengeschlossen werden können, bleibt Kirn- berger weiterhin der barocken Affektenlehre und Gefühlsästhetik des 18. Jahrhunderts mit ihrer Forderung nach ›Einheit‹ im ›Ausdruck‹ oder ›Affekt‹ ver- pflichtet. Wenn, so Kirnbergers Argumentation, die Musik doch »eigentlich die Spra- che der Empfindung« sei, die »Empfindung an sich selbst etwas einfaches ist, das sich durch wenig Aeusserungen an den Tag leget«, die Musik jedoch ihre Zuhörerschaft nicht nur einen Moment, sondern »eine Zeitlang in demselben Gemüthszustande« un- terhalten will, so gelte es »eine Art des Gesanges« (oder synonym: ein Tonstück) zu »erfinden, in welchem ein und eben dieselbe Empfindung, mit gehöriger Abwechs- lung und in verschiedenen Modificationen, so ofte konnte wiederholt werden, bis sie den gehörigen Eindruk gemacht haben würde«.67 Zur Lösung dieser Aufgabe kämen »alle üblichen Tonstücke […] darin überein, daß in einem Haupttheile nur eine kurze, dem Ausdruk der Empfindung angemessene Periode, als der Hauptsatz zum Grund gelegt wird; daß dieser Hauptsatz durch kleinere Zwischengedanken[,] die sich zu ihm schiken, unterstützt, oder auch unterbrochen wird; daß der Hauptsatz mit diesen 63 Ebd., S. 108f. 64 Ebd., S. 109. 65 Beach, Harmonic Theories of Kirnberger (wie Anm. 27), S. 99, Fußnote 1. 66 Kirnberger, Kunst des reinen Satzes (wie Anm. 2), 2. Teil, 1. Abteilung, S. 139. 67 Kirnberger, Art. »Hauptsatz«, in: Sulzer, Allgemeine Theorie (wie Anm. 2), 1. Teil, S. 522–523, hier: S. 522. 175 Zwischengedanken in verschiedenen Harmonien und Tonarten, und auch mit kleinen melodischen Verändrungen, die dem Hauptausdruk angemessen sind, so ofte wieder- holt wird, bis das Gemüth des Zuhörers hinlänglich von der Empfindung eingenom- men ist, und dieselbe gleichsam von allen Seiten her empfunden hat.«68 Gleich zu Beginn des Tonstücks, in der ersten Periode, »muß der ganze Geist dessel- ben enthalten seyn, und alle folgenden [Perioden] müßen einige Aehnlichkeit mit die- sem ersten haben, damit durchaus die Einheit der Empfindung beybehalten werde«.69 Der ›Hauptsatz‹ macht folglich »das Wesentlichste der ganzen Sach aus«.70 Regeln oder Maßgaben seine Gestaltung betreffend kann Kirnberger allerdings kaum nen- nen, da seine Erfindung schlussendlich »das Werk des Genies« sei71 und damit ein Feld tangiert, das außerhalb des Lehrbaren einer Formtheorie liegt. 68 Ebd. 69 Kirnberger, Kunst des reinen Satzes (wie Anm. 2), 2. Teil, 1. Abteilung, S. 152. 70 Kirnberger, Art. »Hauptsatz« (wie Anm. 67), S. 522. 71 Ebd. 176 Quellen Johann Philipp Kirnberger (1774), Die Kunst des reinen Satzes in der Musik, 1. Teil, (Berlin 1771) Berlin und Königsberg. Johann Philipp Kirnberger (1776), Die Kunst des reinen Satzes in der Musik, 2. Teil, 1. Abteilung, Berlin und Königsberg. Johann Philipp Kirnberger (1773), Die wahren Grundsätze zum Gebrauch der Harmo- nie, Berlin und Königsberg. Johann Georg Sulzer (1771/1774), Allgemeine Theorie der schönen Künste, zwei Teile, Leipzig. Forschungsliteratur Putnam Aldrich (1970), »›Rhythmic Harmony‹ as Taught by Johann Philipp Kirn- berger«, in: Studies in Eighteenth-Century Music. A Tribute to Karl Geiringer on His Sev- entieth Birthday, hg. von H. C. Robbins Landon in Zusammenarbeit mit Roger E. Chapman, London. David Beach (1974), The Harmonic Theories of Johann Philipp Kirnberger; Their Ori- gins and Influences, Dissertation Yale University. Markus Waldura (2002), Von Rameau und Riepel zu Koch. Zum Zusammenhang zwi- schen theoretischem Ansatz, Kadenzlehre und Periodenbegriff in der Musiktheorie des 18. Jahrhunderts (= Musikwissenschaftliche Publikationen 21, hg. von Herbert Schnei- der), Hildesheim. Markus Waldura (2007), »Musical Rhetoric and the Modern Concept of Musical Pe- riod – A New Perspective on 18th Century German Theories of Musical Periodicity. Part two: The Theories of Kirnberger and Koch«, in: Theoria. Historical Aspects of Mu- sic Theory 14. Oliver Wiener (2017), Art. »Johann Philipp Kirnberger. Die Kunst des reinen Satzes in der Musik«, in: Lexikon Schriften über Musik, Bd. 1, hg. von Ullrich Scheideler und Felix Wörner, Kassel. Stephan Zirwes (2018), Von Ton zu Ton. Die Ausweichung in den musiktheoretischen Schriften des 18. Jahrhunderts (= Schweizer Beiträge zur Musikforschung 26), Kassel. 177